Der Chef und die Klinik
Unsre Geschichte ist erzählt
Unsre Themen sind verbraucht
Es gibt nichts, was mich noch quält
Es gibt nichts, was mich noch hält
Alle Wege zu verbaut
Unsre Geschichte ist erzählt
Und das Ende steht jetzt fest
Haben uns viel zu lang verstellt
Und am Ende festgestellt, dass sich's doch nicht ändern lässt
Unsre Themen sind verbraucht
Es gibt nichts, was mich noch quält
Es gibt nichts, was mich noch hält
Alle Wege zu verbaut
Unsre Geschichte ist erzählt
Und das Ende steht jetzt fest
Haben uns viel zu lang verstellt
Und am Ende festgestellt, dass sich's doch nicht ändern lässt
(Revolverheld - Unsere Geschichte ist erzählt)
Viel passiert ist gestern nicht mehr. Nachdem ich zuletzt so auf die
Fernbusse geschimpft hatte, muss ich sagen, dass es gestern ganz angenehm war. Wir
hatten zwei nette Busfahrer, die Straßen waren weitestgehend leer – ich kam
sogar so pünktlich mit dem Bus am Bahnhof an, dass ich einen Zug eher als
geplant erwischt habe. Da konnte ich zu Hause noch die Wäsche machen.
Gestern Abend habe ich mich dann zum ersten Mal wirklich mit der
Möglichkeit über Weihnachten in die Klinik zu gehen, auseinander gesetzt.
Grundsätzlich wären ein paar Tage Auszeit und Reflektion auch das, was ich gern
machen würde, wenn ich die Schuldgefühle und die Angst um den Job außen vor
lasse – aber man muss das Problem auf der Arbeit so „erwachsen“ wie möglich
lösen. Und das macht man sicher nicht, indem man einfach von der Bildfläche
verschwindet, der Chef die Krankmeldung aus der Psychiatrie erhält und dann
glaubt sich kurz vor Weihnachten überlegen zu müssen, wie er die Station
wochenlang ohne Mondkind am Leben erhält. Nicht, dass ich mich für
grundsätzlich unverzichtbar halte, aber bei ohnehin dünner Besetzung, fällt
eine Person mehr oder weniger eben ins Gewicht.
Also war die Idee: Mit dem Chef reden. Und mit offenen Karten spielen.
Für die aktuell angeschlagene psychische Situation kann man super die Feiertage
vorschieben – und das ist ja nicht mal gelogen; denn die lassen die ohnehin
angeschlagene Psyche nun mal dekompensieren. Der hohe Krankenstand war bei uns
in den letzten Wochen immer wieder Thema und auch, dass vermutlich nicht Jeder
krank ist. Der Chef meinte sogar, er hat mit Sicherheit Verständnis für gewisse
Situationen, wenn wir mit ihm ehrlich sprechen und er die Chance hat, sich
darauf einzustellen.
Dann könnte ich dem Chef auch gleich sagen, dass es definitiv nicht
darum geht, mir die Weihnachtsferien zu verlängern und ich auch an das Team
gedacht habe, daher die Ausfallzeiten so kurz wie möglich halten möchte und
definitiv allerspätestens ab der zweiten Januarwoche wieder da bin.
Und heute… - heute ging es dann an die Umsetzung. Zuerst mal musste
ich mich ja heute Morgen bei der Therapeutin melden. Ich habe ihr schriftlich
von dem Plan erzählt – nur um nochmal sicher zu gehen, dass das keine sinnlose
Schnapsidee ist. Mit Chefs muss man ja vorsichtig sein. Sie fand die Idee gut –
so wie alle anderen, denen ich davon erzählt habe, auch.
Danach habe ich in der Klinik angerufen, dass ich das nicht vergessen
habe, aber noch dran bin mich zu kümmern, weil ich erst mit dem Chef reden muss
– mich aber melde, sobald ich etwas weiß.
Im Anschluss habe ich dem Chef eine Mail geschrieben, dass ich
dringend etwas besprechen muss und mit der Frage, ob wir das heute noch
schaffen. Auf den „Senden“ – Knopf zu drücken hat übrigens eine Stunde gedauert
und danach habe ich erstmal nur noch geweint und konnte mich lange nicht
beruhigen – das passiert zwar selten, aber der „ich verlasse das Haus, also ist
Maskenmondkind am Start“ Modus, funktioniert scheinbar immer noch. Zwar kann er
echt nett sein, aber der Schuss kann auch in den Ofen gehen.
Gegen Mittag schleiche ich dann eher den Berg hoch. Die anderen sind
noch auf Visite und ich arbeite erstmal mein übervolles Fach ab. Briefe müssen
korrigiert werden; Qualitätssicherungs – Bögen ausgefüllt werden und der ein
oder andere Anruf wird fällig.
Alltag. Wenn ich nur nicht so gerädert wäre. Die Kollegen fragen, wie
es war in der Studienstadt war und ich erkläre, dass ich viele Freunde
getroffen habe und mich gefreut habe, die Stadt wieder zu sehen. Das Chaos
lasse ich raus. Und ich höre, dass ich vermisst worden bin. Ich lege den Kopf
schief. „Mondkind, wir hatten hier letzte Woche echt eine schlechte
Chefarztvisite. Du bist das Maskottchen der Station – sobald Du nicht da bist,
läuft hier nichts mehr…“ Sehr liebes Kommentar, auch wenn ich nicht weiß, wie
ernst es gemeint war.
Und man ist sensibel. Besonders ein Kollege. „Mondkind, Du bist
häufiger mal ein bisschen in Dich gekehrt, aber es ist irgendetwas passiert.
Heute geht es Dir besonders schlecht…“ Ich merke, wie mir schon fast wieder die
Tränen in die Augen steigen. Aber ich sage nichts. Ist alles okay.
Am Nachmittag kommt der Chef und sammelt mich ein. Ich leite kurz ein,
dass mir der Job aktuell sehr wichtig ist und ich lange dafür gekämpft habe,
dass ich heute dort bin, wo ich jetzt stehe und deshalb das Folgende erstmal
mit dem Chef besprechen wollte – auch, um Gerüchten von vorn herein
vorzubeugen. Und dann erkläre ich die aktuell sehr schwierige Situation und
dass und ich jetzt dringend Hilfe und Ruhe brauche, um gut durch die Feiertage
zu kommen.
Er reagiert sogar verständnisvoll. Erklärt mir, dass er zumindest
Teile des Problems in gewisser Hinsicht kennt – er habe Weihnachten auch einige
Jahre alleine verbracht, weil seine Familie noch nicht in Deutschland gewesen
sei. Allerdings sei die Lösung der Sache Beschäftigung und nicht die
Psychiatrie. Die wolle er jetzt erstmal außen vor lassen. Immerhin trage ich ja
einen weißen Kittel und bin jetzt Ärztin – das könne man doch für sinnvolle Tätigkeiten
nutzen; da müsse man ja nicht auf Patientenseite gehen. In gewisser Hinsicht
stimme ich ihm zu, andererseits stresst mich der Job ja auch zu Tode, was ich
jetzt allerdings nicht unbedingt unterstrichen habe. Ich werde ja nie
verstehen, warum in den Köpfen so vieler Leute arbeiten zu gehen, eine Lösung
für Depressionen ist.
Sein Lösungsansatz sei jedenfalls eine win – win – Situation für beide
Seiten. So ein zusätzlicher Dienst auf der Station zu Weihnachten könne ja
nicht schaden und außerdem könne man dann ja ein von ihm sowieso schon lange
favorisiertes, aber derzeit personell nicht umsetzbares, Modell zumindest mal
über die Feiertage erproben. Und ich muss auch fit für die Dienste werden – das
sei es doch nicht schlecht, das mit einem erfahrenen Assistenzarzt zu tun. Also
schiebt die Mondkind jetzt Dienst vom 24.12 – 26.12. Ich glaube wirklich, dass er davon überzeugt ist, mir damit zu helfen. Und irgendwie bin ich ja schon froh, dass er zumindest Verständnis hatte. Das Team sei ja auch ein bisschen etwas wie eine Familie und das könne auch sehr schön sein. Ich glaube seine Meinung von der Psychiatrie ist eher nicht so hoch. Er betont jedenfalls, dass er mich sehr schätzt und auch eigentlich weiter an der Klinik haben möchte.
Ehrlich gesagt war das dennoch nicht der Sinn des Gesprächs. Mein Ziel war es
einfach, den Aufenthalt beruhigter angehen zu können, wenn für beide Seiten die
Dimension der Sache klar ist und nicht die alles überspannende Angst während
der Tage ist, dass ich den Job verliere. Dass ich dann da vielleicht wirklich
etwas für mich raus holen kann und mich auch mit dieser Vater – Tochter –
Problematik auseinander setzen kann, weil das jetzt nicht mehr nur – wie im
Sommer noch – graue Theorie ist, sondern mich täglich beschäftigt.
„Mondkind, die werden Dir nie wieder so schnell ein Bett frei machen“,
erklärt eine Freundin, die ich nach dem Gespräch kurz informiere. Ich fürchte
es auch. Aber was soll ich machen? Wenn der Chef – auch wenn er kein Verbot
ausspricht, was er ja auch nicht machen kann – indirekt „nein“ sagt, dann ist
das so. Dazu haben wir dieses Gespräch ja geführt – wenn ich jetzt doch etwas
anderes mache als besprochen, kann es wirklich Konsequenzen geben.
Den Spätdienst überlebe ich halb im Schlaf. Ich bin so müde von der
ganzen Aktion, dass ich einfach hoffe, dass man mich in Ruhe lässt. Es ist auch
ein ruhiger Spätdienst. Einem Patienten geht es schlecht, bei dem schaue ich
immer wieder vorbei. Zwei muss ich noch aufnehmen, ein paar Nadeln muss ich
noch legen, meine abendlichen Scores machen. Und zwischendurch finde ich sogar
noch Zeit, um auf der Station der Psychiatrie anzurufen. Ich habe ja ohnehin
zugesagt mich nochmal zu melden wegen des Klinikplatzes. Und dann habe ich eine
ganz liebe Pflegerin in der Leitung. In der Klinik selbst hatte ich gar nicht
so viel mit ihr zu tun, aber wir hatten schon mal ein recht langes Telefonat.
Heute haben wir nicht so viel Zeit, aber ein bisschen baut sie mich doch auf.
Die Strategie jetzt drei Tage hintereinander Dienst zu machen, findet sie jetzt
auch nicht ganz gelungen. Die Angst, dass man jetzt kein Bett mehr für mich
frei schaufeln wird, wenn es sein muss, kann sie mir nehmen. Wenn ich einen
triftigen Grund habe, warum es jetzt nicht geht, sei es in Ordnung und wenn ich
dann nach der Probezeit, oder wann auch immer, etwas weniger Rücksicht auf den
Job nehmen muss, darf ich gern nochmal kommen. (Ob die Therapeutin das
allerdings nochmal macht ist die Frage und ich glaube, ich sollte sie mal bis
Anfang nächsten Jahres in Ruhe lassen. Schließlich bin ich jetzt selbst Schuld
an der Situation). Und als könne die Pflegerin Gedanken lesen, versichert sie
mir auch, dass ich dadurch jetzt kein schlechtes Bild hinterlassen habe auf der
Station. Sie ist auch eine der Wenigen,
die die Lösung nicht darin sieht, dem Ort in der Ferne den Rücken zuzukehren.
„Frau Mondkind, nicht die äußeren Umstände sind das Problem – die können Sie
prima ändern; das haben wir gesehen. Ihre Kritiker und Forderer sind das
Problem, weil die Sie so einengen, dass sie gar kein Leben mehr haben.“ Sie
schärft mir nochmal ein, dass ich über die Feiertage Verbindlichkeiten schaffen
soll. „Wenn ich das richtig verstanden habe, geht es ja darum, dass Sie das
neue Jahr überhaupt erleben…“, sagt sie. Wow… - dass das so explizit gesagt
worden war, wusste ich gar nicht.
Mit den Diensten wird es wohl gehen. Da habe ich ja meine
Verbindlichkeit. Aber das löst das Problem nicht. Spätestens die nächste Lücke,
in Form von freien Tagen, löst die nächste Krise aus.
Und gleichzeitig weiß ich, dass ich zwischendurch nicht mehr einfach
so in die Klinik kann, ohne eine Menge zu riskieren…
Mondkind
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