Von Familienbesuch und inneren Kindern

We are problems that want to be solved
We are children that need to be loved
We were willin', we came when you called
But, man, you fooled us, enough is enough, oh
 
What about us?
What about all the times you said you had the answers?
What about us?
What about all the broken happy ever afters?
Oh, what about us?
What about all the plans that ended in disaster?
Oh, what about love? What about trust?
What about us?
 
(Pink - what about us)
 
Ich habe das Lied ewig nicht mehr gehört. Und dann kam es mir letztens auf meinem mp3 – Player in die Quere, als ich nach Liedern gesucht habe, die mich aus meiner inneren Starre herausholen können. Ein Winkel von dem ich dieses Lied (natürlich) noch nie betrachtet habe ist, dass man es auch als Anklage und Rebellion der inneren Kiddies verstehen kann.
Und das war es dann, was ein paar Tränen hervor geholt hat… Zum Thema „innere Kinder“ kommen wir später. Wen das ganze Philosophien über die Familie nicht interessiert, scrollt einfach runter… 
Ansonsten... - schnappt Euch einen Tee oder einen Kaffee und lest weiter - es wird etwas länger heute... 

***

Sonntagmorgen.
Ich sitze auf dem Lederimitat – Sofa, von dem meine Eltern irgendwie hin und weg sind. Andere Generation halt, vermute ich. Vor mir auf dem Tisch steht etwas, das man beinahe als Sonntagsfrühstück bezeichnen kann. Ein Kaffee und ein Brötchen mit Ei. Gestern auf meinem Streifzug durch den Supermarkt ist mir nämlich aufgefallen, dass gekochte Eier ja nicht gekühlt werden müssen. Nachdem ich die ganze letzte Woche als Brotaufstrich nur Honig und diverse Arten von Schokocreme hatte, gefiel mir die Idee sehr gut. Also habe ich das erste Mal in meinem Leben bunte, hartgekochte Eier gekauft – und dann auch noch außerhalb der Osterzeit (offensichtlich) – weshalb ich mir an der Kasse etwas blöd vorkam.

Mehr als mein Frühstück genieße ich aber die Ruhe. So ein Umzug ist nämlich super anstrengend – gerade, wenn sich die Psyche ohnehin eher auf eine körperliche Ebene schiebt. Gestern hatte ich vor Müdigkeit und Erschöpfung ordentliche Kreislaufprobleme, von denen mein Vater, der wie ein junges Reh durch das Möbelhaus gesprungen ist, aber nicht viel merken durfte.
Außerdem brauche ich jetzt Zeit, um die vielen Eindrücke zu sortieren, die ein Besuch von allen verschiedenen Familienmitgliedern bei mir, innerhalb von einer Woche ausgelöst hat. Viele Dinge verstehe ich nicht.
Gerade ist es auch, als sammeln sich hier alle Konflikte. Ich habe von allen Knackpunkten gehört, jede Begründung und weiß, wie das beim Anderen gewirkt hat. Ich habe diesen Blogpost bestimmt schon zehn Mal angefangen und bin jedes Mal wieder darüber abgestorben.

Mein Dad war hier. Das hat mich noch am wenigsten verwirrt. Zwar hat er immer hohe Anforderungen und erwartet auch deren Umsetzung, aber wenigstens kommuniziert er einigermaßen klar, was er will und man kann sich auf die Konsequenzen einstellen, wenn man nicht danach handelt. Da ich aber bisher fast alles umgesetzt hatte, konnte ich auf seine Hilfe zählen. Deshalb habe ich jetzt zumindest in jedem Raum provisorisch Licht und in den ersten Räumen schon Lampen an der Decke. Die Waschmaschine steht mit der Hilfe einer Sackkarre im Keller, ist angeschlossen und hat gestern für mich die erste Ladung Wäsche in der eigenen Waschmaschine gewaschen. Außerdem habe ich als Arbeitsfläche in der Küche jetzt erstmal einen Bierzelttisch, in meinem Schlafzimmer steht ein provisorischer Kleiderschrank, der zwar nicht so viel hergibt - aber da das Bett auch eher provisorisch ist, soll der Schrank, wenn ich mir in zwei oder drei Jahren ein Schlafzimmer kaufe, in den Keller wandern. Außerdem habe ich mittlerweile eine Garderobe.
Und ein paar Ideen hinsichtlich Schuhschrank und Wohnzimmereinrichtung.
Auch einen kleinen Moment von „Kindsein“ gab es in diesen Tagen: Als ich morgens aufgewacht bin, nachdem er bei mir übernachtet hatte, den Kopf zur Türe heraus gesteckt habe, mir eisige Kälte entgegen schlug, weil mein Dad in der Früh sämtliche Fenster aufgerissen hatte und ihn im Wohnzimmer wuseln hörte. Das ist mein Dad.

Schwesterchen.
„Wir sehen uns ja bald wieder und dann hast Du die Schweine dabei“, hatte ich gesagt, als ich sie in den Arm genommen habe, bevor sie gefahren ist. Wann konnten wir das in den letzten Jahren schon mal mit Überzeugung sagen: Wir sehen uns ja bald. Meistens wussten wir nicht, wann wir uns wieder sehen. Ob dazwischen Wochen oder Monate liegen würden.
Zu früh gefreut. Ich habe gedacht – bei allen psychischen Schwierigkeiten, die jeder von uns hat und trotz der Tatsache, dass unsere Eltern uns zu „Mama“- und „Papa“ – Kind gemacht haben, ist das unsichtbare Band zwischen Zwillingsschwestern vielleicht stark genug. Und vielleicht kann es ja wieder mal werden, wie es war. Wir konnten uns ein Leben ohneeinander nicht vorstellen. Dass einer in den Süden zieht und der andere in den Norden – so wie sie es jetzt wieder vorhat – schien undenkbar.
Aber vielleicht haben wir uns doch zu sehr verloren über die Zeit. Ich glaube, dass sie auch selbst sehr unsicher ist und nicht weiß, was genau sie möchte. Mal erzählt sie mir, dass sie es in meinem Elternhaus nicht mehr aushält, dann hat sie plötzlich Heimweh. Mal erzählt sie, dass sie der glücklichste Mensch der Welt ist, weil sie hier eine Stelle bekommen kann und kaum ist sie wieder gefahren, teilt sie mir mit, dass sie das doch nicht mehr möchte.  Vielleicht bräuchte sie Jemanden an ihrer Seite, der ihr mehr Sicherheiten vermitteln kann, als ich aktuell in der Lage dazu bin. Ihre Tür steht für mich offen. Ich habe – obwohl ich das nie laut sagen darf, weil mein Vater dann nicht mehr mit mir reden würde – in der Inneren ein gutes Wort für sie eingelegt. „Pass auf Deine Schwester auf und sorge dafür, dass Sie im Elternhaus die Flocke macht“, hatte mein Vater schon letztes Jahr zu mir gesagt. Es tut mir leid Herr Papa… - scheint nicht zu funktionieren.
Laut ihrer Auffassung ist keine Geringere Schuld als ich, dass sie jetzt nicht kommen kann. Der Norden wartet auf sie. Ich bin mir beinahe sicher, dass sie nicht glücklich werden kann, wenn sie mit meiner Mutter, die sie vollkommen vereinnahmt, in einer Stadt lebt. Und eigentlich will ich dann auch gar nicht mehr wissen, was dort alles nicht funktioniert und wie sehr sie von der Mutter eingespannt wird. „Sie müssen sich abgrenzen“, höre ich schon die Therapeutin aus dem off sprechen. Und vermutlich hat sie eben doch Recht. Man kann nicht alle retten und ich hätte sie lieber hier gehabt, als sie im Norden zu wissen.
Meine Schwester hatte mir ein Buch da gelassen, das ich ihr wieder geben sollte, wenn ich es fertig gelesen habe. Es war nicht uninteressant, ich habe es in meinen langen Nächten gelesen und war schon fast halb durch (was für mich fast ein Rekord ist). Gestern Abend habe ich es in die Hände meiner Mutter gelegt, damit sie es wieder mitnimmt. Meine Schwester wollte es nämlich schnell wieder haben. Und mit der Rückgabe des Buches ist dann wohl ein weiteres Kapitel Geschichte.

Meine Mutter war gestern Abend auf einer kurzen Stippvisite hier. Diesen Besuch habe ich am wenigsten verstanden. Im Prinzip hatte die ganze Tour ja auch keinen Sinn mehr, nachdem klar war, dass die Idee den Umzug meiner Schwester und mir zusammen zu legen, nicht mehr funktioniert. Im Prinzip hätte also nur das Fahrrad her gemusst und das hätte man auch mit der Post schicken können. Viel kaputt hätte daran – wie sich später heraus stellen sollte – auch nicht mehr gehen können.
Ich habe denen ja gesagt, sie sollen keinen Müll mitbringen. Keine Sachen, die ich seit mehr als vier Jahren ohnehin nicht mehr gebraucht habe. Geklappt hat das nicht. Ich habe jetzt allen möglichen Unrat hier stehen, von dem man vermutlich in meinem Elternhaus keine Lust hatte, den zu entsorgen. Einen auseinanderfallenden Schreibtischstuhl; Klamotten, die meine Mutter irgendwo zwischen den Ihren im Schrank gefunden hat (die haben Teppichkäfer dort – also ganz schlecht…), diverse Unterlagen aus der neunten oder zehnten Klasse (ich habe sechs Kisten allein mit Unterlagen aus dem Medizinstudium, also was soll ich da mit weiteren Kisten ohne Regal?) und sogar ein Pathologie – Ordner meiner Schwester hat sich – neben diversen Unterlagen von ihr aus dem PJ – zu mir verirrt. Außerdem eine ganze Batterie von Plüschtieren, die sie freilich nicht weg schmeißen sollte, aber ohne Stauraum macht sich das bei mir jetzt eben auch nicht so gut und immerhin haben sie ja im Elternhaus die letzten Jahre auch nicht gestört.
Und das Fahrrad… - nun ja. Es wurde mir ja als „neues Fahrrad“ angekündigt. Neu ist daran leider aber nichts. Ich soll damit doch bitte erstmal zum Fahrradhändler gehen, ist die Ansage gewesen. Und innerlich verfluche ich mich schon, das alte Rad in der Studienstadt gelassen zu haben. Mit einer kaputten Gangschaltung wäre ich zwar nicht den Berg zur Klinik hoch gekommen, aber hätte zumindest einkaufen fahren können.
Es war irgendwie ein „Besuch nach Vorschrift“. „Meine Aufgabe war es, die Sachen hier runter zu fahren“, erklärte Mamas Freund mir auf die kritische Nachfrage, was das denn jetzt alles soll. Okay, das haben sie gemacht. Gedanken haben sie sich aber keine gemacht. Ich hatte ja damals erwähnt, dass ein Fahrradkorb wichtig sei. Der ist zwar immerhin dabei, aber Werkzeug um den zu montieren haben sie nicht – obwohl sie wissen, dass ich eigentlich auch keines habe. Sie konnten ja nicht ahnen, dass mein Dad mich am Morgen noch überredet hatte, einen Werkzeugkasten zu kaufen, wofür ich mir jetzt schon gratuliere.
Ohne Aufforderung hat meine Mutter sich dann auch erstmal jeden Winkel der Wohnung genau angeschaut. Ich vermute, es ging halt eher um die Wohnung, als um mich. Zumal ich gern eine Wohnungsführung gemacht hätte und mein neues Heim, das ja auch irgendwie mein Rückzugsort werden soll, kein Entdeckungsspielplatz für meine Mutter ist.
Nachdem wir den Hunger gestillt haben, wollten sie auch schon wieder los. Worüber ich nicht böse war, durfte ich mir doch schon wieder anhören, dass ich nach der Klinik jetzt schließlich so erholt wie nach einem Urlaub sein müsste. Übernachten wollten sie in einem Ort zwanzig Kilometer entfernt von hier. Das fand ich allerdings richtig schräg. Wenn ich eine Tochter hätte, die ich wirklich lieben würde, würde ich doch im Ort übernachten und morgens noch gemeinsam frühstücken, ehe ich fahre. Und irgendwie hat dieser Gedanke seltsam weh getan.

Hinter dem Kurpark


***
Immer noch auf dem Sofa, nur viele Minuten später.
Ich habe eine Freundin, die sich sehr mit der Schematherapie auseinander setzt. Und letztens mal irgendwann spät abends haben wir ein Bild von meinem Innenleben gemalt, das ich irgendwie sehr passend fand.

Der „gesunde Erwachsene“ ist gerade völlig überfordert damit, seine Schäfchen beisammen zu halten.
„Kritiker“ und „Forderer“ sitzen gemütlich auf dem Sofa, die Füße auf dem Tisch und machen sich einen Spaß daraus, unnötige Kommentare in den Raum zu schmeißen. Wie, dass mir ja hoffentlich schon klar ist, dass ich einfach nicht in der Lage sein werde, auf meine Patienten aufzupassen und alle Beteiligten enttäuschen werde. Danke auch. Klappe halten. Bitte. Einmal.
Noch schlimmer sind gerade aber die „inneren Kinder“. Das „glückliche Kind“ hat das Feld einfach mal komplett geräumt und das Einzige, das von ihm übrig bleibt, ist eine sich im Wind bewegende Schaukel. Das ist gerade zu verängstigt von dem Theater. Das „wütende Kind“ weiß auch nicht wirklich, was es will – es weiß nur, dass es das so auf jeden Fall alles nicht will und hat beschlossen, dass ihm die Ansage eines „Durchhalten“ von der Therapeutin gehörig auf den Keks geht. Das „verletzte Kind“ hat sich irgendwo zusammen gerollt. Es wird die Grundannahmen nicht los, die aus nicht befriedigten Bedürfnissen und emotionalen Schmerz entstanden sind und die es jetzt als zweifelsfrei richtig empfindet. Es ordnet und handelt danach. Und geht außerdem davon aus, dass alle Grundbedürfnisse nur von den primären Bezugspersonen – also den Eltern – erfüllt werden können. Und die kann man sich ja bekanntlich nicht aussuchen. Daher rennt es auch immer und immer wieder gegen dieselben Wände und wird daher auch nie dieses Urvertrauen erfahren, das ihm fehlt.

Die Welt ist heute anders als damals. Es gibt mehr Möglichkeiten, Autonomie, Reife, Fertigkeiten und Menschen, mit denen ich mehr anfangen kann. Heute sind wird nicht mehr so hilflos und bedürftig. Das verstehen nur die inneren Kiddies noch nicht.

Und weil das System so chaotisch ist: Hallo Erkältung, bevor ich wieder richtig gesund war. Hallo Schlafstörungen.
Da der „gesunde Erwachsene“ weiß, dass ein Ruhigstellen des Systems durch einen Suizid keine Lösung ist, kramt er jeden Tag in der Zauberkiste der Bewältigungsstrategien, um alle in Schach zu halten. Und ich hoffe das reicht, bis wir zumindest wieder ein „glückliches Kind“ haben, das spürt, dass wir – vielleicht zum ersten Mal im Leben - die Chance haben langsam irgendwo anzukommen.

Nur weiß ich immer noch nicht, wie das alles im Alleingang gehen soll. Ich bräuchte jemanden, der die „inneren Kritiker“ nochmal in die Schranken verweist. Der mit mir das „glückliche Kind“ sucht und mit ihm an der Hand zurück zu Schaukel geht und erstmal daneben stehen bleibt, bis es sich sicher genug fühlt, dort wieder schaukeln zu können. Ich bräuchte Jemanden, der das „wütende Kind“ sieht, ihm täglich sagt, dass es gesehen und beachtet wird und dass wir ihm helfen werden heraus zu finden, was es eigentlich möchte und das dann Stück für Stück versuchen, zu integrieren. Und ich bräuchte jemanden, der sich mit dem „verletzen Kind“ vor die Heizung setzt. Sein Weltbild ein bisschen gerade rückt, glaubhaft erläutert, dass man Fürsorge und Vertrauen vielleicht nicht nur von den primären Bezugspersonen erfahren und akzeptieren kann und Jemanden, der das einfach erstmal ganz vorsichtig mitträgt. Dieses „verletzte Kind“ – das ist dieses Herz aus Glas – von dem ich schon vor zwei Jahren gesprochen habe, das man erstmal ganz vorsichtig, mit zwei Händen tragen muss. Es darf keine weiteren Sprünge bekommen, weil es sonst auseinanderbricht. 

Teddy für das "verletzte Kind"...
Mag sich albern anhören, hilft aber ein bisschen



Wenn ich mir überlege, dass ich in einer Woche mit diesem ganzen Chaos in mir anfangen soll zu arbeiten, dann ist das alles ein bisschen irre. Wenn man das Innenleben aufdröselt, dann stellt sich die Frage, wo meine ganze Kraft hin ist, ja gar nicht mehr. „Wenn es hier wirklich ums Überleben geht…“, merkte die Oberärztin am Freitag vor der Entlassung mal an, ohne dass daraus Konsequenzen erfolgt wären. Ja, das geht es Frau Oberärztin. Immer noch.
Und was machen wir, wenn wir keine Kraft und Zeit mehr haben, um täglich in der Kiste der Bewältigungsstrategien zu kramen? Wenn Funktionieren wieder das Einzige ist, das zählt und für das die Kraft reicht? Ich weiß es nicht… Die Neuro müsste unfassbar viel Stabilität vermitteln, um da ein ganz wackeliges Gleichgewicht zu generieren.

So Ihr Lieben… - das war dann mal das Wort zum Sonntag.
Allen Lesern wünsche ich ein schönes Restwochenende!

Mondkind

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen