Tag 6 / 11
Ich würde gerne wissen, was ich heute in einer Woche an dieser Stelle
schreibe.
Wie die Welt hinter der Hürde aussieht. Ob ich es geschafft habe. Ob
ich der Vision einer Zukunft, die bunter werden soll, einen riesigen Schritt
entgegen gesprungen bin. Den größten Sprung, den es jetzt noch zu tun gibt.
Ob es sich gelohnt hat. Das unermüdliche Arbeiten, das anfing, seitdem
ich den Ort verlassen habe. Um jeden Tag trotz aller Verzweiflung die Chancen
zu erhöhen, dass es klappt.
Immer mal wieder lese ich die alten Blogeinträge. Zur Eigenmotivation. Und wenn ich die Einträge mit ein paar Monaten Abstand
betrachte, dann kann ich vielleicht hin und wieder nachvollziehen, was die
Menschen gelegentlich an meinen Texten finden. Da steckt so viel Farbe in den
Worten. Und in diesen Einträgen.
Heute habe ich den ersten Eintrag von der Intensivstation gelesen. Wie
überrascht ich war, dass die alle so geduldig waren und mir so viel beibringen
wollten. Und dass ich da auch das erste Mal ohne Angst auf einer
Intensivstation stand, weil ich wusste, dass immer jemand eingreifen kann, wenn
ich es nicht schaffe und da auch keiner genervt die Augen verdreht – ich muss
es ja schließlich noch lernen. Und wenn man nicht mit Studenten überlaufen ist,
geben Einige scheinbar ganz gern ihr Wissen weiter.
Erinnerungen und Erfahrungen, die tragen. Selbst hier. Wo ich von
diesem Ort, der mir all das ermöglicht hat, soweit entfernt sitze. Und trotzdem
täglich mehr dort, als hier bin. Gedanklich.
***
Heute ist der letzte „Nur – Neuro – Tag“. Ich bin immer noch nicht
durch mit allen Lernzetteln, die ich über die Zeit geschrieben habe und werde
mir jeden Abend noch etwa zwei Stunden dafür einräumen.
Zum… - keine Ahnung… - 20. Mal Parkinson dieses Jahr. Okay, das dürfte
dezent übertrieben sein – aber ich habe es schon so oft gelesen, dass es mir zu
den Ohren wieder hinaus kommt. Aber was ist, wenn man dann in der Prüfung doch
vor lauter Aufregung vergessen hat, dass die direkte Verschaltung der
Basalganglienschleife nicht über den Globus pallidus externus, sondern über den
Globus pallidus internus läuft, was eigentlich echt unlogisch ist? Denn den
Globus pallidus externus gibt es auch – aber im indirekten Weg…
Heute kam dann auch endlich mal der Brief per Einschreiben. „Da haben
Sie wohl lange drauf gewartet…“, merkte der Briefträger an, als ich zur Tür
gehüpft kam. „Ja, sehr lange“, habe ich entgegnet. Was heute übrigens meine
einzigen gesprochenen Worte waren.
Das hätte bedeutet, dass ich heute eigentlich endlich mal hätte
einkaufen gehen sollen. Habe ich das gemacht…? Nein. Aber morgen muss ich jetzt
echt. Alle Reserven sind auf den letzten Krümel verbraucht.
Blöderweise stapelt es sich langsam. Ich müsste auch dringend die
Wäsche machen – das muss ich vor dem Examen auch noch definitiv tun. Und jemand
müsste die Wohnung putzen – auch dringend. Vermutlich würde ich mir die Zeit
sogar nehmen, wenn ich alleine wäre. Lieber ein Mal ein bisschen Aufwand, als
sich jedes Mal ekeln, wenn man einen Fuß vor die Tür setzt. Aber dann trampelt
die Mitbewohnerin sowieso ein paar Stunden später wieder mit ihren Dreckschuhen
durch den Flur und dann kann man es von vorne machen – oder es halt einfach
ganz sein lassen.
Und sonst… - mein Vater hat heute schon wieder nach dem Termin
gefragt. Die scharren alle mit den Hufen. Bis der Brief da ist, muss ich auch
nichts sagen, war immer meine Argumentation. Jetzt ist er nun mal da. Ich habe
vernommen, dass die Idee hier so „undercovermäßig“ unterwegs zu sein, nicht so
gut ist. Irgendwann wird das auffliegen, dass ich das Examen schon habe – oder
im Zweifel durchgefallen bin. Und was will ich in ein paar Jahren mal über das
Examen erzählen – das wird ja eine lebenslang aufrecht zu erhaltende Lüge.
Okay, sehe ich ein – aber was mache ich jetzt? Ich habe absolut keinen
Plan…
Die Kopfschmerzen und Müdigkeit werden auch so überhaupt nicht besser
– eher immer schlimmer. Ich war selbst vor dem schriftlichen Examen nicht so
überlernt, obwohl ich diesen Tagesrhythmus da ein wenig länger durchgezogen
habe. Wie ich den ersten Prüfungstag von 9 – 18 Uhr überleben soll – rein
körperlich – weiß ich noch nicht. Aber vermutlich werden die letzten Adrenalin
– Reserven ihr Übriges tun.
Und nächsten Freitag – erster Tag nach dem Examen - muss ich schon um
9 Uhr beim Einwohnermeldeamt sein – mit kopierten Personalausweis, was ich am
Donnerstag nach der Prüfung nicht vergessen darf, in der Bibliothek zu
erledigen. Das war aber Absicht. Damit ich aufstehen muss. In mich hinein
fühlen kann. Ein paar Stunden eruieren kann, was ich der Therapeutin erzählen
kann. Ob ich das über das Wochenende hinbekomme. Denn mein Hirn ist ja immer
schon drei Schritte voraus. Also langsam schon nach der Prüfung. Und ich
glaube, da wird eine Menge hoch kommen. Sieben Jahre, in denen man nur
funktioniert hat – ich merke schon jetzt, wie sich da unendlich viele Fragen
stellen. Und auch, wenn ich das alles erstaunlich souverän gemeistert habe –
das heißt leider nicht, dass die Erfahrungen nicht trotzdem ihre Sprünge in
diesem Herz aus Glas hinterlassen haben.
Und dann am Samstag nach dem Examen also zur Mutter.
Und so ganz eigentlich… - hätte ich einfach nur gern meine Ruhe danach.
Keine Termine, keine Pflichten, keine Präsenz irgendwo. Nicht mehr müssen. Nur
noch dürfen. Und eigentlich sollte man auch meinen, dass ich mir das verdient
habe. Ein paar Tage.
Mondkind
Kommentare
Kommentar veröffentlichen