Tal



Gestern Nachmittag.
Ein Freund und ich hatten es doch noch geschafft, uns in der Stadt zu treffen. Das war glaube ich auch das einzig Sinnvolle, das ich tun konnte, wenn ich bei mir in der Wohnung nicht völlig am Rad drehen wollte.
Ablenkung.
Es passt ihm nicht so richtig, dass er immer noch in der Klinik ist. Schon seit ein paar Wochen fiebert er seiner Entlassung entgegen.
Und manchmal denke ich, wir könnten doch mal kurz tauschen. Nur solange, bis wieder ein bisschen Ordnung in mein Leben kommt. Obwohl es das eben auch nicht richtig besser machen würde, wenn man ehrlich ist. Denn Ordnung kann ich nur allein machen. Aber es wäre jemand zum Reden da. Und ein Ohr ist manchmal alles, was der Mensch braucht.

Ich weiß überhaupt nicht, was mich im Endeffekt so fertig gemacht hat.
Der Laptop, der kaputt war und dessen Reparatur mich ein kleines Vermögen gekostet hat? Die Sache ist immer noch nicht durch. So ziemlich das einzige Programm, das darauf läuft ist Word. Alle anderen – gerade die, die wichtig sind für die Doktorarbeit – muss ich erst noch organisieren.
Das Fahrrad, das nun schon wieder kaputt ist? Und von dem ich gerade noch nicht weiß, wie ich das repariert bekomme?
Die relativ kurzentschlossene und ziemlich krasse Medikamentenumstellung? Verbunden mit der in den Raum gestellten Verdachtsdiagnose des Parasitenbefalls?
Und vielleicht auch ein wenig die Uni? Ich schaffe es im Moment nicht meine Konzentration so auf die Scripte zu fokussieren, wie ich mir das vorgenommen hatte. Und das, obwohl ich schon am Neuroscript dran bin, was meinen Interessen ja am nächsten kommt…

Vielleicht war es am Ende das Gesamtpaket. Nichts davon ist wirklich richtig schlimm und unlösbar, aber in der Summe dann doch irgendwie.
Man kann es eventuell mit einem psychischen Polytrauma vergleichen.
Definition: gleichzeitig entstandene Verletzung mehrerer Körperregionen oder Organsysteme, wobei entweder eine der Verletzungen oder ihre gemeinsame Kombination lebensbedrohlich ist.
Passt nicht ganz, aber das Prinzip wird deutlich denke ich.

Langsam fängt die Nummer an, einen Rattenschwanz hinter sich her zu ziehen.
Ich wollte nächstes Semester eigentlich unbedingt noch den FKDS – Sono – Kurs haben. Die Anmeldung hat letzte Woche stattgefunden und mit dem, was alles los war, habe ich das schlicht und einfach vergessen. Gefäße schallen – das ist eine Fähigkeit, die gelernt sein will. Es gibt so einige Dinge, mit denen kann man als Famulantin und später als PJlerin und junge Assistenzärztin immer punkten. Und dazu gehören Kenntnisse in der Sonographie. In der Neuro sind zwar erstmal „nur“ die Halsgefäße relevant, aber wieso soll man nicht ein wenig über den Tellerrand hinaus schauen?
Ich hätte auch unserem Studienblockkoodinator bezüglich eines Praktikums schreiben sollen und bei meinem Doktorvater hätte ich mich auch noch melden sollen.

Ich merke, wie kräftezehrend das gerade alles für mich ist. Obwohl ich viel mehr Zeit als früher habe, um im Bett zu liegen und mich auszuruhen (okay, im Moment kann man das nicht wirklich als Schlafen bezeichnen, was ich da mache…), bin ich trotzdem unglaublich müde.
Die Hosen passen auch besser als vor zwei Wochen noch, was aber nicht schlimm ist, da ich in der Klinik gewichtsmäßig ein wenig vorgearbeitet habe und das ohnehin wieder los werden wollte – so hätte das allerdings nicht laufen müssen.

Manchmal – wenn ich mit dem Rad auf dem Weg zur Uni bin, dann denke ich, dass es schon irgendwie alles wird und dass das Tal vielleicht bereits durchschritten ist, aber kaum bin ich wieder hier, sieht es anders aus.
Ich weiß auch gar nicht, wo ich anfangen soll. Bezüglich des Ausschlags wird nur die Zeit zeigen, was es letztlich war oder ist. Das Rad müsste ich mal im Fahrradladen vorbei bringen, aber ich habe Angst, dass mich das wieder ein Vermögen kostet. Für die fehlenden Programme müsste ich mal das Softwareportal anschreiben. Problem ist nur, dass man sich da theoretisch ein Mal im Semester rückmelden muss, was ich irgendwie verpennt habe und von daher wird das wieder alles schwierig, da an den Account zu kommen.
Und wenn ich das alles gelöst habe, wird vielleicht die Konzentration auf die Uni von selbst wieder zurück kommen.

Allerdings – weder verstreicht die Zeit so schnell, wie ich das gern hätte, noch habe ich die Kraft mich um den Rest zu kümmern, was meine Lage auf lange Sicht aber nicht verbessern wird.

Es sind vielleicht die letzten Tage, in denen sich der Sommer hier noch blicken lässt. Und manchmal – so ganz am Rande – macht auch das mich ein wenig melancholisch. Ich würde sie gern noch ein wenig genießen können.
Meinen Sommer hatte ich dieses Jahr eigentlich schon sehr früh. In den ersten warmen Tagen, als die Gruppe in der Klinik noch die Alte war. Ich habe ein Problem damit, Dinge allein zu tun. Aber ich habe es genossen abends mit den anderen noch eine Runde zu laufen, oder mit ihnen Eis essen zu gehen, oder einfach nur auf der Wiese hinter dem Gebäude zu sitzen, ein wenig picknicken und dabei zu vergessen, wo wir eigentlich gerade sind.

Manchmal müssen Erinnerungen über schwere Zeiten tragen.

Alles Liebe
Mondkind

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen