Von Krisen und Dankbarkeit

Freitag. 
Das war wohl mit einer der unterirdischsten Nikolaustage, die ich je erlebt habe. 

Die große Frühbesprechung, die wir freitags immer mit allen Neurologen auf dem Campus haben, dauert heute über zwei Stunden. In dem Zug werden sämtliche schwierige Fälle der Stroke Unit auseinander genommen, die – wie könnte es auch anders sein – alle bei mir liegen.
Da wäre der Patient, der mit einer bekannten Epilepsie zu uns kam. 10 Jahre lang hat alles bestens funktioniert mit den Antiepileptika, aber nach einigen auslösenden Faktoren, die die Medikamentenspiegel durcheinander geschmissen haben dürften, hört der Patient – ohne, dass wir sonst irgendwelche Veränderungen gefunden hätten, die das Geschehen erklären und trotz fünf – facher antiepileptischer Therapie, nicht auf zu krampfen. Neben anderen diagnostischen Maßnahmen, haben wir schon unzählige EEGs geschrieben und ich hatte schon vermutet, dass die epilepsietypischen Potentiale ein Blinder mit dem Krückstock sehen wird, aber… - nichts. Jetzt wollen wir es mal mit einem Video – EEG versuchen. Ich bin gespannt, was Stand der Dinge ist, wenn ich wieder komme.
Dann wäre da noch der Patient, den ich mit Rückenschmerzen und erhöhten Entzündungswerten in die Innere verschifft habe (siehe vorletzter Blogpost), nachdem wir mit einem MRT in Narkose und einer Nervenwasseruntersuchung eine neurologische Ursache ausgeschlossen haben und – so nett wie wir waren – sogar noch ein Herzultraschall über die Speiseröhre gemacht haben, um eine Entzündung am Herzen auszuschließen. Die Internisten haben jetzt mal noch ein CT von der Lunge gefahren und dann ist den Radiologen eingefallen, die neuen Befunde doch nochmal mit dem MRT zu vergleichen und dann… - hatte der Patient doch eine Spondylodiszitis; oder zumindest konnten sie es nicht mehr ausschließen. Die Internisten waren natürlich nicht erbaut, haben den Patienten gleich mal in eine andere Klinik verlegt, der Chef hat getobt… - naja, nicht schön. Und ich… - ich werde so schnell vermutlich niemanden mehr an die Internisten los bekommen.
Und dann bin ich ja in den letzten Tagen auch noch unter die Urologen gegangen. Nachdem ich dann beschlossen hatte, einem deliranten Patienten mit steigenden Kreatinin – Werten einen Katheter zu legen, ergab sich eine Restharnmenge von fast zwei Litern. Problem gelöst – der akute Harnverhalt hat die laborchemische Infektkonstellation, die steigenden Nierenwerte und das Delir ausgelöst. Ich wollte den Patienten danach noch weiter an die Urologen geben, aber die meinten, dass sie einen über 90 – jährigen Patienten nicht mehr operieren würden und ihn – wenn es ihm nach wenigen Tagen Beobachtung wieder besser geht – ebenfalls mit einem Katheter versorgt entlassen würden und an einen ambulanten Urologen, sowie einen Pflegedienst anbinden würden. Das könne ich ja jetzt auch machen. „Ich verstehe schon Ihr Problem – jetzt haben Sie einen urologischen Patienten auf Ihrer Stroke Unit und bekommen ein Problem mit dem DRG – System. Aber mal ehrlich – die Blase ist doch auch immer ein bisschen Neurologie – können Sie da nicht ein bisschen „neurogene Blasenentleerungsstörung“ draus machen…?“, fragt der urologische Kollege mich am Telefon. Ich fürchte nicht, Herr Kollege. Das Problem ist mechanisch – da beißt die Maus kein Faden ab. Aber manchmal ist es schon traurig mit unserem Gesundheitssystem…

Als wir gerade mal aus der Frühbesprechung kommen, hätten wir eigentlich schon längst auf Visite sein sollen. Aber bisher habe ich nicht mal alle Patienten gesehen. Der komplette Tag verschiebt sich, der Oberarzt ist super genervt, weil wir eigentlich am Morgen die halbe Station hätten entlassen müssen. Er schreit ja nie, aber so ist er ehrlich gesagt trotzdem schwer zu ertragen. „Mondkind, was ist heute mit ihm los?“, fragt mich der Kollege, der heute etwas später kommt. „So habe ich ihn ja noch nie erlebt…“ Ich auch nicht. Aber er ist so im Stress, dass er sich bis zum Mittag nicht mal umgezogen hat. Leider muss ich ihn wegen meiner Patienten ständig anrufen und schiebe jedes Mal ein kurzes Wort der Entschuldigung vorweg.

Es ist abends um 21 Uhr, als ich dem Oberarzt endlich ein Übergäbchen schreibe, den PC herunter fahre, mein Neuron auf meine Tastatur lege und hinter mir das Licht im Arztzimmer lösche.
Jetzt habe ich erstmal eine Woche Urlaub.
Und während unser Chef uns immer erzählt, dass wir die besten Arbeitsbedingungen im Umkreis haben, hat mich eine Freundin letztens gefragt, wie lange ich das hier eigentlich noch machen will. Mindestens 2,5 Überstunden pro Tag und 24 – Stunden – Dienste sind längst nicht mehr überall die Regel. 

Hält die Stellung, während ich nicht da bin...
Und trägt für mich jetzt übrigens auch die grüne Schleife...


Die Nacht verbringe ich hauptsächlich wach. Und mit Nachdenken. In dem Versuch, mein kleines Licht der Hoffnung vor mir selbst zu verteidigen. Und mit der Angst, das nicht mehr zu schaffen.
Was soll sich jetzt hier bitte in der nächsten Zeit ändern? Es wird doch nur schlimmer. Ich habe keine Ahnung, wie ich die Spätdienste übernächste Woche schaffen soll, wenn der Oberarzt im Urlaub ist, die Vertretung pünktlichst halb 5 das Haus verlässt, der Hintergrund sich nicht ganz für die Stroke Unit zuständig fühlt und ich die Hälfte meiner Arbeitszeit ohne Ansprechpartner über die Bühne bekommen muss und vermutlich – wegen jetzt schon absehbarer absoluter Untersetzung – jeden Tag eine Menge für mich übrig bleibt. Der Spätdienst kehrt hinter dem Tagdienst. Es ist nicht ganz kollegial – das weiß jeder – aber zur Not gibt man seine Probleme weiter. Deshalb ist dieser Dienst auch so unbeliebt.
Ich habe keine Ahnung, wie und wo ich Weihnachten und Silvester verleben soll und ich möchte diese Tage auch nicht erleben.
Ich weiß nicht, wie ich ab nächstes Jahr 24 – Stunden – Dienste machen soll, alleine in der Notaufnahme zurecht kommen soll, wo ich bisher außer Schlaganfällen wenig behandelt habe.  Aber der alternative Hausdienst ist auch nicht viel besser – denn das ist hauptsächlich internistisch und wird ohne Reha – Erfahrung auch schwierig. Und wenn den Frühreha – Patienten nachts ihre Tracheal – Kanüle heraus fällt, stehe ich auch blöd dar. Ich glaube, die haben hier keine Ahnung, wie sie eine Assistenzärztin möglichst schnell und sicher einarbeiten, wenn sie nicht den Umweg über die Reha genommen hat.

Seit Monaten sehe ich das kommen. Seit Monaten weiß ich nicht, was ich all diesen Hürden entgegen setzen soll. Seit Monaten weiß ich, dass die Schlingen sich zuziehen. Dass die Dinge, die auf mich warten, einfach fünf Nummern zu groß sind.
Seit Monaten zerreißt es mir ständig das Herz und wäre ich in dem Alter dafür und würde das nicht immer eindeutig dann passieren, wenn es mir psychisch gesehen sehr schlecht geht, hätte ich vermutlich gelegentlich Angst vor einem Herzinfarkt.

Im Prinzip ist alles geschrieben. Alle Worte, die ich noch in der Welt verteilt wissen möchte, haben ihren Weg auf Papier gefunden. Liegen in der Schublade.
Und freie Tage, in denen niemand nach mir fragt, lassen das Hirn immer ein bisschen durchdrehen. Lassen immer die Frage im Hintergrund ticken: „Mondkind, warum willst Du Dir das noch antun…? Was hat das für einen Sinn, wenn es ohnehin absehbar ist, wie es endet…?“
Nur weiß ich langsam auch, wie viel ich wegschmeiße. Wie viel Durchhalten am Ende doch wertlos wird. Und ich weiß mittlerweile, warum es mir geht, wie es mir geht. Und, dass es Lösungen gäbe. Wenn diese Welt nicht so kompliziert wäre. Manches ein bisschen unkonventioneller wäre. Wenn ich ein bisschen mehr Vertrauen könnte. Nicht immer allein wäre.
Ehrlich gesagt weiß ich zu dem Zeitpunkt in der Nacht von Freitag auf Samstag nicht, ob ich es noch bis Mittwoch schaffe. Da werde ich erstmal in die Studienstadt fahren, bin ständig unter Leuten und zumindest beschäftigt.

Der Samstag ist anstrengend. Nach dieser Nacht.
Es dauert lange, bis ich mich endlich aufraffe und wenigstens kurz einkaufen gehe. Und dann zumindest mal beginne, das Badezimmer zu putzen.
Und plötzlich… - plötzlich klingelt das Handy. Wenn ich nicht auf einen Anruf einer Freundin gewartet hätte, wäre vermutlich nicht mal der Ton angestellt gewesen. Unbekannte Nummer. Gehe ich da jetzt dran? Normalerweise ja nicht… - aber irgendetwas sagt mir, dass es gut wäre.
„Mondkind, was ist aus Deinen Steckdosen geworden – sind die jetzt mal in der Wand…?“ Eine Stimme, mit der ich jetzt nicht unbedingt am anderen Ende der Leitung gerechnet hätte. „Naja…“, entgegne ich etwas gedehnt, „was soll sich da zwischen gestern Abend und heute Mittag geändert haben…?“ „Hast Du Werkzeug da…?“ „Ja, einen Werkzeugkoffer habe ich.“ „Okay Mondkind, ich bin in einer halben Stunde da. Ich rufe Dich aber vorher dann nochmal an…“

Der Nachmittag reißt mich erstmal wieder aus meiner Negativ – Spirale raus. Ich glaube, dieser Mensch weiß nicht, wie viel er da unter Umständen gerade rettet. Auch, wenn die Steckdosen am Ende immer noch nicht in der Wand sind… („Mondkind, irgendwie funktioniert das nie, wenn wir etwas gemeinsam machen…“). Ist auch nicht schlimm ehrlich gesagt. Dafür funktionieren ganz andere, weniger sichtbare Dinge.
Und während wir zwischenzeitlich mal kurz unterwegs sind sagt er – nur um Fremden jetzt nicht die Geschichte erklären zu müssen – diesen einen Satz, von dem ich nicht geglaubt hätte, ihn nochmal von ihm zu hören. Der nur dem Zweck dienlich ist, aber aus dem Zusammenhang genommen, dieses zerrissene Herz für einen Augenblick ruhig im Takt schlagen lässt.

Ich versuche mich, auf diese guten Momente zu konzentrieren. Mich auf die Dankbarkeit zu fokussieren, dass ich das erleben darf. Ich versuche, zu vertrauen, dass sie wieder kommen. Dass ich nie weiß wann und wo, aber dass sie sich in unregelmäßigen Abständen wiederholen.
Und, dass ich nicht vergessen werde. Dass man vielleicht nicht so viel machen kann, wie ich das gern hätte, aber dass man versucht, die Grenzen auszureizen, soweit es geht.

Vielleicht kann ich mich auch ein bisschen auf das konzentrieren, das ich anderen Menschen geben kann. „Da kommt wieder die ganz nette Ärztin“, hat letztens ein Ehemann zu seiner Frau gesagt, die bei uns liegt. Und dann habe ich mir auch diese Woche wieder Lebensgeschichten am Krankenbett angehört, möglichst feinfühlig und wenig kommentiert, nach dem Prinzip, das mir die Palliativ – Oberärztin mal mit auf den Weg gegeben hat: „Sitze und horche…“
Ich begreife langsam, dass – wenn ich schon nicht für mich selbst da sein kann – ich zumindest für einige andere Menschen eine Stütze sein kann.

Ein bisschen liegen die Hoffnungen auf dem Verlauf der Woche. Dass irgendwem irgendetwas einfällt, um diesem Hirn Einhalt zu gebieten, wenn es zu schwierig wird.
Fragt sich nur, mit wem man das bespricht. Die Frau Therapeutin sehe ich zwar, während ich in der Studienstadt bin voraussichtlich, aber wenn sie mitbekommt, wie akut die Situation teilweise ist, reagiert sie ja immer etwas… - allergisch. Ich mag mich da nicht schon wieder verurteilen lassen. Es tun immer alle so, als wäre das eine freiwillige Entscheidung, an diesem Chaos im Kopf zu sterben. Ist es aber nicht. Definitiv nicht. Man kann halt nicht mehr klar denken. Man sieht absolut nichts Positives mehr und glaubt ohnehin nur noch eine Belastung für die Welt zu sein. Ich verstehe das ehrlich gesagt immer noch nicht, warum sich Leute freiwillig bei mir melden.
Und der Herr Kliniktherapeut… - den sehe ich zwar auch, aber ich glaube, dass soll eher so ein bisschen Kaffeeklatsch werden. Ich glaube kaum, dass er mit einer hilflosen Mondkind konfrontiert werden möchte, die noch nicht weiß, wie sie Weihnachten über die Bühne bekommt und für die er sich dann auch noch etwas einfallen lassen soll, wo wir uns doch – zumindest was das Arbeitspensum betrifft – einigermaßen die Hand reichen können.

Abwarten, Tee trinken (oder wahlweise Kaffee…) und hoffen… - ist die Devise. Und ganz vielleicht… - ganz vielleicht gibt es ja doch Lösungen.

Mondkind

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