Erster Tag als Assistenzärztin


Wahnsinn.
Chaos. Reizüberflutung.
Das trifft es vielleicht am Ehesten.

Früh morgens. Die Nacht war kurz. Zu kurz.
Es ist kalt, als ich die Decke zurück schlage und ins Badezimmer wanke. Wanke.
Shit, was stellt mein Körper heute wieder an? Herzrasen. Schwindel.
Aufregung oder Kreislauf? Oder Beides? Ich weiß es nicht.

Ich darf heute Morgen eine Zuckertüte öffnen.
Finde ein Zettelchen von einer lieben Freundin. „Heute schwebst Du über die Flure als Ärztin, wo Du verdammt stolz drauf sein kannst…“
Ich glaube, sie ist stolzer als ich, aber das macht nichts. Mich rührt diese Geste so sehr.

Kurz vor 7 Uhr. Ich trete auf die Straße.
Fahrradfahrer. Aktentaschenträger hetzen quer über die Straße. In der Nähe ist das Bankenviertel des Dorfes.
Ich laufe den Berg hinauf in Richtung Klinik.
Schwindel. Herzrasen. Bäche von Schweiß rinnen mir den Rücken runter. Immer mal wieder wird es kurz schwarz vor den Augen.
Ich bete, nicht als Patient anzukommen.

7: 45 Uhr
Ich sitze vor dem Zimmer der Sekretärin. Den Weg von hinten durch die Notaufnahme (da ich ja noch keinen Transponder habe), habe ich im ersten Anlauf gefunden.
Der Oberarzt empfängt mich sogar pünktlich. So ein Chaot wie er ist – ich hatte mich schon gefragt, ob er mich vielleicht vergessen könnte. Noch bevor ich die „Willkommens – Mappe“ ausgehändigt bekomme, drückt er mir das neue Telefon in die Hand.
Das Wichtigste. Das Telefon. Ständige Erreichbarkeit.

Frühbesprechung. Nachdem wir ewig einen Raum gesucht haben, in den wir hinein können, und am Ende im Pflegestützpunkt gelandet sind.
Spannung. Zum Zerreißen.
Die Patienten des Wochenendes werden herunter gerasselt. Es waren Viele. Viele, die komplizierte Fälle waren. Deren Angehörige nun auf Gespräche warten. Und das Handeln der Kollegen offenbar teils nicht nachvollziehen können. Während „mein“ Oberarzt die Gesprächstermine bei ihm verkündet, dazwischen immer mal den Kopf in den Händen vergräbt und ihn in einer Mischung aus Verzweiflung und Hilfslosigkeit schüttelt, wird fast sein ganzer Terminplan für heute offensichtlich. Bis in den späten Abend. Alltag. In seinem „Halbtagsjob“, wie er ihn nennt.

Danach folgt die Besprechung der Verteilung der Assistenzärzte auf der Stroke Unit, der Notaufnahme und der Akutstation.
Hiobsbotschaften. Zwei Kollegen im Urlaub. Einer krank.
Der Spätdienst muss schon früh kommen, sonst kann man es nicht schaffen heute. Ein Kollege soll ihn anrufen. Der zuständige Arzt der Notaufnahme beschwert sich, allein zu sein. „Wie die letzten acht Monate“, merkt er zynisch an.
„Wir haben ja jetzt die Mondkind“, stellt der zweite Oberarzt mit einem verhaltenen Enthusiasmus fest. „Die kann Dir ja heute früh in der Notaufnahme helfen. Anamnese und Untersuchung kann sie ja gut machen…“ Er schaut mich an. „Gern. Ich tue was ich kann“, erwidere ich und setze ein höfliches Lächeln auf. Notaufnahme am ersten Tag ohne Einarbeitung und ohne, dass ich überhaupt bisher Zugriff auf der System habe, ist sicher eine super Sache. „Ich glaube, das besprechen wir mal in einem Vier – Augen – Gespräch“, erklärt der Arzt der Notaufnahme zu dem Oberarzt gewandt.
Herzrasen. Das ist alles nicht gut. Überhaupt nicht gut.
Wie lange kann ich in diesem Chaos – Haufen überleben?

Eine Assistenzärztin soll mit mir Kleidung holen gehen. Aber die Mitarbeiter der Wäscheausgabe sind erst ab 10 Uhr da. In der Zeit leiht sie mir einen von ihren Kitteln. Damit ich zumindest ein bisschen ausschaue, wie eine Ärztin.
„Ist die Besetzung hier in letzter Zeit immer so schwierig?“, frage ich sie in dem Wissen, dass die Stroke mal die am besten besetzte Station der Neuro war.
„Ich will Dir jetzt keine Angst machen Mondkind…“, erwidert sie.
Okay, habe verstanden.
Eigentlich sollte sie mich am ersten Tag ein bisschen „einarbeiten“. „Also Mondkind – ich weiß heute selbst nicht, wo mir der Kopf steht. Ich kann Dir heute nicht viel zeigen…“

Und jetzt stehe ich da alleine auf der Station. Ein bisschen verloren. Habe keine Ahnung, wo ich hin muss. Was ich machen soll. Ich beschließe, mich um administrative Dinge zu kümmern und blättere mich durch meine „Willkommens – Mappe“, die auch ein paar Mails zwischen der Sekretärin und der Verwaltung enthält.
„Das Passwort sollte der Mitarbeiterin bekannt sein“, schreibt die Verwaltung der Sekretärin auf die Frage, wie ich denn auf die Benutzeroberfläche im System komme. So, so… - bloß gut habe ich gestern Abend in einem Geistesblitz mein altes Notizbuch eingepackt. Ich blättere ein wenig darin herum und finde tatsächlich das Passwort.
Mailaccount öffnen. Da sind sie noch. Alle Mails aus dem letzten Jahr. Ich scrolle ein wenig durch. Damals hatte ich mir noch mit der Therapeutin Gedanken gemacht, wie viel Zeit ich zwischen Examen und Jobstart lasse. Seltsamer Stich ins Herz.
Es ist zu früh. Viel zu früh. Allein den Kreislauf aufrecht zu erhalten, ist eine Aufgabe für sich an diesem Morgen. So sollte man eigentlich nicht arbeiten.
Und in der Zeit meiner Abwesenheit sind alle Mails einfach weiter auf diesem Account eingetrudelt. Nur, dass sie keiner gelesen hat.
Um den Zugang zum Patientensystem zu bekommen, muss ich noch mit der EDV telefonieren, aber das mache ich auch sofort und selbstständig.
Und pünktlich zur Oberarztvisite um kurz nach 10 Uhr stehe ich dann in weißer Hose, blauen Kasack und Kittel darüber bereit. 

Wirrwarr. Nicht nur, um in der Anonymität zu bleiben - so ungefähr sah mein Kopf von Innen aus.


„Die Mondkind kann eine Sache sehr gut… - schreiben“, erklärt der Herr Oberarzt, während mir der Assistent dankbar den Visitenwagen zuschieben. „Also… - nicht, dass ich Dich jetzt als Tippse missbrauchen möchte“, erklärt Herr Oberarzt. „Nee ist alles gut, ich mache das gerne“, erwidere ich. Und meine das auch so. Irgendetwas Sinnvolles tun, was den Kollegen etwas hilft, ist jetzt mal eine gute Idee. Und überhaupt mal nicht verloren sein an diesem Morgen. Irgendwie habe ich das Gefühl erwartet man da, dass ich Dinge tun kann, ohne dass sie mir gezeigt wurden.

Danach ist schon Mittag und einer der Assistenzärzte nimmt mich mit in die Cafeteria. Eigentlich ist mir so gar nicht danach irgendetwas zu essen, aber ich muss auch irgendwie diesen Kreislauf am Leben erhalten. Deshalb ist essen vielleicht eine gute Idee, auch wenn mein Magen vor Nervosität vermutlich ungefähr so groß wie eine Weintraube ist. Wobei ich nicht mal spüre, dass ich nervös bin, aber ich vermutlich ist mein Körper das trotzdem.
„Wo wohnst Du denn jetzt und wie kommst Du hierher?“, fragt der Kollege. Ich erzähle von der Wohnung und von dem… - Fahrrad, das man so eigentlich nicht nutzen kann. „Mondkind, wir fahren nachher zu mir nach Hause und dann kannst Du erstmal meins haben, bis Du Deins repariert hast. Ich brauche das gerade nicht, ich komme ohnehin mit dem Auto. Jeden Tag den ganzen Weg zu laufen, dauert doch ewig…“
Das war eigentlich gar nicht das gewesen, worauf ich hinaus wollte, aber ich nehme das Angebot an. Auch wenn ich generell nicht gern mit fremden Fahrrädern durch die Gegend krosse.

Nachmittag.
Mir ist nur noch schwindelig, mein Kopf dröhnt. Ich kann nicht mehr. Aber „präsent sein“. Einbringen.
Ich gehe zu den anderen beiden Assistenzärzten, die in einem anderen Zimmer sitzen und frage, was ich machen kann.
Wir bekommen eine Verlegung von der Intensivstation, höre ich. Die Patientin kann ich machen.
Ein paar Minuten später ist sie da.
Und ich bin auf der Suche nach Infos. Die Dokumentation ist dürftig und ich – da mir ja immer noch niemand etwas gezeigt hat – muss mich erstmal wieder ins System einfinden. Wo war nochmal was hinterlegt?
Zum Glück kann mir ein anderer Kollege, der sie schon kennt, später eine kurze Zusammenfassung geben.
„Dann bekommt die Mondkind hier als ersten Fall gleich einen Schlaganfall mit allen möglichen Komplikationen“, sagt ein Kollege. Ja Danke, das habe ich auch schon gemerkt…
Als ich sie untersuche, stelle ich fest, dass auch noch die Nadel nicht mehr liegt. Und bei ihrem Venenstatus eine Nadel legen… - forget it. Ich versuche es, aber es sind meine ersten Versuche seit Ende März. Und entsprechend scheitere ich. Mist. Schon gleich die Kollegen um Hilfe bitten müssen. Schon gleich ein schlechtes Bild abgeben.
Und dann. Medikamente in die Kurve schreiben. Abzeichnen. Darf ich ja jetzt. Muss ich ja jetzt. Alle Dosierungen noch sieben Mal nachschauen.

„Mondkind, möchtest Du mit mir mal die outgesourcten Patienen visitieren gehen?“ Ich habe den Oberarzt in der Leitung. Klar möchte ich das. Mal in die „alte“ Neuro rüber gehen.
Wir reden kurz über meine Eindrücke des ersten Tages „Ich bin ein bisschen… - reizüberflutet…“, erkläre ich. „Also Mondkind – ich bin doch Dein Chef. Ist doch alles gut…“ So, so… - wenn er das so sieht.
„Willkommen in der tollen Besetzung der peripheren Station“, begrüßt uns die Kollegin, die um beinahe halb fünf allein im halb dunklen Arztzimmer sitzt und versucht, Ordnung in ihr Chaos zu bringen.
Auf dem Rückweg klingeln bei meinem Oberarzt beinahe alle Telefone gleichzeitig und das Signal für einen Schlaganfall in der Notaufnahme ist wohl ein besonders aufgeregtes Klingeln. Ich bin so fertig mit der Welt, dass ich bei jedem Klingeln innerlich in Alarmbereitschaft versetzt werde. „Willkommen in meinem Leben Mondkind“, sagt der Oberarzt dazu. Ich weiß nicht, wie er das macht. Ich weiß es einfach nicht.

Es ist beinahe halb sechs am Abend, als sich dieser Tag dem Ende neigt. Mit dem Kollegen fahre ich noch zu ihm nach Hause und er gibt mir das Fahrrad, wofür ich mich nochmal bedanke. Dann habe ich jetzt aber auch den Druck, das andere Fahrrad schnell reparieren zu lassen. Ich kann es ja nicht ewig behalten.
Da ich etwas im Arztzimmer habe liegen lassen, muss ich nochmal in der Klinik vorbei. Liegt eh fast am Weg. Nur ein paar Höhenmeter weiter oben. Auf dem Weg treffe ich noch einen Kollegen aus der Inneren, der mich fragt, wo meine Schwester denn nun bleibt.
Aber daneben merke ich auch, dass ich so erschöpft bin, dass ich kaum noch stehen kann. Die Knie zittern unter mir und wie den ganzen Tag schon habe ich ständig das Gefühl, dass ich kurz vor dem Umkippen bin. Ich kann nicht mehr. Nur noch bergab fahren geht. Aber schon beim Abstecher auf die Station, versagen mir fast die Beine.

Und während ich den Berg runter rolle Richtung Heimat, stelle ich fest, dass ich auch noch viel für mich klären muss.
Wie lerne ich, mit all den Schicksalen umzugehen? Meine erste Patientin ist eine ältere Dame, die bis gestern früh sehr rüstig war und alleine gelebt hat. Bis sie ihren Schlaganfall bekam und stürzte. Ich bin gespannt, wie sie sich in den nächsten Tagen macht – manchmal ist da ja noch viel zu retten. Aber sie ist schwer betroffen. Wenigstens atmet sie mittlerweile wieder selbstständig, aber mehr als ein Grunzen ist von ihr nicht wahrzunehmen. Eine Seite vollständig gelähmt. Mit dem anderen Arm hat sie heute immer wieder nach meiner Hand gegriffen, als ich sie untersucht habe. Ich habe mir ein bisschen Zeit genommen. Ihr erklärt, dass ich ihr versuche zu helfen, so gut es geht. Dass sie hier sicher ist und wir alle gut auf sie aufpassen. Keine Ahnung, ob ihr das geholfen hat. Aber mir hat dieser Versuch ihrerseits ein bisschen Sicherheit durch das Drücken meiner Hand irgendwie weh getan. Ich weiß nicht, wie viel sie mitbekommt. Und will nicht wissen, wie verzweifelt sie sein muss, wenn sie ihren Zustand schon realisiert hat.
Und… - auch eine Frage. Wie möchte ich arbeiten? Ja, die Personaldecke ist dünn. Ja, das macht sicher nicht immer Spaß. Und ich… - ich bin schon jetzt ausgelaugt. Aber das ist kein Grund die Tür des Arztzimmers hinter sich zuzuknallen oder zynische Äußerungen fallen zu lassen. Das macht es nur noch schlimmer. Können wir nicht trotzdem höflich bleiben? Motiviert? Ich habe heute an meinen Herrn Einzeltherapeuten aus der Klinik gedacht. Der ist auch noch abends um acht über den Flur gesprungen. Und er war immer noch nett. So möchte ich auch werden.

Und jetzt… - jetzt brauche ich eine Dusche. Und etwas zu essen. Und ein kurzes Telefonat mit einer Freundin. Und dann mein Bett.

Mondkind

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