Zweiter Weihnachtsfeiertag
Frühmorgens. Es gibt alle paar Monate immer wieder Tage oder Wochen,
in denen ich nur noch schlafen könnte. Eigentlich war die Nacht nicht schlecht,
aber ich fühle mich komplett erschlagen.
Kaffee trinken, ein bisschen Bananenquark zusammen rühren, kurz ein
paar Worte im Jahresrückblick hinzu fügen und dann muss ich auch schon wieder
hoch in die Neuro.
Schon als ich dort ankomme wird klar, dass es mit der Ruhe heute
vorbei ist. In der Notaufnahme sind mehrere Patienten gleichzeitig zu versorgen
und die Schwestern kommen mir schon auf dem Flur entgegen, weil sie Dieses oder
Jenes brauchen.
Nachdem die Patienten in der Notaufnahme versorgt sind, bereite ich –
während die Oberärztin kurz auf ihrer Station ist – notdürftig die Visite vor.
Ich habe mir schon gestern Abend kurz angeschaut, bei welchem Patienten es noch
welche offenen Fragen gibt und bei wem welche Diagnostik noch angebracht wäre.
Dafür, dass ich die ganze Station alleine habe und nicht viel Zeit für die Vorbereitung
hatte, klappt die Visite erstaunlich gut. Einer unserer Patienten, bei dem ich
schon seit zwei Tagen fürchte, dass wir eine Bluttransfusion brauchen, soll
immer noch keine bekommen. Da bin ich natürlich nicht böse. Ich weiß zwar, wie
es geht, aber die Regeln sind so streng, dass man quasi automatisch seine
Approbation verliert, falls irgendetwas schief geht. Das ist gar nichts für
Hasenfüße. Bei einem Patienten werde ich im Lauf des Tages die Kardiologen mit
ins Boot holen müssen, bei einem anderen die Unfallchirurgen.
Ehe die Visite dokumentiert und umgesetzt ist, sowie die Kardiologen
und Unfallchirurgen informiert sind, ist früher Nachmittag. Zeitgleich schickt
der erste Dienst einen Patienten nach dem anderen über die Notaufnahme auf die
Station, die ich dann auch noch aufnehmen und betreuen muss.
Wie immer am Nachmittag sind auch die Angehörigen mit Informationen zu
versorgen. Und manchmal telefoniert man auch über den Ozean. „Ich bin der
Bruder von Patient xy, bin auch Arzt und habe meine Praxis hier in New York…“
Aha… - nur, dass das mal klar gestellt wäre. Also Fachjargon aufsetzen und so
tun, als hätte man Ahnung…
Ab 16 Uhr dröhnt mein Kopf, die Augen und Ohren tun weh und die
Schwestern hätten mich schon beinahe heim geschickt. Aber ich muss mich noch um
eine Verlegung kümmern, die dann pünktlich um kurz vor 18 Uhr noch
stattfindet. Eigentlich wollte ich dem Kollegen noch die Scores für den Abend machen,
aber die muss er wohl selbst machen. Eigentlich sind die sowieso erst 19 Uhr
dran – ich hätte sie halt eine halbe Stunde früher gemacht. Aber ich kann
wirklich nicht mehr.
Eigentlich hatte ich ja über Weihnachten mal EEG lernen wollen. Das
war dann wohl nichts. Ich hoffe schwer, dass das Schreibbüro morgen nicht
arbeitet. Ich habe in letzter Zeit schon genervte Anrufe bekommen, dass ich
ganz dringend die EEG – Befunde in die Briefe einfügen soll, weil der MDK die Fälle
prüft. Natürlich habe ich versucht, die Aufträge an die Kollegen zu verteilen
und ihnen im Gegenzug Arbeit abzunehmen, die ich gut machen kann, aber das hat
in nicht einem einzigen Fall geklappt. Beim EEG hört die Freundschaft dann
scheinbar wirklich auf…
Irgendwie entwickelt sich das langsam zu einem unlösbaren Problem, das
mir in absehbarer Zeit um die Ohren fliegen wird. Aber hoffentlich erst
nächstes Jahr.Ich weiß nicht, wie ich das lösen werde...
Ansonsten… - wäre Weihnachten ja fast überstanden. Mit der „Arbeitstherapie“
des Chefs hat es ja irgendwie funktioniert. Wirtschaftlich gesehen war es
sicherlich der bessere Weg. Das Krankenhaus war entlastet und meine
Krankenkasse hatte keine Kosten mit mir. Mondkind als produktiver Teil der
Gesellschaft. Nur, ob ich davon etwas hatte… - das weiß ich nicht. Aber da wäre
auch die Frage: Zählt das? Zählen die Befindlichkeiten einer Mondkind, solange die
Mondkind das überleben kann?
Ansonsten macht die Einsamkeit über die Feiertage mich zunehmend
fertig und ein „Frohes Weihnachten Mondkind“ kann ich langsam auch nicht mehr
hören.
Morgen habe ich einen Termin beim Seelsorger, wofür ich einfach
unfassbar dankbar bin und ich hoffe sehr, dass ich es dahin schaffe und wir
morgen nicht in Arbeit versinken. Ich weiß überhaupt nicht, über was wir reden
sollen (naja, vielleicht wäre ein Silvester – Plan mal ein gutes Thema, aber
ich habe überhaupt keine Lust, mich damit zu beschäftigen), aber streng
genommen müssten wir auch gar nicht reden. Sitzen und sein würde reichen.
Mondkind
Kommentare
Kommentar veröffentlichen