Erster Samstag und ein paar Gedanken
The sun is breaking in your eyes
To start a new day
This broken heart can still survive
With a touch of your grace
Shadows fade into the light
I am by your side,
Where love will find you
What about now?
What about today?
(Westlife – What about now?)
Erster Samstag im Arbeitsleben.
Eigentlich wollte ich ja länger schlafen. Und ich hatte auch gedacht, dass das
wohl klappen wird, nachdem ich die ganze Woche über ein großes Schlafdefizit
angehäuft habe.
Halb sechs bin ich wach. Drehe
mich noch eine Stunde im Bett hin und her, aber es wird nichts. Aufstehen.
Kaffee kochen. Ein bisschen lesen.
Und dann meine Routine. Die, die
ich schon damals hatte, als ich hier im PJ meine eigenen vier Wände hatte.
Jedes Zimmer aufräumen, alle Oberflächen abwischen, das Badezimmer gründlich
putzen, den Boden saugen (ich hoffe, die Nachbarn hören es nicht), und im
Anschluss alles durchwischen. Ich mag Ordnung und Sauberkeit. Nur war das ja im
Studentenwohnheim immer schwierig.
Danach ist es schon neun Uhr. Schnell
ein Toast frühstücken, anziehen und zum Einkaufen fahren. Ich versuche es
nochmal mit dem „neuen“ Fahrrad. Vielleicht bin ich ja einfach zu blöd für die
Gangschaltung…? Nein, bin ich nicht. Es knackt und kracht und zusätzlich
schleifen die Bremsen.
Wieder zurück, schalte ich die
erste Maschine Wäsche an. Wie schön das ist, nicht mehr entweder ganz früh
morgens oder ganz spät abends in völlig versifften Maschinen waschen zu müssen.
Keine Angst mehr haben zu müssen, dass die Klamotten kaputt gehen. Und wie
praktisch eine „Wäsche dazulegen – Funktion“ für einen Trottel wie mich ist,
die grundsätzlich irgendwo eine Sock verliert.
Es hilft nichts. Mit dem Fahrrad
muss ich zum Fahrrad – Laden. Und verfahre mich dabei natürlich. Aber
grundsätzlich ist es eigentlich nicht schwer. Und in der Ecke gibt es neben dem
Fahrrad – Laden sogar ein paar Supermärkte (unter anderem einen ziemlich gut
sortieren Bio – Laden, wenn man dann mal Geld hat…), eine Drogerie und einen
Baumarkt – wenn man also mal mehr braucht, kann ich vielleicht lieber dort
hinfahren.
Ich erkläre dem Fahrrad – Reparateur,
den ich gestern schon angerufen hatte, mein Problem. „Ich muss damit halt den
Berg hoch zum Campus. Das müsste man reparieren können, dass das Fahrrad das
schafft. Im Moment versagt die Gangschaltung bei Bergen nämlich völlig. Sonst
hat es für mich keinen Sinn.“ Er schaut sich das Fahrrad an. „Das ist schon
alt, dafür habe ich gar keine Ersatzteile mehr.“ Und nach einer kurzen Pause: „Und
die Blätter, zwischen denen die Kette schaltet, sind komplett verbogen. Was
haben Sie damit gemacht?“ „Hat mir jemand geschenkt…“, erwidere ich. „Und es
mir als neuwertig verkauft…“, füge ich nach kurzer Pause hinzu. Wir lachen
beide.
Er schaut, was er tun kann – mehr
als 50 Euro wird er aber nicht verlangen, das lohnt sich nicht mehr, wie er
sagt. („Für junge und hübsche Mädels geben wir uns immer Mühe…“). Die mittleren
Gänge werde ich vermutlich nicht benutzt können, aber für den Berg sind auch
die Unteren wichtig.
Später stelle ich noch die zweite
Maschine Wäsche an, telefoniere mit dem Möbelhaus wegen der Küche (die ist
jetzt bestellt ;) ), beziehe das Bett
neu und stelle bei einem Blick durch die Post fest, dass „Sommerferien in der
Psychiatrie“, wie meine Mum sie zu nennen pflegt, teurer geworden sind.
Am Nachmittag drohe ich schon
wieder auf dem Sofa zu versacken. So lange wie es noch geht, raffe ich mich auf
und gehe in Richtung Park. Lange wird es nicht mehr warm sein. Und immerhin
kann ich gerade das Leben leben, das ich mir irgendwann am Anfang des Sommers
mal gewünscht habe. Sommer im Kurpark. Das schlechte Gewissen klopft auf dem
Fuße an die Tür. Es gibt viel zu lernen und vorzubereiten – so wollte ich mir
noch einen Vordruck für eine Tabelle machen, damit ich auf der Visite
strukturierter vorbereitet bin. Und gleichzeitig habe ich mir geschworen, im
Arbeitsleben auch eine neue Routine einzuführen. Solange wie ich auf Arbeit
bin, bin ich voll und ganz für meine Patienten da und wenn es mal länger
dauert, ist es auch okay. Aber wenn ich frei habe, dann darf ich auch mal die
Füße hochlegen und Kraft tanken. Das muss ich jetzt umsetzen – auch wenn es
erstmal falsch zu sein scheint.
Auf der Suche nach dem glücklichen Kind.. |
Stammplatz... Ententeich und im Hintergrund die Psychosomatik... |
***
Während ich unterwegs bin, habe ich ein bisschen Zeit, um
nachzudenken.
„Der erste Impuls ist richtig Frau Mondkind“, wurde mir
letzte Woche in einem Gespräch mit einer Pflegerin der Klinik gesagt.
„Ich glaube, was Sie antreibt, ist die Wut“, erklärte der
Seesorger letztens.
Ich weiß es noch nicht genau, aber ich glaube, ich bin
wütend und enttäuscht und traurig über all das, was hier passiert ist, in den
letzten Wochen. Sie haben es jetzt echt ein bisschen übertrieben. Der Rest der
Family. Man kann nicht alles immer auf der Mondkind abladen. Man kann die
Mondkind nicht hin und her schmeißen, wie ein Spielball. Zusehen, wie sie alles
schluckt, was man ihr anbietet und meinen, dass das nichts mit ihr macht. Dass
es nichts ändert.
Ich verstehe so viele Dinge nicht.
Meine Schwester bewirbt sich immer noch quer durch
Deutschland.
Und da ist so vieles einfach ungerecht. Wieso darf sie
sich da etwas heraus nehmen, das ich nicht durfte? Warum wird sie von meiner
Mutter durchgefüttert bis sie einen Job hat und ich wurde das nicht? Nicht,
dass ich meine ab sofort währende Unabhängigkeit nicht besser finde, aber wieso
habe ich nicht die Chance bekommen, gesund zu werden? Es ist ja nun wirklich
nicht so, als hätte ich die Füße hochgelegt. (Okay, wahrscheinlich haben wir
genau dort das Problem. Sie sieht das anders…)
Wieso glaubt meine Schwester, dass sie sich wöchentlich
umentscheiden kann, ob sie nun hierhier kommt, oder nicht? Und wieso erwartet
sie, dass ich das ohne etwas zu sagen, mitmache? Auch ich mache mir meine
Gedanken; suche in jeder Situation Vor- und Nachteile. Ein bisschen war ich
eben doch schon darauf eingestellt, dass wir das hier erstmal zusammen rocken
können. Und, dass hier bald jeden Abend zwei Meerschweinchen um unsere Füße
rennen, während wir am Wohnzimmertisch sitzen und zu Abend essen. Und, dass es
vielleicht auch ein Vorteil sein könnte auf dem kurzen Dienstweg in die Innere
zu telefonieren. Und, dass wir vielleicht auch etwas gemeinsam unternehmen
könnten. Mal wieder ins Moor fahren, oder in die Berge. Meine Schwester ist nun
mal auch mehr, als ihre Essstörung. Und eine Schwester ohne Essstörung kriege
ich eben nicht – da muss ich dann halt beides nehmen.
Und jetzt sieht das eben jede Woche anders aus. Wenn sie
irgendwo abgelehnt wurde, ruft sie mich völlig aufgelöst an, ob sie denn nun
kommen kann. Wenn sie gerade mal wieder eine neue Idee hat, dann heißt es
wieder, dass sie definitiv nicht hier anfängt.
Das ist irgendwie auch unfair, sich da nie klar zu
positionieren.
Ich bin enttäuscht von meiner Mum.
Irgendwie hängt es mir immer noch nach, dass sie nicht mal
in Erwägung gezogen hat, eine Nacht hier zu bleiben, wenn sie sowieso
übernachten wollten – nur eben 20 Kilometer weit weg von hier, was einfach
keinen Sinn macht. Dann hätten wir am Morgen vielleicht noch gemeinsam frühstücken
können (ich mag gemeinsames Frühstücken) und ich hätte einen neuen Versuch
unternehmen können, unsere Beziehung etwas zu kitten. Vermutlich hätte das
nicht funktioniert und jeder der mich kennt, verrollt bei dem Gedanken
sicherlich innerlich die Augen. Aber ich glaube, ich hätte wenigstens den
Versuch gebraucht. Und sie hätte wenigstens sagen können, dass sie mich nicht
sehen mag. Das wäre ehrlich gewesen.
Und das mit dem Fahrrad… - nee, das kann ich denen auch
nicht verzeihen. Erst hieß es, ich hätte Mamas Freund gesagt, dass ich mir ein
Fahrrad von ihm wünschen würde – da hat sich sogar meine Schwester gezwungen
gefühlt zu sagen, dass sie nicht glaubt, dass ich so etwas einfordern würde.
Ich hätte nie erwartet, dass mir einer von denen ein Fahrrad schenkt. Aber wenn
es dann schon so ist, dann muss man das ja nicht absichtlich falsch
kommunizieren.
Und ich bin wütend auf mich selbst. Weil ich nicht
zufrieden sein kann mit dem, was ich habe.
Ich lebe in einem wunderschönen „Kaff“. Alle fragen mich
immer, wie ich nur aus der Großstadt weg ziehen konnte, aber ich bereue es
überhaupt nicht. Dort kam ich trotzdem nirgendwo hin, ohne mich in die Bahn zu
setzen – hier ist alles mit dem Fahrrad zu erreichen. Die Wohnung, die ich hier
habe, hätte ich mir dort auch niemals leisten können und die Ruhe, die hier
herrscht, gibt es dort auch nicht.
Ich bin auch so frei, wie lange nicht mehr in meinem
Leben. Ich kann waschen, wann ich will; ich kann in die provisorische Küche,
wann immer ich möchte; ich kann in meinen Kühlschrank legen was ich will, habe
endlich wieder einen Tiefkühlschrank und kann Bananeneis machen (gibt es
morgen) und ich kann essen, wann ich will. Das war alles mal sehr
eingeschränkt. (Anmerkung: Eingelegte Kürbiswürfel kann ich nicht empfehlen –
war mal ne Idee, weil ich ja noch keinen Ofen, aber Bock auf Kürbis hatte).
Ich bin in dem Fachgebiet gelandet, in das ich immer
wollte und ich habe – trotz allem – den besten Chef bekommen, den ich mir
wünschen kann („Mondkind, ich habe Dir gesagt, dass Du hier nicht perfekt sein
musst und dabei bleibe ich auch…“ oder auf ein „Ich komme zurecht auf der
Station“ ein kritisches „Wirklich…? – Ich kenne Dich doch“ und die
unausgesprochene Aufforderung, ehrlich zu sein).
Ich habe nette Kollegen (mein Mentor halt leider nicht so,
aber die anderen). Einer hat mir gleich am ersten Tag sein Fahrrad geliehen,
die haben mich von Anfang an integriert, auch immer angerufen, wenn sie zum
Essen gehen. Wenn ich mir etwas Mühe gebe, werde ich Anschluss im Team finden.
Ich habe eine eigene Wohnung, in der es meine eigene
Ordnung und meine eigenen Routine gibt. Ich verdiene fortan eigenes Geld, muss
nicht mehr jeden Cent umdrehen.
Kurz: Ich könnte zufrieden sein – warum bin ich es nicht?
Und es ist ja nicht mal so, dass ich nur „nicht zufrieden“ bin. Jegliche Art
von Emotionen endet eigentlich ausnahmslos damit, dass es einfach nur weh tut.
„Ich sehe den Schrei in Ihren Augen“, fand ich ein sehr starkes Statement vom
Seelsorger. So fühlt es sich nämlich tatsächlich an, wenn es sich mal nach
etwas anfühlt.
Es kann doch nicht sein, dass der einzige Grund, der mich
daran hindert zufrieden zu sein, fehlende Bezugspersonen sind? Menschen, die
mich regelmäßig in den Arm nehmen, mir einen Ort bereitstellen, an dem ich mich
geborgen und sicher fühle. Ich werde doch nicht die Einzige sein, die das nicht
hat? Und schon jahrelang danach sucht?
„Mondkind, das sind die ganz normalen Symptome einer
Depression“, sagte eine Kommilitonin, die kürzlich angefangen hat, auf der
Psychiatrie zu arbeiten.
Was bitte ist das für eine bescheuerte Krankheit? Das
nimmt mir echt so viel weg. Dabei war ich das doch mal hier… - glücklich. Juni
2018. Ich glaube, da ging es mir wirklich gut…
Mondkind
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