Mondkind - Rettungsaktion


Freitagfrühs um vier. Das hat keinen Sinn mit dem Bett. Das Hirn dreht sich.
Also aufstehen. Rekapitulieren. Schreiben. Und später weiter schlafen. Vielleicht.

Donnerstag.
Ich sitze in der Notaufnahme, in der es noch ruhig ist. Der Oberarzt steckt den Kopf zur Tür herein.
„Mondkind, ein Gefühl sagt mir, dass Du nächste Woche doch auf der peripheren Station bist…“
„Aha… - und wann wird aus einem Gefühl ein Plan?“, frage ich.
„Montagmorgen…“, entgegnet er.
„Nee komm, jetzt ehrlich“, sage ich. „Du wirst mir doch wohl bis spätestens heute Nachmittag sagen können, wo ich Montag arbeite…“
„Nein Mondkind, kann ich nicht. Du kommst Montagmorgen hierher in die Notaufnahme und dann schauen wir mal wie voll die Stationen sind und wo wir Dich hin stecken…“
„Das ist nicht Dein Ernst. Ich muss doch Sonntagabend wenn ich ins Bett gehe wissen, worauf ich mich gedanklich einstellen muss…“ (Eine Katastrophe wird es ohnehin. Entweder periphere Station mit absoluter Personalknappheit und ohne Einarbeitung oder Notaufnahme ohne Oberarzt...)
Er schaut mich mit dem Blick an, der keine weiteren Diskussionen zulässt. Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, an dessen Augen man so sehr die Stimmung ablesen kann, wie an seinen.
„Ist okay…“, sage ich.
„Mondkind ich kann nichts dafür, dass wir die Klinik mit der Hälfte des Personals fahren müssen, aber auf unseren Stationen mittlerweile fast wieder Normalbetrieb läuft…“

Die Frühbesprechung verbringe ich heute wieder mehr am Telefon vor der Tür, als im Besprechungsraum auf meinem Platz. Deswegen gehe ich auch so ungern hin.

Relativ früh an diesem Morgen kommt ein Patient mit Notarztbegleitung. Er hat eine Überdosis Medikamente eingeschmissen, dazu noch ein bisschen Alkohol und jetzt hat er mehrfach gekrampft. Das EEG sieht durch die Medikamente katastrophal aus und während sich neurologische und internistische Chefs noch darum streiten, wer den Patienten jetzt auf die Intensivstation nehmen muss, legt der Patient in unserer Notaufnahme noch einen Krampf hin.
Und ich… - halte diesen Fall kaum aus. Denn irgendwie bin ich mir gerade nicht so sicher, ob ich die nächste Woche noch erleben will. Ob nicht dieses Wochenende einfach ein Ende sein kann. Dieses Chaos im Job, die Tatsache, dass da jetzt doch so viel endet; auch privat. Muss man das mitmachen…? Aber ich habe so Angst, dass das genauso endet, wie bei diesem Patienten. Ich bin mir nicht sicher, ob das echt reicht, was ich hier habe. Und so wie bei diesem Menschen… - so soll das nicht enden.

Und bevor ich überhaupt so richtig nachdenke, schreibe ich Herrn Therapeuten eine Mail. (Frau Therapeutin fällt an dieser Stelle raus – zum Einen werde ich bis 16 Uhr nicht raus sein aus der Notaufnahme; zum Anderen ist diese Thematik mit ihr ganz schwer zu besprechen). Ich frage, ob er nicht am Abend nochmal kurz Zeit zum Telefonieren hat. Ich weiß auch nicht, was das werden soll. Ich kann ihm auch über die Ferne nicht erklären, dass der vage Plan war, das Wochenenende nicht zu überleben. Mir da allerdings gerade so meine Zweifel kommen, wo ich den Patienten heute Morgen in der Notaufnahme gehabt habe, der genau das erlebt hat, das ich nicht erleben will. Aber vielleicht… - können wir ja trotzdem etwas retten.
Das ist wohl der „Mondkind – Überlebensinstinkt“, der da wieder anspringt. Das habe ich schon häufiger beobachtet, wenn es eng wird.
Er hat sogar Zeit. 18 Uhr, sagt er.

Die Notaufnahme läuft mittlerweile fast wieder auf Normalbetrieb. Gegen 15 Uhr wird es mal ein bisschen ruhiger und ich bete inständig, dass es bis 16 Uhr noch ruhig bleibt – dann könnte ich versuchen, spätestens 17:30 Uhr zu gehen und zu Hause telefonieren.
Aber um 15:30 habe ich innerhalb von 30 Minuten vier neue Patienten. Das wird wohl nichts. Es ist 17:30 Uhr bis klar ist, dass zumindest einer der Patienten nach Hause geht. „Mondkind, der will auf seinen Brief warten – schreibst Du den bitte noch kurz“, sagt der Oberarzt. Ich glaube, ich sehe ihn entgeisterter an, als ich das wollte. Der Plan war doch, mir zumindest noch ein paar Gedanken zumachen, wie ich das Telefonat aufziehen kann. „Kann ich das nicht später machen…? Ich muss doch zumindest mal kurz was essen…?“, frage ich. (Das muss ich wirklich – ich habe seit 7 Uhr nicht mal etwas getrunken…) Der Oberarzt seufzt theatralisch. „Mondkind…“, setzt er an. „Ist okay, ich mache das noch schnell…“, lenke ich ein. Haue in die Tasten, gebe den Brief fast genau 18 Uhr dem Patienten und bin noch auf dem Flur, als das Telefon mit einer externen Nummer klingelt. 



Herr Therapeut in der Leitung.
Und was machen wir jetzt… ? Wie soll ich das erklären, dass ich ihn heute ganz dringend brauche… - ich beschließe das jetzt alles nicht so eskalierend zu starten.
Rede von Enden. Möglichen Enden. Unsicherheiten. Wo ich jetzt arbeite. Wie es jetzt mit dem Menschen wohl weiter geht, der hätte Bezugsperson werden sollen. Und der jetzt erstmal Urlaub hat, von daher kommt man da in den nächsten Wochen gar nicht weiter. Und weil es mich alles so überfordert, arbeite ich im Moment wie eine Verrückte – das lenkt ein bisschen ab – oder breche am Wochenende regelmäßig zusammen. Dazwischen gibt es nichts.
„Frau Mondkind – jetzt in Zeiten von Corona kommt das schonmal vor, dass man im Supermarkt nicht alles bekommt, was man gern hätte. Was machen Sie denn, wenn Sie in den ersten Supermarkt gehen und es da keine Nudeln gibt…?“, fragt der Herr Therapeut. „Na ich gehe in den nächsten Supermarkt…“, erkläre ich. „Genau und was machen Sie, wenn das mit der potentiellen Bezugsperson nicht funktioniert…?“ Na der Vergleich hinkt jetzt aber. Bezugspersonen sind ja keine Nudeln… „Naja… - das erfordert ein paar zwischenmenschliche Voraussetzungen. Die findet man nicht an jeder Straßenecke…“, sage ich.
Und dann hinterfrage ich nochmal laut, ob das alles wirklich so am Ende ist, wie mir das vorkommt. Oder, ob ich mehr Sicherheiten brauche, als man das so vermutet. Ob ich – weil ich mich generell nur als Belastung empfinde – immer wieder die Bestätigung brauche, auch wirklich nicht „zu viel“ zu sein. „Ich habe da mal kürzlich nochmal etwas versucht“, erkläre ich. „Wir wollten eigentlich noch etwas besprechen und da es im Moment auf der Station auch extrem stressig ist, habe ich ihm gesagt, er soll sich abends mal melden, wenn er durch mit dem Tag ist. Ich bin ja mit der Dokumentation von der Notaufnahme auch immer länger da. Da kann er sich ein Gespräch auch mal so legen, wie es ihm besser passt und ich stehe nicht immer in seinem Büro, weil ich noch irgendetwas will. Und am Ende… - ist einfach nichts passiert. Das ist halt schon extrem einseitig alles und ich komme mir auch echt blöd vor, dass ich da immer ankommen muss…“
Man weiß es nicht. Weil es klärende Gespräche da eben nie gegeben hat. Und das ist jetzt auch das allergrößte Problem. Wie kann ich etwas loslassen, von dem ich nicht weiß, ob es wirklich das Ende ist… ? Ob das vielleicht auch nur ein bisschen meine Angst ist…?

Irgendwann geht es nochmal um die Klinik. „Ich werde einen Teufel tun und das für Sie entscheiden“, sagt der Therapeut dazu, aber wenigstens lässt er sich auf eine Diskussion darüber ein. „Was soll ich denn machen…?“, frage ich. „Ich weiß, dass es rational die richtige Entscheidung ist, weil das so einfach nicht mehr geht. Ich kann echt nicht mehr. Aber vom Gefühl her ist es einfach falsch und ich glaube, ich halte diese Entscheidung nicht aus in Verbindung damit, dass es mein ganzes Umfeldangefangen beim Oberarzt und aufgehört bei den Eltern - ebenfalls für falsch halten wird und sie mich das auch alle spüren lassen werden…“ Der Therapeut rät dazu, mich nochmal mit dem Thema „emotionale Beweisführung“ zu beschäftigen. Nur, weil es sich falsch anfühlt heißt das nicht, dass es falsch ist.
Ich weiß es nicht… - ob ich die Einzige bin, die dieses Dilemma hat. Was macht man denn, wenn der Kopf lieber sterben will, als nochmal in die Klinik zu gehen, weil es einfach das ultimative Versagen ist…? Das ist so dieser Punkt, an dem ich immer und immer wieder scheitere.

Und trotzdem postuliert der Herr Therapeut nochmal, dass es eine medizinische Indikation gibt. Und schließlich nimmt man Menschen mit Herzinfarkt oder Schlaganfall auch ohne Diskussion auf, weil die Menschen nun mal krank sind. Da ist alles andere zweitrangig. Und niemand interpretiert einen Herzinfarkt als persönliches Versagen. Dass psychische Erkrankungen so auf dem Abstellgleis stehen, ist ein gesellschaftliches Problem und ich habe nun mal das Pech, dass ich genau so etwas habe.

An irgendeiner Stelle sagt er plötzlich mit ziemlicher Deutlichkeit: "Frau Mondkind, wer hat gesagt, dass Sie nie wieder arbeiten gehen werden...?" Eigentlich gar niemand. Es geht nur um eine Pause von wenigen Wochen und im Mondkind - Katastrophenhirn geht schon wieder ganz anderes vor. Es ist nicht so schlimm. Eigentlich ist es das nicht mal wert, dass wir uns seit Januar um die gleiche Frage drehen. Das hätte alles schon längst durch sein können. Wird mir mal so klar. Das ist doch keine Lebensentscheidung. Da hat Herr Therapeut das katastrophen- und schwarz - weiß - denkende Hirn mal wieder erwischt und mir vor Augen geführt.

Am Ende kommen wir nicht so wirklich zu einer Lösung. Das ist bei den Voraussetzungen des Gesprächs auch irgendwie schwierig, muss man ehrlich sagen. „Kann ich Sie ruhigen Gewissens nach Hause gehen lassen?“, fragt er.
„Sie wissen schon, dass Sie 400 Kilometer weit weg sind“, denke ich mir. Wie gern würde ich einfach mal sagen: „Nee, man kann mich gerade nicht alleine lassen“. Aber ich habe auch eine Verantwortung gegenüber anderen Menschen.
„Ich hoffe es…“, entgegne ich stattdessen. „Frau Mondkind, ich kann hier von der Ferne aus nicht viel machen…“, sagt er. „Ja, das ist das Problem“, antworte ich. „Alle sind weit weg und wenn es am Wochenende knallt, dann ist das so…“, sage ich. Und langsam versteht glaube ich auch er, was hier gerade Sache ist. „Frau Mondkind… - dann machen Sie es wenigstens dafür, dass wir uns in zwei Wochen sehen“, erklärt er. Und vielleicht ist das gerade der rettende Satz.
Er meinte, dass es in der Woche extrem eng bei ihm ist und er nicht versprechen kann, dass er mich da unter bekommt, aber er versucht seinen Wochenplan für die übernächste Woche in der nächsten Woche schon zu machen, damit er mir etwas dazu sagen kann. Bis jetzt war ich mir nicht so sicher, ob ich fahre, aber wenn er mit so viel Aufwand extra eine Lücke schafft…
Irgendwie hoffe ich ja doch, dass irgendwer – wenn ich schon mal da bin – die Not dahinter sieht. Und einfach mal kurzen Prozess macht. Wie die Psychiaterin damals beim ersten Klinikaufenthalt. Vielleicht ist das die einzige Chance, die ich habe. Ob das nun Herr Therapeut ist, oder Frau Therapeutin, bei der ich auch vorbei wollte, wenn ich einmal da bin oder bei einem Vorgespräch, das man vor dem Klinikaufenthalt wohl führen müsse und das ich schonmal anbahnen könnte, wie Herr Therapeut vorschlägt, ist mir eigentlich egal.
Wobei mich glaube ich schon ein verbindlicher Aufnahmetermin ein bisschen retten würde. Ein definitives Ende mit Datum für diesen Wahnsinn. Dann könnte ich auch noch durchhalten, bis das Krankenhaus personaltechnisch wieder auf Normalbetrieb läuft. Im Moment darf ja eigentlich keiner fehlen. Und irgendwie kann das Krankenhaus halt auch nichts dafür unwissentlich eine psychiatrische Katastrophe eingestellt zu haben.

Nach diesen Telefonaten habe ich trotz aller Zweifel dennoch meist ganz kurz das Gefühl, dass ich mich vielleicht doch irgendwann nochmal freiwillig für die Klinik entscheiden kann. Weil es doch so sinnvoll ist. Rational. Und selbst der Herr Therapeut meinte, dass ich dann ja zumindest schon mal einen Therapeuten habe, der mich kennt. Und Schematherapie hat mir nun mal geholfen. Wieso soll man das nicht nochmal versuchen? Wieso sollte ich nicht das Recht haben zu versuchen, das Leiden zu verringern? Und all die Menschen mit ihrem Gerede – jedenfalls die meisten von denen – haben eben nicht mit Ängsten und schweren Depressionen ein Leben geführt, das nach außen hin aussieht, als seie einfach nichts. Und dann noch Unverständnis gespürt, wenn es mal nicht mehr so lief.
Eine bessere Chance werde ich so schnell nicht mehr bekommen. Dass das Team mich schon kennt (und mich zumindest einige da aus irgendwelchen Gründen echt schätzen), ist so super viel wert.

Auf jeden Fall hat dieses Gespräch die Situation jetzt doch erstmal deeskaliert. Weiter sehen. Durchhalten. Bis ich dann vor Ort bin. Und dann weiter überlegen. Mit ganz viel Ehrlichkeit auf allen Seiten. Und wo ich ohne diesen Therapeuten heute streckenweise wäre, wüsste ich ehrlich gesagt auch nicht. Ein einfaches „Danke“ am Ende des Telefonats reicht dafür eigentlich auch nicht mehr; ist irgendwie viel zu wenig für diesen ganzen Einsatz.

Mit offenen Augen auf die Arbeit gehen... - das hat auch etwas mit Achtsamkeit zu tun...

Es ist nach 21 Uhr, als ich die Tür hinter mir zuziehe und auf dem Weg nach Hause bin. Den Berg hinab laufe und mit dem Fahrrad durch die Wiesen fahre. Und wenn ich so in mich hinein spüre… - dann ist es trotz aller Katastrophen immer noch ein Stück zu Hause hier. Ich glaube, ich habe diesem Ort hier sehr viel Vorschuss gegeben. Sehr viel Heimat postuliert, bevor es überhaupt so etwas wie ein zu Hause war. Hier habe ich die ersten guten Erfahrungen seit Jahren gemacht; damals im ersten Praktikum. Die ersten Sicherheiten. Und wenn man irgendwo ganz dringend etwas wie Halt brauchte, dann hält man einfach fest und hofft. Dass es sich findet. Auch, wenn es noch nicht passt.

Ich weiß auch nicht, wann „mein“ Oberarzt und ich das nächste Mal etwas voneinander hören werden. Und vielleicht kann man ein bisschen Trost in dem Gedanken finden, dass – egal wie das eines Tages enden wird (oder schon endet) – dieser Mensch auch für so viel nachhaltig positive Dinge gesorgt hat. Er war der erste Mensch in einem – zumindest semiprivaten Umfeld – der wirklich an mich geglaubt hat. Zu dem ich ein bisschen aufschauen konnte, der mich ein bisschen durch die Dunkelheit geleitet hat. Der mit mir die Vision von einer Zukunft gemalt hat. Der zumindest streckenweise neben mir seine Fußspuren im Sand hinterlassen hat, ganz nah dran war, ganz viel Sicherheit vermittelt hat. Der zwischenzeitlich mal von einem „wir“ geredet hat, als würde man in näherer Zukunft irgendwo hin gehören. Der mich allein dadurch, dass er gedanklich da war, ein bisschen über die Zeit getragen hat. Der mich als Menschen akzeptiert hat, trotz der psychischen Schwierigkeiten. Der erste Mensch, bei dem die Maske fallen durfte. Und er wird für immer der Mensch bleiben, dessen Worte mich über das Examen gezogen haben. Und immer der Mensch bleiben, der der Erste war, mit dem ich nach dem Examen gesprochen habe. Der als Erstes wusste, dass es bestanden ist.
Egal wie das eines Tages endet – was war, wird bleiben. Und nicht weniger wertvoll werden. Und dankbar werde ich ihm immer sein. Auch, wenn es am Ende nicht reicht.

Allen Lesern wünsche ich einen schönen Feiertag und ein schönes Wochenende!
Mondkind

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