Stippvisite auf der Neuro und Anorexie
Beruhigen. Irgendwie. Irgendwie
wird es schon werden. Irgendwann.
Es ist dunkel draußen, als ich
aufwache. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es noch weit ist, bevor bei
meiner Schwester um kurz nach sechs der Wecker klingeln wird.
Ein paar Stunden später sitze ich
mir ihr am „Frühstückstisch“ auf dem Boden. Ein bisschen aufpassen, dass sie
überhaupt etwas isst, bevor sie zu ihrer Hospitation loszieht. Als ich sehe,
wie sie ihre vier Mirabellen in bestimmt 20 Einzelteile zerlegt, muss ich mich
allerdings schwer zusammen reißen. Es erscheint mir kaum vorstellbar, dass ein
Chef jemanden der so aussieht wie sie, einstellen wird. Und nein, das ist keine
Beleidigung. Es ist einfach die Realität.
Als sie weg ist, tigere ich
erstmal unruhig die Wohnung auf und ab. Ich werde sie nicht ändern können. Wenn
sie das für richtig hält, dann ist das so.
Aber zur Ruhe komme ich jetzt
auch nicht mehr. Also koche ich Kaffee, setze mich hin und blogge.
Ein Umzug ist ja nicht so der
Aufwand, höre ich von meinem Umfeld. Irgendwie bringe ich den Morgen aber
trotzdem am Schreibtisch zu, gehe alle Unterlagen durch, suche die Papiere
zusammen, die ich gleich in der Neuro kopieren will, mache die ersten Briefe
fertig und schicke sie weg.
Dann wird es auch Zeit, zu meiner
Stippvisite in die Neurologie aufzubrechen. Heute muss ich aus meinem Oberarzt
endlich mal heraus bekommen, wo ich nun eingesetzt werden soll.
Um kurz vor ein Uhr bin ich da
und stehe vor einer geschlossenen Tür. Ohne Schlüssel kommt man gar nicht auf
die Station – wie gut, dass der Oberarzt mich auf die Station bestellt hat. Zum
Glück treffe ich einen Kollegen, der mich rein lässt. „Ohne Transponder kommst
Du nirgendwohin…“, werde ich gleich belehrt.
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Bald wieder täglicher Weg zur Arbeit... 💛 |
Erstmal ist aber auf der Station Geduld
gefragt. Der Oberarzt ist schwer im Stress.
Über eine Stunde warte ich im
Arztzimmer, halte etwas Smalltalk mit den mehr oder weniger bereits bekannten
und zukünftigen Kollegen. Zwischendurch wird mir noch ein Kaffee angeboten, den
ich auch dankbar annehme.
„Hast Du denn schon eine Wohnung?“,
werde ich gefragt. „Das ist ja hier super schwierig, eine zu finden…“ „Ja…“,
gebe ich zurück. Und stelle immer wieder fest, dass es offensichtlich nicht so selbstverständlich
ist, wie meine Familie meint, hier eine Wohnung zu finden. Ich habe verdammt
nochmal nicht nichts auf die Beine gestellt in diesem Sommer. Auch wenn mir das
immer wieder unterstellt wird.
Nach einer Stunde klopft es an
der Tür und ein altbekanntes und sehr vermisstes Gesicht taucht im Türrahmen
auf. Der Neuro - Oberdoc
Unser Treffen gestaltet sich
heute aber doch recht formal. Zuerst gehen wir ins Pflegezimmer und ich werde dort
vom Oberarzt vorgestellt. Einige kennen mich aber noch von meinem PJ, das ich
letztes Jahr hier gemacht habe.
Dann erhalte ich eine kleine
Einführung in die Architektur des Gebäudes, damit ich mich in Zukunft etwas
besser zurecht finde. Auch bei der Arzthelferin werde ich vorgestellt, von der
ich sehr lieb begrüßt werde. Nach einer weiteren Runde durch die Funktionsdiagnostik
kommen wir in einem Aufenthaltsraum an. Hier setzen wir uns kurz. Der Oberarzt
fragt, wie die Situation mit meiner Schwester im Moment ist. „Nicht zuletzt war
eine Motivation für mich zuzunehmen ja, dass nicht alle sehen, dass da irgendetwas
nicht stimmt. Wenn das ein paar Leute wissen, denen ich auch vertraue – wie Sie
zum Beispiel – dann ist das okay, aber das hat nicht das ganze Krankenhaus zu
wissen. Und jeder, der sich ein bisschen mit der Materie auskennt weiß, dass
Anorexie in der Regel eine Erkrankung des kompletten Familiensystems ist. Und
nicht jeder muss wissen, dass das in Schieflage ist. Außerdem habe ich keine
Lust, ständig die Verantwortung für meine Schwester zu tragen. Die Leute kommen
ja irgendwann auf mich zu und fragen, was denn mit ihr los sei, weil man bei
ihr ja komplett gegen die Wand redet. Das war schon im Studium so. Und meine
Eltern wälzen die Verantwortung jetzt auch wieder auf mich ab. „Pass auf, dass
sie heute Abend noch etwas isst“, höre ich von meinem Vater am Telefon. Und ich
kann mich nicht um einen anderen Menschen kümmern, wenn ich mich kaum um mich
selbst kümmern kann… Aber irgendwie erwartet man das jetzt halt. Weil meine
Schwester ja schwer krank sei und ich nur ein bisschen spinne.“ Es tut gut,
sich das einfach mal kurz von der Seele zu reden, macht es mich den ganzen Tag
doch schon wieder super aggressiv.
„Aber vielleicht ist es gar nicht
so schlecht, dass Ihr erstmal zu Zweit hier seid – dann kann Deine Schwester
Dir ja ein bisschen helfen am Anfang…“, versucht der Oberarzt noch gute Gründe
zu finden. „Naja… - wenn keiner da ist, dann muss sie sich ja selbst
organisieren. Aber wenn die „große“ Schwester da ist, dann macht sie halt gar
nichts, sondern lässt mich alles machen… Klar, sie hat das Auto, aber da hört
es dann schon auf.“
Über mich selbst reden wir kaum.
Und eigentlich nervt es mich immer ziemlich, wenn kostbare Zeit mit vertrauten
Menschen für die Probleme anderer drauf geht. Aber vielleicht ist es okay so.
Er hat keine Kapazitäten für noch mehr Verantwortung als die, die er ohnehin
schon tragen muss. Und er muss nicht wissen, dass mein eigenes Leben aktuell
auf so wackeligen Stelzen steht. Er muss nicht wissen, dass ich die
Entscheidung für das Überleben jeden Morgen neu treffen muss, dass der Umzug
selbst letzten Freitag noch auf der Kippe stand. Er muss nicht wissen, dass ich
nicht weiß, wie lange ich das noch überleben kann.
Im Lauf des weiteren Rundgangs
stellt sich dann heraus, dass ich auf der Stroke Unit anfangen soll. Nach zwei
Wochen soll ich schon in die Notaufnahme rotieren. Die sind ja schon ein
bisschen crazy. Ich weiß nicht, warum man mir da so viel zutraut. Wenn ich das
schon höre, dreht sich mir der Magen um. Wie soll ich das denn alles gut
machen? Und mein sehr geschätzter Oberarzt wird jeden verdammten Fehler
mitbekommen, den ich mache…
Als wir fertig sind, erklärt der
Oberarzt mir noch den Weg zurück zu den Fahrstühlen und irgendeinen Weg durch
die Notaufnahme zu seinem Büro, den ich nicht ganz durchschaue. „Wenn Du mich
mal besuchen möchtest, ohne einen Abstecher durch die Neuro zu machen…“ Ob das
ein Angebot oder eine Aufforderung oder sonst was war… - ich weiß es nicht. Er
wirkt viel zu sehr im Stress, als dass da noch viel Zeit für mich drin sein
könnte.
Ich weiß nur, dass es mir fast
nichts gegeben hat, auf der Neuro zu sein. Wo sind all die positiven Gefühle
hinsichtlich „meiner“ Neuro hin? Ja, ich kann viel lachen, viel Small – Talk halten,
viele Hände schütteln und mich dabei mal wieder vorstellen. Aber es löst nichts
aus. Überhaupt nichts. Macht mir nur bewusst, wie gut die Schauspielerei
aktuell wieder funktioniert.
Als meine Schwester von ihrer
Hospitation kommt, erzählt sie ein bisschen. Alle Kollegen scheinen das noch
nicht mitbekommen zu haben, dass sie nicht ich ist. Aber der Chef ist wohl
begeistert von ihr…
Später besorgen wir noch den
Kühlschrank. Meine Nerven sind ohnehin schon am Ende und dann lassen die uns da
noch eine Stunde herum stehen. Meine Schwester macht sich natürlich in alter
Manier ganz klein hinter mir und Mondkind quatscht alle Verkäufer an, obwohl
auch sie keine Kapazitäten mehr hat für heute.
Danach noch schnell in den
Supermarkt und für das Abendessen einkaufen. Schnell… - denkste. Geh mal mit
einer Anorexie – Patientin einkaufen. Die stellt den ganzen Laden auf den Kopf
und findet trotzdem nichts zu essen.
Boa nee Leute… - es ist echt
nicht böse gemeint und ich gebe mir super viel Mühe allem und jedem gerecht zu
werden, aber ich kann das so einfach nicht. Ich glaube, ich werde mal meiner
Therapeutin schreiben – wir müssen das mal besprechen…
Mondkind
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