Reisetagebuch #1 Studienstadt und Therapie - Anfang
Es ist Donnerstagabend halb 10 Uhr abends, als Mondkind dann auch mal
anfängt zu schreiben. Die letzten Tage Revue passieren lässt; die wichtigsten
Dinge zusammenfasst.
Reise – Tagebuch. Auch, wenn es keine wirkliche Reise ist. Eher so
eine Mondkind – Rettungsaktion. Aber weil es das dieses Jahr noch nicht gegeben
hat… - Reisetagebuch.
Mittwoch, 11. Dezember 2019
Halb 6 Uhr klingelt der Wecker. Unter die Dusche hüpfen, nochmal die
Haare waschen, Resteverwertung zum Frühstück. Danach werden die restlichen
Khakis in den Kühschrank geräumt, der Müll raus gebracht und der Koffer
verschlossen, der kaum noch zugeht. Gegen kurz nach acht dreht sich der
Schlüssel im Schloss. Auf zum Bahnhof. Wann bin ich das letzte Mal mit einem
Koffer hier entlang gegangen? Vermutlich letztes Jahr im Dezember…
Fernbus fahren ist irgendwie nicht so meins. Es kommt immer ein wenig
auf die Laune der Busfahrer an, aber bisweilen kommt es mir vor, als würde da
eine Horde Schafe zusammen gehalten werden. Pausen gibt es schon lang nicht
mehr; bei jedem Stopp darf maximal eine Zigarette in zehn Meter Entfernung vom
Bus geraucht werden – damit auch bloß kein Schäfchen verloren geht. (Also ich
rauche nicht – nur damit hier keine falschen Gerüchte entstehen…).
Zwischendurch segeln Schneeflocken vom Himmel und es ist schon längst
wieder dunkel, als die Namen der Städte auf den Schildern wieder Erinnerungen
wach rufen. Zwischen den Welten. Dem Gestern, das noch nicht wirklich verblasst
ist und dem Morgen, dessen Frühnebel sich noch nicht richtig verzogen hat.
Eine Freundin und ihr Freund holen mich vom Busbahnhof ab. Es dauert
ewig, bis wir endlich aus der Stadt raus sind. Und da ein Straßenabschnitt
gesperrt ist, fahren wir nur eine Querstraße von meinem ehemaligen Wohnheim
entfernt entlang. Erinnerungen. Ich auf meinem Fahrrad auf dem Weg zum
Supermarkt. Es waren keine guten Zeiten. Aber Zeiten, in denen ich noch gehofft
habe, dass der Spuk in ein paar Monaten vorbei ist.
Fremdes Haus. Fremde Familie. Fremde Regeln. Schon besser als beim
letzten und ersten Mal, als ich hier war, aber immer noch Anspannung. Obwohl es
sogar besser läuft, als ich mir das so erhofft hatte. Es wird viel geredet und
viel gelacht beim abendlichen Pizza essen. So darf es gern weiter gehen.
Donnerstag, 12. Dezember 2019
Das Bett bei der Freundin ist so gemütlich, dass ich gehofft hatte,
länger darin schlafen zu können. Aber wie so üblich, ist die Nacht früh vorbei.
Ich warte bis sie wach ist und danach holt sie erstmal Brötchen und
wir frühstücken. Irgendwie hat es einen Flair längst vergangener Zeiten,
gemütlich mit dem Schein der Kerzen des Adventskranzes am Frühstückstisch zu
sitzen. Ich mag das einfach so sehr, lange am Esstisch zu sitzen, zu quatschen
und nebenbei dann auch irgendwie mal zu essen. Und heute Morgen geht es sogar
mit Weihnachtsdeko, ohne dass ich innerlich ausraste.
Gelungener Start in den Tag. Während das schlechte Gewissen schon
wieder anklopft, warum ich eigentlich kein EEG mache, sondern lieber zwei
Stunden am Esstisch sitze, versuche ich mir zu sagen, dass ich Urlaub habe und
das machen darf.
Danach korrigieren wir die Bewerbung der Freundin für ihren
Medizinstudienplatz. Seitdem ich sie dieses Jahr kennen gelernt habe, ist mir
immer wieder klar geworden, wie viel Glück ich gehabt habe, sofort einen
Studienplatz zu bekommen. Sie arbeitet schon so viele Jahre darauf hin, hat
einen genauen Plan davon, wo und wie es klappen soll und gibt sich unfassbar
viel Mühe dafür. Ich wünsche ihr einfach so, so sehr, dass es funktioniert und
sie diesen Platz bekommt. Sie hat es wirklich verdient und wüsste ich
irgendwen, bei dem ich ein gutes Wort für sie einlegen könnte, würde ich das
sofort tun.
Bis zum Mittag sind wir gut beschäftigt und dann beginnt der weniger
angenehme Teil des Tages.
Sie bringt mich zur Bahn und dann fahre ich einen Teil meiner uralten
Strecke, noch bevor ich ins Studentenheim gezogen bin, in Richtung Universität.
Vorbei, an trostlosen Überresten des Sommers. Auf einem Balkon steht noch ein
vergilbter Sonnenschirm, während ein paar Meter weiter Werbung für Weihnachten
gemacht wird. Eine Zugdurchsage verrät, dass heute alle Haltestellen planmäßig
angefahren werden. Ich wusste nicht, dass Pünktlichkeit und die planmäßige
Anfahrt von Bahnhöfen mittlerweile eine Durchsage wert ist.
Uni – Gelände. Vorbei an der Chirurgie. Dem Ort, an dem ich zu Beginn
des Jahres so sehr gelitten habe. Vorbei an dem Gebäude, in dem ich mein Examen
hatte. Im Erdgeschoss, neben dem Empfang, hatten damals Familie und Freunde der
Mitprüflinge mit Kuchen und Sekt auf uns gewartet. Und in der Ecke die Säule,
an die ich mich gelehnt hatte, um meinen Oberarzt danach anzurufen. „Ich bin
stolz auf Dich Mondkind“, hatte er nach meiner Schilderung gesagt.
Und vorbei am „Ersatzhörsaal“, der im Sommer gebaut wurde, bevor ich
angefangen habe zu studieren. Hier habe ich unter anderem Neuroanatomie gelernt
und die Klausur im Sommer geschrieben, als unter dem Flachdach Temperaturen wie
im Gewächshaus herrschten.
Rotes Gebäude. Tagesklinik. Am Empfang steht vor mir ein Mensch, der
offenbar absolut keinen Plan von dem System hat. „Ich wollte mal fragen, ob ich
eventuell heute spontan einen Termin bei einem Arzt bekommen kann. Der Hausarzt
hat mich zum Facharzt überwiesen…“ „Also Termine haben wir Mitte Februar
wieder“, entgegnet die Dame am Empfang, ohne mit der Wimper zu zucken. Und mir
zieht sich seltsam das Herz zusammen. Zum Einen tut mir der Mensch in dem
Moment so leid, zum Anderen bin ich dankbar, meine Therapeutin noch zu haben.
Und mir wird auch schlagartig bewusst, dass es im Ort in der Ferne vermutlich
noch eine Ewigkeit dauert, bis ich mal endlich eine Anbindung habe.
Wartebereich. Das Herz schlägt mal wieder bis zum Hals. Ist lange
nicht passiert. Ich weiß aber, dass die Freundin, bei der ich gerade bin, sich
mal wieder durch die halbe Klinik bis zur Therapeutin hat verbinden lassen und
sie ein bisschen eingenordet hat. Mein „Es ist zwar alles etwas schwierig, aber
ich habe es im Griff“, dürfte also… - unglaubwürdig wirken. Man kann sich
fragen, was ich dann von der Therapeutin möchte. Raum zum Reden, zum
Reflektieren, zum Sein. Raum, um gesehen zu werden. Aber keine notfallmäßige Klinikeinweisung.
Gesprächsbeginn. Ich umschiffe die brenzlige Thematik großräumig.
Erzähle ein bisschen vom Stress auf der Arbeit, von der Ambivalenz, die die
Bezugspersonen vermitteln, von der Schwierigkeit, nicht zu wissen, wie groß die
Distanz zwischen uns ist und sein sollte und von dem resultierenden emotionalen
Chaos.
Irgendwann haben wir genug um den heißen Brei herum geredet. Wie es
mit der Suizidalität steht, will sie wissen. „Naja… - das ist ja jetzt nicht
neu...“, setze ich zu einer Art von Verteidigung an. „Nein, das ist nicht neu,
aber ist es diesmal anders…?“, fragt sie. Oha ja, es ist anders.
Sie will wissen, wie ich zum Thema Klinik stehe. Ambivalent, erkläre
ich ihr. Einerseits wäre ich da derzeit vermutlich schon ganz gut aufgehoben,
andererseits würde ich dort mit meinem Katastrophendenken auch eingehen. „Es
gibt zwei Dinge, die ich kann ich jetzt nicht verlieren“, erkläre ich. „Das
Eine ist der Job. Ich bin in der Probezeit, das wäre ziemlich einfach mich zu
kündigen. Und mit der Wohnung und der Küche bin ich jetzt finanziell einfach
echt am Limit. Ich weiß, dass sich die Lage in den nächsten Monaten entspannen
würde, wenn ich Geld verdienen würde, aber das muss ich jetzt auch tun. Und ich
weiß, dass mir ein paar Fehltage vermutlich nicht den Job kosten würden – so
rational gesehen. Aber mein Hirn macht daraus einen zwingenden, konsekutiven
Jobverlust und natürlich schläft Mondkind dann bald unter der Brücke.
Und das Zweite, das ich nicht verlieren kann, sind die Bezugspersonen
da. Ernsthaft – ich habe seit 2016 darum gekämpft – das lässt man nicht los…
Und trotzdem weiß ich, dass es eng ist. Dass ich das vielleicht nicht überleben
werde. Aber wenn man den Suizid als den Endpunkt betrachtet, der meiner
Überzeugung nach ohnehin irgendwann passieren wird, dann muss man sich das
nicht geben vorher das zu verlieren, das einen seit fast vier Jahren irgendwie
noch vorwärts zieht. Dann kann man das auch bis zum Ende behalten. Ich weiß,
das kann vermutlich nicht jeder nachvollziehen. Aber wenn der Endpunkt der
Suizid ist, verschieben sich die Prioritäten…“
„Dann kommen Sie ja eigentlich gar nicht hin und her…“, schlussfolgert
sie. „Egal wie Sie es machen, es ist immer eine Katastrophe.“ „Genau, ich komme
nicht vorwärts und rückwärts – das ist das Problem…“
„Wir müssen das jetzt aber hier nochmal klären – können Sie mir
versprechen, dass Sie es bis ins neue Jahr schaffen, ohne sich umzubringen…?“
Was zum Geier habe ich gerade versucht zu erklären? Ich kann den Job nicht
verlieren und was muss demzufolge zwingend die Antwort sein? „Naja… - das ist
immer die Frage, ob man die Frage strategisch geschickt oder ehrlich
beantworten will“, gebe ich nach einem Seufzer zurück. Eine ehrliche Antwort
möchte sie. „Ich weiß es nicht. Ich kann es ihnen nicht sagen. Ich glaube, die
Leitungen werden irgendwann durchbrennen. Ich weiß nur nicht genau wann. Aber
Weihnachten ist ein heißes Eisen…“
Im Endeffekt stellt sich heraus, dass sie schon mit dem ehemaligen und
von mir sehr geschätzten Oberarzt telefoniert hat. Der hat ja nun die
Privatstation und diesmal hat er wohl sofort gesagt, dass er mich nicht nehmen
kann. Naja… - das ist schade, aber zumindest ehrlich. Ich bin nur nicht so
einverstanden, dass er da schon wieder mit drin hängt und nun weiß, dass
Mondkind es immer noch nicht gepackt hat.
Mit meiner Station aus dem Sommer hat Frau Therapeutin wohl auch schon
telefoniert. Die würden mich wohl nochmal nehmen – aber nur kurz. Kurz ist auch
das, was ich wollen würde und trotzdem hat es einen etwas negativen Beigeschmack,
dass man mich da schon wieder von vorn herein begrenzt. Wie gesagt, ich kann
mir auch keine langen Fehlzeiten leisten, aber so still und leise vermute ich,
dass die Oberärztin die Hintergründe immer noch nicht verstanden hat und mich
mit meinem „Post – Examens – Blues“ eher für eine grundsätzliche Fehlbelegung
in der Psychiatrie hält und eher dem alten Oberarzt, der sie wohl angerufen
hat, noch einen Gefallen tun will. Das ist aber keine dankbare Rolle.
Am Ende erkläre ich ihr, dass ich mir einen stationären Aufenthalt
eigentlich nur von kurz vor Weihnachten bis ganz knapp ins neue Jahr vorstellen
könnte – das würde ich mit vier Fehltagen schaffen. Therapeutisch gesehen werde
ich in der Zeit keine großen Sprünge machen können, aber ich werde es dann wohl
zumindest überleben. Das ist ja schon mal was.
Sie meinte, sie telefoniert nochmal und dann reden wir morgen weiter.
Persönlich.
Wird also… - ein therapielastiger Tag morgen. In der Früh besuche ich
den Klinik – Therapeuten, worauf ich mich wirklich freue. Mal sehen, was das so
gibt – wir wollen uns in der Cafeteria treffen. Nachmittags geht es dann
nochmal zur Therapeutin, zwischendurch eine Freundin besuchen und danach noch
einen Freund. Also wieder viel los.
Viel eher als ein Urlaub, wird das hier gerade eine Mondkind –
Rettungsaktion. Aber wenn ich dadurch dann noch einen Jahreswechsel erlebe.
Vielleicht ist es gut. Für irgendetwas. Wird man sehen. Ist auf jeden Fall
beeindruckend wie viel Mühe man sich für eine Mondkind gibt, die zwar seit
Jahren nach außen hin alles einigermaßen auf die Reihe bekommt, aber sich
ansonsten trotz Therapien immer mehr in der Dunkelheit verliert.
Zum Abschluss des Tages geht es noch ein Mal kurz in die Stadt. Auf den Weihnachtsmarkt und an den Fluss. Muss immer ein Mal sein, wenn ich hier bin.
Mondkind
Kommentare
Kommentar veröffentlichen