Über das, was bleiben soll und die Klinikfrage.


Sind so unendlich viele Menschen
Aber viel zu oft allein

Wir sind wie blinde Passagiere
Treiben einfach so umher
Auf 'ner kleinen blauen Kugel
Durch das große, schwarze Meer
Wir sind wie blinde Passagiere
Wissen nicht, wohin es geht
Und wenn man irgendwann aussteigt
Will doch jeder sagen
Wir ha'm geliebt, wir ha'm gelebt

(Johannes Oerding – Blinde Passagiere)


Manchmal frage ich mich, was übrig bleiben würde. Von mir. Wenn ich nicht mehr da wäre. Wenn ich zum Beispiel das Wochenende nicht überlebt hätte. Weil der Therapeut und ich das Freitag nicht mehr geschafft hätten, die Kuh vom Eis zu ziehen.

Die Einen, die mich von der Arbeit kennen, die würden vielleicht sagen: „Oh, da geht eine gewissenhafte Arbeitskraft flöten." Von Kompetenz mag ich mal noch nicht reden im ersten Jahr, „frisch von der Uni“, wie die Kollegen meine Unwissenheit gern verteidigen.
Menschen, die eine Mondkind auch auf privater Ebene kennen, würden vielleicht sagen: „Ja, die Mondkind hat es nicht gepackt, ihr Leben auf die Palette zu bekommen. Aber zumindest sind wir dann wohl auch nicht mehr mit ihr beschäftigt. Behelligt sie uns sich nicht mehr mit ihrem Chaos…“
Aber kaum Jemand würde mich wohl als inspirierende Persönlichkeit bezeichnen, die man gern in seinem Leben gehabt hat. Als Menschen, mit dem man gern Zeit verbracht hat. Als Menschen, der eine Lücke im Leben hinterlässt.
Und ich selbst… - würde auch nicht sagen, dass ich schon genug erlebt, gesehen und erreicht habe um zu sagen, dass das ein Leben war, das sich gelohnt hat.
Und irgendwie… - irgendwie würde ich schon gern Spuren hinterlassen auf dieser Welt. Und in Herzen von anderen Menschen. Da muss ich wohl noch arbeiten an mir.



Telefonat von gestern. Mit einem Menschen, mit dem ich nicht so oft telefoniere.
„Was hast Du denn in Deiner freien Woche vor…?“
„Ich wollte in die Studienstadt fahren…“
„Mondkind, jetzt zu Corona – Zeiten… ? Bist Du noch zu retten? Hast Du das mit dem Arbeitgeber abgesprochen? Ich habe einen Kollegen, der wäre fast gekündigt worden, weil er kürzlich für ein paar Stunden in den Niederlanden war – und das ist rein rechtlich für 72 Stunden erlaubt.“
Und nach einer kurzen Pause: „Und wo willst Du eigentlich schlafen Mondkind…?“
„Im Elternhaus… ?“
„Himmel, Mondkind. Das hat noch nie funktioniert. Da kamst Du immer viel deprimierter wieder zurück, weil es eben doch nicht klappt dort Mondkind. Überleg Dir das, bitte.“
Es ist ein Wahnsinns – Aufwand, das muss man sagen. Obwohl ja im Moment kaum Menschen unterwegs sein dürften, sind Bahntickets wahnsinnig teuer. Und da im Moment keiner in der Studienstadt ein Auto hat, muss ich alles mit öffentlichen Verkehrsmitteln machen. Vom Elternhaus in die Studienstadt fährt man in eine Richtung rund zwei Stunden. Und ob da alles fährt, wie es soll, weiß ich auch nicht. Entspannte Tage werden es definitiv nicht.
Da müsste ich mir mal langsam Gedanken darum machen, was bei diesen Gesprächen raus kommen soll. Wenn das so ein Nachbetreuungs – Update werden soll, könnte man das vielleicht auch telefonisch machen. Wenn das Ziel ist, tatsächlich einen Klinikaufenthalt anzubahnen, müsste ich halt schon hin.

Klinik ja oder nein… - über den Versuch einer Pro- und Contra – Liste sterbe ich jedes Mal ab.
Gefühl und Verstand rennen gegeneinander. Wenn ich nicht über die Konsequenzen nachdenken müsste, würde ich sofort „ja“ dazu sagen. Die Vorstellung, dass dieser Wahnsinn hier auf „Pause“ schaltet, ist schon sehr verlockend. Klinik – Zeiten waren nie einfach – immerhin wird man jeden Tag mit seinen Themen konfrontiert. Aber es gab diese Oasen. Der Chaos – Kopf hatte einen Hafen. Und ich… - ich musste mich mal nicht darum kümmern, wie ich eine Rasselbande verrückt gewordener, wahlweise traurigen, müden, zornigen oder lebensmüden Kinder in Schach halten muss. Da waren Menschen, die mitgetragen haben.
Und auf der anderen Seite: Was werden die Konsequenzen sein? Werde ich meinen Job verlieren? Muss ich schon wieder umziehen? Ist das nicht zu früh, das Projekt „Ort in der Ferne“ für gescheitert zu erklären? Werde ich das je akzeptieren können, die Idee mit der potentiellen Bezugsperson gefährdet, oder aufgegeben zu haben, bevor es ein eindeutiges „nein“ gab?

Ich möchte erstmal nicht schon wieder mein komplettes Leben auf den Kopf stellen und ich möchte auch immer noch Ärztin bleiben – glaube ich. Ich möchte „nur“, dass die Negativität etwas weniger wird, ich mich selbst ein bisschen besser aushalten kann, ein bisschen weniger Angst habe. Dass da auch mal Energie für anderes übrig bleibt; das wäre schön.

Ich glaube schon, dass Herr Therapeut dabei nochmal sehr behilflich sein könnte. Es hat eine Weile gedauert und wer schon länger mitliest weiß, dass auch wir unsere Krise miteinander hatten, aber mittlerweile hat er meine Geschichte und die Konsequenzen daraus, die mich heute hierher geführt haben, verstanden. Und ich… - würde ihm absolut blind vertrauen. Was die besten Voraussetzungen sind, die man haben kann. Da kann es ganz viel Ehrlichkeit geben. Ich hätte einfach sehr gern die Chance, mit ihm noch ein wenig an mir zu arbeiten. Aber das würde eben Klinik bedeuten.

Nach wie vor glaube ich auch, dass man das Thema Suizdalität sowieso nur in der Klinik in den Griff kriegen kann. Das haben wir ja schon damals gemerkt, dass die Symptomatik richtig aufdreht, wenn man da dran will. Ich stand kurz vor der Geschlossenen und dann haben wir mal – vermutlich im gegenseitigen, stillen Einverständnis – den Deckel wieder drauf gemacht. Das ist alles kompliziert. Weil ein endgültiges „Ja“ zum Leben die Möglichkeit eines Endes, wenn es einfach nicht mehr geht, raus nimmt. Und allein die Vorstellung dieses Leben aushalten zu müssen, weil man sich selbst das Ende versagt, egal wie schlimm es wird, ist kaum aushaltbar. Da drehen alle in mir ein bisschen durch.
Und gleichzeitig… - wenn man die Tagebucheinträge rückwärts liest, ist das hier seit Ostern ständig eskaliert. Zwei Mal war Wochenende, da habe ich den Seelsorger angerufen, weil einfach niemand anders erreichbar war. Freitag war zum Glück der Therapeut da. Aber das kann sich jetzt auch nicht etablieren. Das kann ich nicht ständig machen. Damit muss jetzt auch erstmal wieder Schluss sein. Und was mache ich dann in solchen Situationen?
Das ist halt alles so total ambivalent. Auf der einen Seite denke ich mir: „Mondkind, warum kannst Du es nicht einfach mal durchziehen…?“, auf der anderen Seite denke ich mir: „Aber ich will doch gar nicht daran sterben.“ Es ist halt nur oft so unerträglich geworden. Wenn man stundenlang hier sitzt, weint, innerlich schreit und auseinander bricht, glaubt, dass es so nicht mehr geht, nicht einen einzigen Zentimeter mehr und man absolut an seiner Grenze angekommen ist. (Und dann hört man nicht so selten: „Sie hören sich aber eigentlich ganz sortiert an…“ Ja, weil ich das seit Jahren mache und Autopilot schon irgendwie funktioniert…).
Jedenfalls… - wie lange kriege ich das hier noch gebacken…?
Und wenn es nochmal Klinik werden würde, wäre nach wie vor das eines der größten Ziele. Ein bisschen weniger Suizidalität – am Besten gar keine mehr.
Dass man irgendwann sagen kann: „Wir ha'm geliebt, wir ha'm gelebt.“

Altes Foto... - Dachterasse der Klinik


Mit einem Freund ging es noch um die potentielle Bezugsperson und mich.
„Es läuft halt alles im Moment ganz, ganz schlecht mit uns. So schlimm war das nicht mal zu PJ – Zeiten…“
„Und ab wo würdest Du sagen, ging es bergab…?“
„Das frage ich mich auch ständig. Wo ist der Fehler? Was habe ich zu viel oder zu wenig gemacht? Wo habe ich mich falsch verhalten…? Rückblickend betrachtet glaube ich, dass diese Mail damals Ende Februar von der Freundin gar nicht gut war. Zwar haben wir das relativ schnell geklärt und er hat gesagt, dass das erstmal nichts ändern wird, aber da hingen Worte zwischen Menschen, die da nie hingehört hätten. Und da wollte die Freundin ihm eine Verantwortung auferlegen, die er einfach nicht tragen kann und sollte – zumindest nicht wissentlich.  Vielleicht wollten wir das beide nicht, aber das hat viel kaputt gemacht. Er ist danach einfach viel vorsichtiger geworden; Dinge die bis dahin schon mal möglich schienen, sind in weite Ferne gerückt. Und dann kam ja wenige Tage später Corona. Und das kam ja eigentlich sehr gelegen. Da musste sich niemand mehr Gedanken machen, wie das weiter geht mit uns – es war nun mal einfach verboten. Und jetzt wechsle ich praktischerweise das Gebäude. Endgültig abschließend wird man das erst beurteilen können, wenn Corona dann vorbei ist. Aber das kann noch ewig dauern.“
„Mh…“, sagt er. „Das kann sein…“
„Also habe ich durch diese Aktion im Prinzip schon zwei Menschen verloren. Mit der Freundin, die das alles verzapft hat, läuft es auch nicht mehr. Wir haben schon nochmal versucht uns zu berappeln und sie hat sich mittlerweile tatsächlich entschuldigt, aber das war der heftigste Vertrauensbruch, den man begehen konnte. Zumal ich ihr vorher noch irgendwann klar gesagt hatte, dass sich in diese zwischenmenschliche Geschichte keiner einzumischen hat. Ich kann darüber einfach nicht hinweg sehen. Zumal das eben nachhaltig negative Konsequenzen hatte. Sie hat ja gern mal munter herum telefoniert mit der Therapeutin und dem Seelsorger, die das beide auch nicht lustig fanden, aber das war einfach ein Schritt zu weit.“

Jetzt bin ich mal gespannt, wie es morgen weiter geht. Wo ich arbeiten werde. Meine Epilepsie – Zusammenfassung ist gerade so pünktlich fertig geworden und abgeheftet, heute wollte ich eigentlich Teile daraus nochmal lesen und nochmal etwas zum Thema Polyneuopathie und Kopfschmerzen.
Die ganze Sache bereitet mir zumindest schlaflose Nächte. Das ist eine Katastrophe seit Freitag. Ich halte Euch auf dem Laufenden. Was hier ab morgen so losgeht.

Epilepsie - Zusammenfassung. Punktlandung.


Mondkind

Bildquelle erstes Bild: Pixabay

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