Ein Jahr nach dem Examen und Therapieschnipsel


Wenn ich geh, will ich bleiben
Irgendwo in den Dingen,
die ihr dann tut.

Wenn das alles vorbei ist
Wenn hiervon nichts mehr steht
Wenn niemand mehr fragt, ob Kaffee oder Tee
Wenn an keiner Tür mein Name mehr klebt
Dann soll da Liebe sein
Wo ich war, soll dann Liebe sein
Wo wir waren, soll da Liebe sein

Lotte – Dann soll da Liebe sein


Heute vor einem Jahr. 16. Mai 2019.
Sogar zeitlich dürfte es einigermaßen passen. Kurz nach 18 Uhr am Abend. Ich hatte Angst, dass es schon zu spät ist und wohl vergessen, dass ich in ein paar Monaten auch gefühlt im Krankenhaus leben werde. Dennoch habe ich die Nummer „meines“ Oberarzt gewählt und hatte ihn wenig später in der Leitung. Und habe den Satz gesagt, der bis dahin der Wichtigste des Jahres war: „Ich habe das Examen bestanden…“ Ich kann mich genau an die Szene erinnern. Ich stand unten im Foyer der Uniklinik, etwas abseits von den Mitprüflingen, die gerade von Familien und Freunden in den Arm genommen wurden. „Ich bin sehr stolz auf Dich Mondkind“, hat der Oberarzt gesagt, ehe ich ein bisschen über meine Prüfung und meinen genialen Myasthenie – Fall erzählt habe.

Einige Zeit danach habe den Schlüssel wieder in der Wohnungstür umgedreht und die WG betreten. Wie surreal doch dieser Abend war. Da hatte man das Examen bestanden und konnte der ganzen Familie das nicht erzählen. Saß am Abend ganz allein auf dem Bett und war froh, dass man zumindest mit dem Oberarzt die Freude hatte teilen können.
Hätte ich die Familie eingeweiht in das Datum des Examens, wäre ihnen hinterher wieder eingefallen mich durch halb Deutschland zu scheuchen, um die Psychiatriepläne zu torpedieren. Das hatten wir ja alles schon im Jahr davor durch. Dann also still und leise mit dem Examen. Um die Klinik nicht zu gefährden. Von diesem denkwürdigen Tag existiert kein einziges Foto – ich habe extra gesucht für den Blog.

Es war dennoch der Tag, der das Tor zur Zukunft werden sollte. Zu einer besseren Zukunft. In der Psychiatrie wollte ich erst nochmal ein paar Dinge reflektieren, überdenken, neu bewerten. Ein paar Steine aus dem Weg räumen, die mir das Leben täglich so schwer machen, um dann mit gutem Rüstwerkzeug zu starten. Ich wollte eine motivierte Assistenzärztin werden, eine gute Neurologin, einer der Menschen, der die Lebenswelt von anderen vielleicht ein ganz kleines bisschen verbessern kann.

Wie sehr hatte ich gehofft, dass das wirklich der Wendepunkt wird. Und heute sitze ich hier und weiß nicht, ob ich in drei Wochen – was damals die Zeit war, die es bis zur Klinik noch zu überbrücken galt – noch lebe. 

Mal wieder ein Foto aus dem Kurpark.


***
Ich denke noch viel nach über die vergangenen Tage. Ich war so sehr erschöpft, dass manche Dinge glaube ich immer noch nicht richtig angekommen sind. Es erscheint absolut surreal, dass ich da wirklich am Fluss in der Studienstadt gesessen habe. Und auch in den Gesprächen, die ich immer und immer wieder durchanalysiere, als könnte man die Geschehenisse im Nachhinein noch ändern, fallen mir immer wieder neue Schnipsel ein.
Und irgendwie frage ich mich, ob zumindest eins von diesen Gesprächen irgendwie konstruktiv war. Ich glaube, wir haben einfach komplett aneinander vorbei geredet. Weil ich auch nicht mehr konstruktiv denken konnte. Es hat nur noch geschrien im Kopf oder war müde. Was sollen Therapeuten denn damit auch…?

„Das heißt, eigentlich muss ich jetzt arbeiten“, sage ich, nachdem ich meine Rolle im „Epilepsie – Projekt erklärt habe.
„Wissen Sie, was das Schöne daran ist, im Krankenhaus zu arbeiten… ? Man ist nie allein, es gibt immer Jemanden, der andere mitversorgt. Im Krankenhaus kann man jederzeit gehen. Es ist jederzeit ein Kollege da. Der Rest ist unsere Wahrnehmung. Der Eindruck, dass es nicht ohne uns geht, dass wir verpflichtet sind, dass wir müssen.“ 
(Und dummerweise hat er Recht. Meine Idee war das zumindest noch bis Mitte Juli durchzuziehen, wenngleich ich aktuell nich mal genau wüsste, wie ich die Wartezeit bis zur Klinik überbrücken wollte. Aber ab Juli muss ich Dienste machen und noch mehr Stress als wegen des Epilspieprojektes gibt es dann sicherlich, wenn ich erstmal wochenlang raus bin, sobald ich damit anfangen soll).

„Wir müssen langsam glaube ich wirklich eine Veränderung rein bringen“, erklärt Herr Therapeut. „Also… - es gab schon eine Veränderung, so ist es nicht. Nur… - das war eine Veränderung innerhalb des bekannten Rahmens.“ In einer Tonlage, die suggeriert: Ich weiß, dass ist jetzt eine richtig unpopuläre Meinung und Sie wollen es nicht hören, aber ich muss es sagen.

Irgendwo zwischendurch.
„Niemand weiß, wie es Ihnen mit der aktuellen Situation geht. Das weiß ich nicht, das weiß Ihr Oberarzt nicht und das wissen Ihre Eltern nicht. Die müssen das alle nicht machen.“

Es geht wieder um die Klinik.
„Was wird „mein“ Oberarzt dazu sagen? Er wird glaube ich nie sagen „Das ist okay Mondkind“, weil er dieser Klinik – Sache sehr kritisch gegenüber eingestellt ist… Zumindest jetzt, weil es das ja bisher nicht so gebracht hat“ (Naja, zumindest lebe ich noch; ob das ohne Klinik so wäre, weiß ich nicht…)
„Mh… - kennen wir alles schon…“, sagt Herr Therapeut dazu.
„Ich weiß…“, sage ich ganz leise.
Nach einer kurzen Pause hole ich nochmal aus:
„Ich weiß nicht, ob das berechtigt ist, sich so verrückt mit dem Job zu machen. Oder, ob die einfach sagen würden. „Ja Mondkind, was hast Du da für einen Mist verzapft, aber wir nehmen Dich natürlich hinterher wieder. Ich weiß gar nicht, ob die einen einfach so raus schmeißen können, ehrlich gesagt. Also im Dezember damals… - es ist ja nicht so, dass der Chef bei diesem Gespräch hinsichtlich der Psychiatrie nicht nett gewesen wäre. Ich glaube, er hat die Lage nur absolut nicht erkannt.“
„Und wenn Sie es täten, Sie rauszuschmeißen… - was dann?“, fragt Herr Therapeut.
„Naja, dann brauche ich ein neues Krankenhaus, dann brauche ich eine neue Wohnung, dann muss ich wieder umziehen und dann… - ist die Geschichte mit der potentiellen Bezugsperson endgültig zu Ende.
Er schaut mich lange an. „Ist sie das nicht schon…?“, fragt er.
Ich schweige eine Weile. „Gute Frage. Ich glaube, so lang wie es kein eindeutiges Nein gibt, gibt es immer wieder Möglichkeiten, bei denen man sagen kann: „Man weiß es nicht…“ Das ist viel Auslegungssache. Es ist äußerst inkongruent alles und ich weiß nicht, was ich damit soll.“

„Betrachten wir das ganze Mal realistisch. Ich kann nicht alles geben. Offiziell sind Sie gar nicht mehr meine Patientin“, erklärt Herr Therapeut und fast klingt das wie ein Vorwurf, obwohl es vermutlich keiner sein soll.
„Ja, ich weiß“, entgegne ich und in dem Moment fühle ich mich wirklich schlecht, weil er hier gerade unfassbar viel Zeit opfert und wir uns nur im Kreis drehen.
„Die Möglichkeit, die ich habe ist, die Entscheidung von Ihnen abzuwarten. Sind Sie wieder meine Patientin, dann kann ich auch was tun. Oder sind Sie es nicht. Dann kann ich mir vielleicht (und dieses „vielleicht“ betont er, als sei das eigentlich schon fast nicht möglich) gerade noch mit Ihnen Gedanken darüber machen, wie Sie das vor Ort hinkriegen.“

„Wie geht es jetzt akut weiter?“, fragt er, wobei er das „akut“ im Satz betont.
„Naja…“, entgegne ich und mache eine lange Pause, ehe ich ganz leise hinzufüge „wahrscheinlich werde ich versuchen zu arbeiten…“ Oha… - ich hätte nicht gedacht, dass das laute Aussprechen des Satzes sich so dermaßen falsch anfühlt. „Mondkind, hast Du irgendeine Ahnung, wie Du in dem Zustand langfristig arbeiten willst…?!“, schreit es aus dem Off. „Bitte, das kann nicht Dein Ernst sein. Würdest Du vielleicht mal irgendwann abrücken von dieser „wir-müssen-unbedingt-arbeiten-bis-wir-tot-umkippen-Nummer?! Warum sind wir hier? Jetzt zieh das auch bis zum Ende durch. Das ist eine Krankheit verdammte Hacke und keiner sucht sich das aus. Es ist keine freiwillige Entscheidung einen Dachschaden zu haben. Fang an das ernst zu nehmen."
„Okay…“, entgegnet Herr Therapeut ganz gelassen, „dann würde ich Sie nochmal darum bitten, dass Sie sich Gedanken darüber machen, welche Ressourcen Sie nutzen können, um das dann gut zu machen…“ Und nach einer kurzen Pause: „Und sich vielleicht nochmal Gedanken machen, wann Sie da vielleicht doch mal ein Stopp setzen. Wann Sie sagen, es geht an dem Punkt gerade wirklich nicht mehr weiter…“
Mit diesen Aussagen, treibt er die Verzweiflung gerade auf die Spitze. Ob er wohl weiß, wie weh das gerade tut? Ob das ein therapeutischer Versuch sein soll, das Ruder herum zu reißen? Denn verdammt nochmal, es gibt keine Ressourcen mehr. So ist es einfach. Und dieser Punkt zum „Stopp“ sagen, der ist genau jetzt, sonst wäre ich nicht mit den verbleibenden Kräften durch das halbe Land gegurkt.  Was glaubt er wohl, wie lange es so noch geht…? Jede von diesen Aussagen fühlt sich wie ein Stein an, der auf meine Schultern fällt.

***
Und jetzt… - was machen wir jetzt… ?

Wenn mir irgendjemand diese krasse Angst nehmen könnte, nach der Klinik unter der Brücke zu landen (dann bringt es nämlich gar nichts), dann würde ich darüber nicht mehr nachdenken. Ich möchte einfach nur irgendwo sicher sein dürfen mit diesem Hirn. Ich möchte keine Angst mehr haben müssen, daran zu sterben. Ein bisschen Ruhe. Ein bisschen sein. Und ehrlich… - es hat doch nur Vorteile. Ich glaube, dass mir die Schema – Therapie etwas bringen kann, ich kenne das Haus und das Personal dort und ich hätte einen super engagierten Therapeuten. Nach solchen Leuten suchen andere ihr halbes Leben. Und das hier… - das ist doch nur Verschwendung von Lebenszeit. In den wenigen hellen Tagen habe ich mich immer gefragt, wie krass verzweifelt ein Mensch sein muss, wenn man am Tag so oft über das Ende nachdenkt.
Ich lege die ganzen Schnipsel nochmal zusammen, die ich über die Tage gesammelt habe und dann… - weiß ich auch nicht. Wie kriege ich mich selbst denn zu einem "ja" zur Klinik... ?

Und vielleicht… - vielleicht sollte ich mir ein sehr gutes Konzept für das Telefonat mit Herrn Psychiater zurecht legen. Irgendeinen Mittelweg. Kein ganz großes Drama, auch um ihn da einfach ein bisschen zu schützen. Aber auch nicht zu sehr beschönigen. Allerdings ist Suizidalität immer Drama. Und wenn das hier so weiter geht, rufe ich ihn vielleicht schon Montag. Ich kann einfach nicht mehr. (Obwohl ich mir vorgenommen habe, das nicht mehr so oft zu sagen. Laut eines Kollegen auf Arbeit ist das nämlich der häufigste und nervigste Satz bei Depressiven...)

Mondkind

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen