Erfahrungen aus der zweiten Arbeitswoche


Der Ein oder Andere mag sich fragen, wieso es diese Woche so still auf dem Blog war.
Zum Großteil liegt das wohl daran, dass man meinen könnte, dass die Woche eine exponentielle Zunahme meiner Arbeitszeit geboten hat. Donnerstag war der Höhepunkt – um viertel nach 9 am Abend habe ich die Wohnungstür aufgeschlossen. Mehr als 14 Stunden nachdem ich die Wohnung verlassen habe und weniger als 10 Stunden, bevor ich wieder los musste.
Aber wir wollen uns mal nicht beschweren – ich lerne viel, die Kollegen sind größtenteils bemüht (wenn es dann bei der Doppler – Untersuchung auch echt aufhört) und gestern hat es das erste Gehalt gegeben, was überraschend viel für einen halben Monat Arbeit ist. Zwar fressen Miete und Psychiatrie – Rechnung in den nächsten Tagen schon wieder viel davon auf, aber ein bisschen Entspannung bringt es doch in die Situation – zur Belohnung geht es heute Abend auf jeden Fall mit einer Freundin Pizza essen in der Burg.

Und jetzt einfach ein paar Impressionen. Schnipsel von Eindrücken, Erlebnissen und wenigen Worten Tagebuch aus dem Verlauf der Woche.

***
Freitagmorgen im Arztzimmer. Du bist schon wieder die Erste, um einen Blick auf dein „Jugendzimmer“ zu werfen, bevor irgendwer stören kann. Über 90 Jahre alt ist dort jeder, aber eines Deiner Sorgenkinder ist sogar schon über 100 Jahre alt.

Gerade bist Du übrigens unfreiwillig den Berg hoch gelaufen und merkst, dass Du eigentlich nur noch registrierst.
Dass morgens das Dokumentationssystem nicht funktioniert, nachdem es am Abend zuvor gewartet wurde und Du extra eine halbe Stunde eher gekommen bist, um zu dokumentieren.
Ungeplante Teambesprechungen, bei denen sich die Spannung zwischen Pflege und Therapeuten in der Luft zerreißen lässt und Du gar nicht genau weißt, was das Problem ist. Dazu bist Du zu kurz hier. Auf jeden Fall merkst Du, wie sich jede Faser Deiner Körpers anspannt und Du kurz davor bist, aus Deinem mühsam aufgestellten Gleichgewicht zu kommen, obwohl es Dich nicht mal betrifft.
Und, dass Du Dein Fahrrad aus der Reparatur zurückbekommen hast und die Dir schon nicht viel Hoffnung gemacht haben. Und es nun schon wieder mit heraus gesprungener Kette, die sich völlig verhakt hat, unten am Kurpark steht und Du nicht weißt, wie Du am Wochenende einkaufen sollst.

„Mondkind, ich habe Dich seit Montag noch nicht ein Mal entspannt erlebt“, erklärt die Famulantin, als sich etwas später ins Arztzimmer kommt und ihre blau – weißen Sachen abholt, die Du für sie bereit gelegt hast. „So angespannt fühle ich mich gar nicht…“, erklärst Du. Die Meinung ändert sich dann aber abends in der Regel, wenn Du mit Magenschmerzen und Herzrasen ein paar Minuten auf dem Sofa sitzt, ehe Du versuchst zu schlafen.

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Nachmittags.
Seit den Morgenstunden versuche ich meine Doppler – Untersuchungen zu verteilen. Die Kollegen sind hilfsbereit und beantworten meine Fragen gern – aber zusätzliche Doppler – Untersuchungen überschreiten die Belastbarkeitsgrenze dann scheinbar doch. Es ist nur blöd, weil ich dann am nächsten Tage wieder in der Oberarztvisite stehe und erklären muss, wieso jeden Tag eine nicht erledigte Doppler – Untersuchung dazu kommt.
„Dann gehen wir jetzt erstmal der Patientin ihr Medikament aufschreiben“, sage ich zur Famulantin und stehe von meinem Stuhl auf, nachdem ich wieder ein erfolgloses Telefonat hatte, das immer mit dem selben Satz endet: „Ich kann gerade nicht, aber ruf mal den Kollegen xy an.“

Wir betreten das Zimmer. „Da ist gerade jemand ganz traurig“, sagt die Pflegerin zu mir, die gerade zufällig da ist. Und schon fällt mein Blick auf die tränennassen Augen der Patientin, die in einem Pflegestuhl neben dem Bett sitzt.
Ich gehe zu ihr, knie mich neben den Stuhl und frage, was los ist. Die Dame ist wie ein explodierendes Fass. Als hätte sie stundenlang auf diese Frage gewartet. Es war viel für sie in den letzten Tagen. Viele Verlegungen, viele Fachabteilungen, viele Untersuchungen, nach denen sie dann bei uns standete – und für sie mit ihrer Aphasie ist es schwer, sich auszudrücken und verstanden zu werden.
Ich habe mir mittlerweile angewöhnt meine Hand auf den Unterarm der älteren Menschen zu legen und nicht selten greifen sie dann automatisch nach meiner Hand, was den Meisten viel Sicherheit zu geben scheint. Immer wieder muss ich die Patientin beruhigen, sie bitten eine kurze Redepause einzulegen und tief Luft zu holen, da sich sie Schwierigkeit sich auszudrücken, wenn sie in Rage ist, so verschlimmert, dass man sie tatsächlich kaum versteht.
Ich versuche, ihr ein bisschen Sicherheit zu vermitteln. Erkläre ihr, dass ich verstehen kann, dass es viele Erlebnisse und Eindrücke in den letzten Tagen waren. Ich schlage vor, dass sie versucht über das Wochenende bei uns, vielleicht ein bisschen zur Ruhe zu kommen. Ich versuche ihre Zweifel auszuräumen, dass ich sie für geistig minderbemittelt halt würde, was sie allen umliegenden Personen unterstellt, weil sie sich so schlecht ausdrücken kann. Sie ist nicht die Erste und nicht die Letzte, deren Schlaganfall das Sprachzentrum getroffen hat und die alles verstehen kann und geistig fit ist, aber die ihre Gedanken nicht mehr in die richtigen Worte umsetzen können.  Wir kennen das, verurteilen keinen und halten niemanden für minderbemittelt. Ich verspreche ihr zu versuchen, sie nach der Diagnostik zurück in die Reha zu verlegen, wo sie ursprünglich her kam und wo sie sich sehr wohl gefühlt hat. Und weil sie mich darum bittet, verspreche ich ihr auch noch mit ihrem Sohn zu telefonieren.

Als wir das Zimmer verlassen, sind fast 40 Minuten vergangen. „Du bist wirklich eine sehr gute und geduldige Zuhörerin“, meldet mir die Famulantin zurück. „Du kannst echt gut mit den Patienten umgehen…“
Es freut mich, dass sie das so sieht. Ich habe mich in diesem Gespräch streckenweise wirklich hilflos gefühlt, weil ich den Frust so gut nachvollziehen kann. Aber ich kann es eben auch nicht ändern. Ich kann nur versuchen zuzuhören, da zu sein, mit zu tragen. 

Geschenk von der Freundin... 😍 - wie ich dieses Neuron liebe...


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Blutungen. Das war das Thema der Woche.
Überall Blut. In den Köpfen.  Und nicht nur in den Köpfen.
Und manchmal kam ich mir wie der größte Idiot auf diesem Planeten vor.
Ich bin schon selbst ständig aufgesprungen und habe einen Kontrollgang durch meine Zimmer unternommen. Denn meine beiden wichtigsten Kandidaten hatten einen ziemlich therapieresistenten Bluthochdruck.
Und wenn der in der Oberarztvisite weit über dem Zielwert ist und man mit einem schnellen Blick in die Kurve ersehen kann, dass das kein Ausrutscher ist, hagelt es verständlicherweise Kritik.

Ich stehe im Schwesterstützpunkt. Über die Kurven gebeugt. Den Kopf zwischen den Händen vergraben.
„Was ist los?“, fragt die Schwester. „Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll“, entgegne ich. „Ich habe die orale Medikation angehoben, der Patient hat zwei Perfusoren laufen und ich kriege diesen Druck nicht runter…“, erkläre ich. „Was macht Ihr denn in so einer Situation?“, frage ich nach einer kurzen Pause.
Und dann gibt es eine neue Idee. Und ich frage mich gerade, wer hier der Arzt ist. Selbst die Schwestern beruhigen mich und sagen, dass ich es ja alles erst lernen muss und sehr bemüht bin, aber irgendwie ist es schon unangenehm, so wenig zu wissen.

Ich versuche mich damit zu revanchieren, den Wünschen der Schwestern schnell nachzukommen. Ich weiß nicht, ob meine Patienten die Einzigen sind, die sich täglich die Zugänge raus reißen, obwohl ich sie immer extra mit einem Verband umwickele und deren Angehörigen täglich ein Telefonat wünschen. Jedenfalls werde ich nachmittags immer mit Telefonnummern zu geschmissen, wer wann unter welcher Nummer erreichbar ist und die arbeite ich dann bis in die Abendstunden ab. Ganz selbstverständlich scheint ein Rückruf des Arztes aber auch nicht zu sein – jedenfalls bedanken sich zumindest einige Angehörige sehr überschwänglich. „Ganz herzlichen Dank Frau Doktor Mondkind…“ An den Satz werde ich mich noch eine Weile gewöhnen müssen.

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Abends. Ich habe noch zwei Briefe vor mir.
„Mondkind, komm mal rum“, sagt der Oberarzt, der mit der Famulantin auf der anderen Seite des Tisches steht und sich MRT – Bilder anschaut. „Was siehst Du?“, fragt er. „Sind das Grenzzoneninfarkte?“, frage ich. So etwas habe ich bisher nur in Lehrbüchern gesehen. „Das würde ich auch vermuten“, erklärt der Oberarzt. „Aber wir schauen uns jetzt nochmal die anderen Wichtungen an“, sagt er, während er die ADC – Wichtung auf den Bildschirm zieht.
Und dann klingelt sein Telefon. Da ich neben ihm sitze, höre ich es. Eine Schwester. Angehörige von einer Patientin. „Ich komme gleich…“, erklärt der Oberarzt, legt auf – und überlegt. „Mondkind – ist das nicht Deine Patientin…?“, fragt er. „Ja…“, entgegne ich kleinlaut und schleiche aus dem Raum.

Viel später. Der Oberarzt ist schon lang wieder woanders, die Famulantin längst zu Hause. Einen Spätdienst haben wir nicht und die anderen Kollegen waren so schlau, sich vor Stunden zu verziehen. Das hat zur Folge, dass alles an der einzig verfügbaren Ärztin auf der Station kleben bleibt.
Und so führe ich auch Angehörigengespräche von Patienten, die ich nicht mal kenne. Unangenehm. Weil ich nicht genug weiß. „Was ist denn jetzt der weitere Plan?“, höre ich oft. Ja, wenn ich das wüsste… denke ich mir dann oft. Rede davon, dass wir noch in der Phase der Diagnostik sind und bitte die Angehörigen am nächsten Tag auf den verantwortlichen Arzt zuzugehen. Es ist unbefriedigend.

Mit allen Unterbrechungen haben die beiden Briefe drei Stunden gedauert. Ich schicke dem Oberarzt noch eine Mail, dass sie fertig sind und er sie bitte korrigieren möge, bevor ich das am nächsten Morgen vergesse, weil irgendwer schon wieder einen entgleisten Blutdruck hat, kaum, dass ich die Station betrete.
Am Morgen darauf werde ich eine Mail in meinem Postkasten finden. Der Herr Oberarzt hat einen kurzen Satz zurück geschrieben. Er registriert meine Mühen und ist sehr, sehr zufrieden mit mir. Na wenigstens etwas…

***
„Mondkind, wenn Du mit den Patienten oder Angehörigen redest, merkt man nichts mehr von Deiner Unsicherheit und Unruhe“, merkt die Famulantin an.
Sie bedankt sich übrigens im Lauf der Woche gefühlt 100 Mal, dass ich sie am Anfang meiner Assistenzarztzeit teilnehmen lasse. So etwas erlebe man nicht so häufig, erklärt sie. Aber mir bringt es auch etwas zu hören, wie ich im Arztalltag wirke. Ich bekomme das ja kaum mit.

So gut, wie die Kommentare auf der einen Seite sind, so weh tun sie auf der anderen Seite. Ich habe in solchen Situation immer den Satz des Chef – Psychologen im Ohr: „Funktionieren wird das schon mit dem Arbeiten – da habe ich bei Ihnen keine Sorge. Es ist nur die Frage, wie es Ihnen damit geht…“
Ich würde nicht sagen, dass es mir mit der Arbeit an sich schlecht geht. Irgendwo ist das ein Stück weit faszinierend, jetzt wirklich Ärztin zu sein – auch wenn ich da noch ganz, ganz viel lernen muss und vermutlich viel zu ungeduldig bin. (Als ich dann endlich mit der ersten von drei Patienten diese Woche im Doppler stehe, entschuldige ich mich drei Mal beim Oberarzt, dass ich es nicht selbst kann. „Mondkind, das heißt Facharztausbildung und die dauert fünf Jahre und nicht fünf Tage…“, erklärt er).

Und dieses „Ich“ zu versorgen, war lang nicht mehr so schwierig. Denn kaum, dass ich neben Betten oder Stühlen knie, Hände halte und zuhöre, meldet sich dieses „Ich“. Fragt verärgert nach, warum so viele fremde Menschen etwas bekommen, das dieses „Ich“ gerade nicht bekommt.
Wobei es anspruchsvoll ist. Es möchte Bezugspersonen. Und bitte Bezugspersonen, die wir kennen und die tragen können. Die Abstände zwischen Terminen, die dieses „Ich“ ein bisschen besänftigt haben, waren lange nicht mehr so groß. Ich kenne das noch von früher. Bevor die ambulante Therapeutin beschlossen hat, dass mir eng getaktete Termine doch ganz gut tun. Damals waren nicht selten vier Wochen zwischen den Terminen. Und mindestens zwei Wochen davon, hat irgendetwas in mir nur geschrien. Danach war erstmal ein paar Tage Ruhe, ehe der Druck wieder zugenommen hat. Und die meiste Zeit hat man nur darin verlebt genau zu wissen, wann der Termin ist und demzufolge auch zu wissen, wann das Fahrwasser für ein paar Tage mal wieder etwas ruhiger wird.
Ich hoffe einfach, dass ich bald irgendetwas regeln kann, um da ein bisschen Ruhe rein zu bringen. Aber im Moment sieht es wirklich nicht danach aus, obwohl eine Freundin und ich sich alle Mühe geben, irgendetwas für mich zu finden.

So ihr Lieben – ich muss hier langsam mal zum Ende kommen – und Ihr habt langsam sicher auch keine Lust mehr zu lesen. Ich habe nämlich dieses Wochenende Besuch hier und darf meiner Freundin mal meine neue Heimat zeigen. Heute Abend gehen wir Pizza essen und morgen fahren wir ins Moor und zwischendurch ruhe ich mich ein bisschen aus.
Und da sie gerade angekommen ist und neben mir schon unruhig mit den Füßen scharrt, legen wir jetzt mal los. 

Mondkind

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