Spätdienst und Weihnachtsplanung


Nebel. Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen.
Eigentlich. Eigentlich hätte ich jetzt gar nicht mehr hier sein sollen. Und so naiv wie ich war, hätte ich es letzten Freitag tatsächlich für möglich gehalten, dass das funktionieren kann. Eigentlich hätte ich jetzt auf den Weg in die Studienstadt sein sollen – mit dem Ticket, das ich vergessen habe, zu stornieren.
Und dann wäre über Weihnachten ein bisschen Igel – Modus dran gewesen.
Vermutlich wäre es mir falsch vorgekommen. Sehr falsch sogar. Vermutlich würde es mir dann jetzt auch nicht besser gehen. Ich weiß es nicht.
Und dass mein Buch, das ich eigentlich hatte lesen wollen und meine Lieblings – Jacke jetzt bei der Freundin in der Studienstadt liegen, macht es nicht so wirklich besser…
"Am Ende wird der Fehler sein, nochmal zurück zu fahren". Ein Teil von mir hat es ja geahnt.

Stattdessen sitze ich also auf dem Sofa, blogge ein bisschen, muss die Wohnung gleich noch aufräumen, eigentlich mal ein paar Sachen für die Arbeit lesen und warte auf die Katastrophen des nächsten Spätdienstes.
„Ach Mondkind… - bei dem Patienten, bei dem Du Dich gestern Abend entschlossen hast, das CT nicht zu machen – in der Verlaufskontrolle heute Morgen hat die Blutung zugenommen. Und die Patientin, der Du gestern Abend Benzos gegeben hat – die hat übrigens eine hochgradige Leberinsuffizienz. Jetzt schläft sie die nächsten drei Tage…“
Das waren die ersten Sätze, die ich gestern gehört habe. Bei dem Menschen mit dem CT war abgesprochen, dass ich es nur mache, wenn es ihm klinisch schlechter geht. Ich war jede halbe Stunde in dem Zimmer und es ging ihm nicht schlechter. Er hat bei allem was passiert, einfach unfassbares Glück. Und immerhin hat der Chef nach dem CT am Morgen entschieden, dass der bei uns bleibt und nicht in die Neurochirurgie geht – also wäre die Entscheidung am Abend davor vermutlich keine andere gewesen. Und die Patientin mit der Leberinsuffizienz… - die Leber ist so kaputt, dass die Leberenzyme – statt durch die Decke zu gehen – komplett normwertig sind und es stand nirgends in den Vordiagnosen. Das haben die Kollegen selbst erst heute erfahren. Natürlich ist das trotzdem blöd, aber ich kann halt nicht hellsehen.

Dass meine Stimmgabel gestern ihren Geist aufgegeben hat, obwohl ich die erst zum Examen gekauft hatte und sie auch echt teuer war, hat meine Laune im Spätdienst nicht unbedingt verbessert… 



***
„Mondkind, wenn die Situation nicht so ernst wäre, könnte man fast darüber lachen…“, sagt der Seelsorger. Kapelle. Ich unterrichte ihn über die letzten Tage. Was der Plan war, dass ich beim Chef war und was dabei heraus gekommen ist.
„Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie es mir nach drei Tagen Dienst hintereinander gehen wird…“, sage ich.
Der Seelsorger vermutet, dass ich das Anliegen nicht ernst genug vorgetragen habe. In der Mondkind – Version mal wieder. So von wegen „es ist zwar alles schwierig, aber es geht…“ Er bietet an, dass er nochmal mit ihm spricht. Aber dann so richtig. Von wegen chronische Krankheit und Ausfälle können immer wieder passieren. Ich glaube nicht, dass ein Chef das gern hört. Also lassen wir das mal lieber.

Auch generell unterstellt er mir, mich selbst nicht ernst genug zu nehmen. Und immer wieder auf zu viel Distanz mit mir selbst zu gehen. Aber was soll ich machen? Ich würde ja wahnsinnig werden, wenn mir in jeder Minute bewusst wäre, wie kritisch der Jahreswechsel wird.
Der Seelsorger schlägt noch ein paar Ankerpunkte für mich vor, die mich um die Arbeit herum noch ein bisschen retten könnten. Mit ihm in die Kirche gehen, ich dürfte sogar an Weihnachten bei ihm vorbei schauen.

„Ein bisschen Mut brauchen Sie schon…“, sagt er, als Mondkind zögert. Mut ist immer das Erste, das verloren geht, wenn Mondkind sich in sich selbst verliert. Ich weiß es nicht… - ob ich das ernsthaft packe, nach dem Dienst noch zu ihm zu fahren (wie immer ich auch dahin kommen soll) und mich dann in die nächste… - schräge Situation schmeißen lassen. Alleine bleiben wird es aber tatsächlich auch nicht besser machen.

Letzen Endes kommen die Menschen immer wieder darauf, dass ich Dinge selbst entscheiden und machen muss. Was grundsätzlich sicher richtig ist. Aber was mit diesem Hirn irgendwann nicht mehr geht. Weil es viel zu sehr im Katastrophenmodus ist und das Pflichtbewusstsein viel zu hoch hängt. Und da scheitern wird immer wieder.

Ich habe mir ja gestern überlegt, ob ich noch irgendetwas versuche zu klären, aber da die Mailadresse seit gestern früh nicht funktioniert und ich demzufolge gar nicht weiß, wer hier eventuell was geschrieben hat und ich da jetzt nicht hinterher telefoniere, da alle von mir langsam wirklich genervt sein dürften, belassen wir es jetzt einfach dabei.
Im Endeffekt kann mir vermutlich keiner da raus helfen. Weil selbst das, was man mir abnehmen kann, im Endeffekt nicht reicht.

***
Und manchmal… - manchmal finden Tage aber doch noch ein gutes Ende.
Wie, wenn mich nach dem Spätdienst eine ganz liebe Karte erreicht, die scheinbar auch mit viel Bedacht ausgewählt wurde. Und dann hört es für den Moment tatsächlich mal auf, weh zu tun. Und fühlt sich stattdessen ganz warm an. Das zugehörige Präsent bleibt hier mal bis zum Weihnachtstag stehen und wird dann geöffnet. Ich bin mal sehr gespannt, was man sich da so gedacht hat… 



Mondkind

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