Neue Station und Psychiatrie - Pläne


Die erste Woche auf der neuen Station ist geschafft. Naja… - noch nicht ganz. Ich habe meine Arbeit gestern nicht geschafft und muss Sonntag nochmal hoch, um ein Video – EEG zu Ende anzuschauen, einen Brief zu schreiben und ein bisschen administrativen Kram zu machen. Aber ich war gestern Abend irgendwann nicht mehr in der Lage…

„Mondkind, Du weißt doch wie das geht…“, hat eine Kollegin diese Woche mehrfach mit einem dezent vorwurfsvollen Unterton gesagt. „Du hast doch hier PJ gemacht…“
Ja, habe ich. Und irgendwann meinen Oberarzt gebeten, mich von der Station zu nehmen, weil ich mit dem Chaos nicht mehr zurecht kam. So richtig rund lief es da nie. So richtig habe ich die Abläufe nie verstanden. Weil man vermutlich damit leben muss, dass es keine festen Abläufe gibt und dass man das vergessen kann, sich einen verbindlichen Tagesablauf zu basteln. Der wird minütlich torpediert und so wirklich kann man sich erst sortieren, wenn die Oberärzte nach Hause gehen. Auch mit dem Geplapper im Büro, komme ich nicht zurecht. Im PJ habe ich ein ruhigeres Büro bekommen; das geht jetzt nicht mehr.

Ein bisschen fühlt es sich an, als habe ein ganz neuer Lebensabschnitt angefangen. Der auch ein kleines bisschen was von Gestern hat. So richtig „Krankenhausatmosphäre“ hatten die Normalstationen im Altbau ja nie – und es ist schön das wieder zu erleben. Die Zimmer haben Farbe, die Patienten sitzen in den Aufenthaltsbereichen im Rondell und abends hört man, während man noch im Arztzimmer sitzt, das Besteck klappern und danach ganz dumpf die Stimmen von Menschen, die sich unterhalten. Und… - fühlt sich da nicht so alleine. Und wenn irgendwann die Seelsorge wieder aktiv wird, hört man vielleicht auch wieder Gitarren- und Klavierklänge im Arztzimmer. Die Kollegen fanden das immer sehr nervig – ich fand das immer ganz nett.
Dafür spielen alle Krankheitsbilder, die in den letzten sieben Monaten wichtig waren, nur noch eine marginale Rolle. Und… es gibt viel Neues zu lernen. Sehr viel. Zum dritten Mal innerhalb von sieben Monaten ist man der Trottel, der keine Ahnung hat, was er tun muss. Das sind die Zeiten, in denen ich für absolut alles dankbar bin, das ich im PJ gelernt habe. Und dann… - sind es auch zwischenmenschlich neue Situationen, auf die ich mich einstellen muss. Aktuell arbeiten wir mit drei Oberärzten zusammen. Zuerst mal muss man den Richtigen anrufen und dann achte ich in den ersten Wochen immer automatisch ganz besonders auf die Zwischentöne. Einer von den Dreien – der mit dem ich wahrscheinlich am Meisten zu tun haben werde – ist schon sehr eigen. Aber man kann viel lernen von ihm…

Und jetzt mal ein paar Situationen und Gedanken von dieser Woche. 

***

Es ist Spätnachmittags. Ich wollte einen Patienten „schnell“ punktieren, aber daraus wurde nichts. Der Patient hatte Angst, ich musste lange mit ihm reden und vereinbare mit ihm, dass ich ihm alles ganz genau erkläre, wir die Untersuchung jederzeit abbrechen können und er alles tun darf, außer mit der Nadel im Rücken vom Bett zu hüpfen.
Das Ganze kostet vor allen Dingen eins – Zeit, die ich nicht habe. Aber ich muss mir sein Vertrauen eben erst erarbeiten.
Gerade, als wir es dann geschafft haben, klingelt mein Telefon. Eine Kollegin von der Radiologie ist in der Leitung, mit der ich in der Notaufnahme viel zusammengearbeitet habe. Ich freue mich immer, die mittlerweile „alten“ Kollegen zu hören und begrüße sie sehr überschwänglich.
„Also… - Sie haben ja immer gute Laune“, kommentiert der Patient nach dem Gespräch. „Aber heute sind Sie ja wirklich sehr gut gelaunt…“
Es sind immer wieder dieselben Rückmeldungen der Patienten. Die einerseits so schön sind, weil sie zeigen, dass ich meine Patienten ein bisschen emotional halten kann. Und die gleichzeitig so unglaublich weh tun. Niemand vermutet Fassaden – Mondkind. Niemand ahnt, dass ich nächste Woche auf der anderen Seite der Medizin sitze – wissend, dass es eng werden könnte, wenn ich es schaffe ehrlich über die „dunklen Ecken“ zu reden, wie „mein“ Oberarzt sie mal nannte. Er ist auch der Einzige ärztliche Kollege, der die „andere“ Mondkind kennt - also hier gerade Niemand mehr. Was auch gut so ist; mehr Menschen möchte ich nicht involvieren. (Gerade arbeite ich auch mit einer Kollegin im Team, die schon Fachärztin für Psychiatrie ist und ich muss mich immer wieder erinnern, dass die nicht den "emotionalen Röntgenblick" haben. Es steht mir nicht auf die Stirn geschrieben und selbst viele Psychiater haben mich nicht ernst genommen. Da muss ich mir keine Sorgen machen; Stabilität vorgeben kann ich gut).

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Arztzimmer. Kurzes Gespräch mit einem der Oberärzte.
„Mondkind, Du hast für jede Visite mit Deinen Patienten fünf Minuten. Was man den Patienten in fünf Minuten nicht sagen kann… - da läuft irgendetwas falsch…“
„Naja, es geht ja aber nicht um einen Monolog seitens des Arztes. Was soll ich denn machen mit den alten Omis, die so viel Redebedarf haben? Natürlich interessiert mich nicht, wer sich jetzt um die Katze kümmert, oder gerade Kopfschmerzpatienten neigen oft zu Grübeleien, die sie mir denn vortragen.  Ich versuche die Patienten schon auch zu lenken, aber man kann die ja nicht nach jedem zweiten Satz unterbrechen…“
„Mondkind wir sind hier nicht in der Psychotherapie. Wenn die Patienten ein organisches Leiden haben, dann kann man das in fünf Minuten besprechen und für den Rest haben wir keine Zeit. Dann sollen die Patienten das mit einem Psychologen besprechen. Wir machen hier ja auch psychosomatische Konsile…“
Ich weiß noch nicht, wie sehr man hier mit den Oberärzten diskutieren kann. Und irgendwie muss ich meine Arbeit schaffen und am Zeitmanagement arbeiten. Ich kann nicht jeden Abend bis 20 Uhr in der Klinik sitzen und mich am Wochenende der liegen gebliebenen Arbeit widmen. Aber das finde ich doch… - engstirnig. Es gibt nicht nur entweder Psyche oder Somatik. Beides geht Hand in Hand - gerade bei den chronisch erkrankten Patienten - und irgendwie liegt mir viel daran, den Patienten auch menschlich ein bisschen Halt und Entlastung anbieten zu können. Es gibt auch Patienten, die brauchen das nicht. Aber für Viele ist es allein eine Verunsicherung, überhaupt im Krankenhaus zu sein.
Manchmal glaube ich, ich bin doch etwas zu idealistisch für diesen Job…

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Ich sitze auf der Intensivstation im Büro des Oberarztes, der mit mir zusammen die Epilepsiepatienten betreut. Das erste Video – EEG wollen wir uns mal zusammen anschauen. Ich komme mir gerade vor, wie die größte Idiotin auf diesem Planeten, weil ich scheinbar einfache Fragen zur Montage der Elektroden nicht beantworten kann. Er hat sich eine Stunde Zeit für mich genommen und malt sogar ein Tafelbild. (Also so weit möchte ich mit Anfang 30 auch mal sein… )
Und irgendwann kommt so völlig unvermittelt: „Also Mondkind, das ist ein bisschen schade. Ich sehe, Du hast das mit der Epilepsie sehr ernst genommen und Dich viel damit beschäftigt. Ich hätte das wirklich gern mit Dir gemacht. Ich bin noch bis Mitte Juli da – bis dahin müssen wir das hinbekommen, dass ich Dir noch etwas beibringe. Und dann werden Du und [der Kollege] sich um die Epilepsie kümmern müssen. Wer oberärztlich für Euch zuständig sein wird, müssen wir noch klären – im Moment will es keiner machen.“
Das bedeutet dann also, dass der Kollege und ich in anderthalb Monaten diejenigen werden sollen, die unter den Assistenten die Ansprechpartner für EEGs werden. 

Neuer Schreibtisch. Und ja, ich muss da mal ein "vernünftiges" Neurobuch hinstellen. Hab schon einen Rüffel vom Oberarzt für ein KURZlehrbuch bekommen...


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Ansonsten habe ich mich nach langer Überlegung dazu durchgerungen, ab Montag in die Studienstadt zu fahren. Man muss ehrlich sagen – finanziell ist das  ein Desaster. Es wird eben doch Zeit fürs Auto. Aber ich hätte es vermutlich auch bereut, es nicht zu tun. Und mit der aktuell wahnsinnig instabilen Stimmungslage eine Woche alleine zu Hause – ob mir da nicht die Sicherungen durchgeknallt wären – ich weiß es nicht.
Es wird eine Zeit werden, die emotional anstrengend wird. Es wird viel um Erinnerungen gehen. Erinnerungen aus dem Gestern, Erinnerungen für das Morgen und zwischendurch mal den Freunden signalisieren: „Hey, übrigens: Es gibt mich noch. Vielleicht… - vergesst Ihr mich einfach nicht…“
Der Herr Therapeut hat jetzt doch ein bisschen mehr Zeit freigeschaufelt und bei Frau Therapeutin schaue ich auch vorbei. Irgendwie freue ich mich darauf, auf einem Gelände unterwegs zu sein, das auch so viel Sicherheit vermittelt hat. Die Mauern der Psychiatrie haben immer auch eine Mauer um die fragile Mondkind – Seele gebaut, sodass da mal Kraft für Anderes war. Für einen begrenzten Zeitraum sichere und feste Bezugspersonen. Mitpatienten, die einen ohne Worte verstanden haben, weil die Endstrecke des Gefühls trotz der unterschiedlichen Biographien manchmal dieselbe war.
Und gleichzeitig ist da auch Angst. Schon früher sind diese Termine bei Psychologen oder Psychiatern immer etwas wie ein Wegpunkt gewesen. Zeit, um mal kurz zu reflektieren, den Kopf aufzuräumen, Gedankenschleifen mit anderen Ideen und unterbrechen und vielleicht in eine andere Richtung zu lenken. Jetzt habe ich es nach rund fünf Monaten relativ kurzfristig fast geschafft. Und wenn man persönlich da ist, reden kann ohne hunderte Kilometer Distanz dazwischen, dann steht da immer die Frage im Raum: Wie kann es weiter gehen? Was ist sinnvoll? Wie ehrlich kann man sein? Und was ist überhaupt ehrlich? Manchmal weiß ich das selbst nicht mehr. Ich kann diesen Job ja irgendwie. Zwar merke ich zu jeder Sekunde des Tages, dass das Wasser mir bis zum Hals steht und die Tage beginnen immer mit Tränen und Angst, aber es geht ja irgendwie. Ich bin noch nicht zusammen gebrochen auf der Arbeit. Und gleichzeitig ist das Leben das ich führe, das absolute Limit, aber immer noch nicht das Ende der Fahnenstange. Man kann sich noch nicht ausruhen und sagen: Schlimmer wird es nicht mehr. Jeden Monat mehr Herausforderungen. Bald kommen die Dienste noch dazu. Und irgendwie ist das fast interessant von außen anzuschauen, wenn es nicht um so viel gehen würde. Wenn wir noch etwas auf diese fragile Mondkind obendrauf packen: Wie viele Kisten kann sie noch tragen, bevor sie darunter zusammen bricht…? Und… - kann das das Leben sein? So viel Energie für ein nach außen hin normales Funktionieren verbrauchen, dass da nichts mehr bleibt für etwas wie ein Leben? Und immer die Angst im Hintergrund wann der Tag kommt, an dem die Sicherungen durchbrennen…? Das kann unvermittelt kommen. Innerhalb weniger Stunden kann aus „Es geht ganz gut gerade“, eine absolute Krisensituation werden. Das hat der Seelsorger jetzt schon mehrfach durch mit mir.

Und dann… - ja, wie wird es sein, wieder auf Straßen unterwegs zu sein, auf denen vor Monaten noch so viel Hoffnung lag? Der Herr Therapeut und ich wollen uns in seinem Büro treffen. Das letzte Mal war ich dort in Klinikzeiten – als ich im Dezember mal da war, waren wir in der Cafeteria.
Für nahezu Keinen aus dieser Familie haben sich die zwischenmenschlichen Hoffnungen von vor sieben Monate erfüllt – ich bin da nicht alleine. Meine Mutter ist aus dem Norden zurück in die Nähe der Studienstadt gezogen, habe ich gehört. Meine Schwester bleibt im Norden wegen der Arbeit, obwohl die Mutter da nicht mehr ist. Und ich… - ich bleibe vorerst wohl im Süden, auch wenn es hier zwischenmenschlich auch nicht so geklappt hat, wie es sollte.
Ich kann mich erinnern, wie weh das getan hat damals zu Klinikzeiten die letzte Stunde beim Therapeuten im Büro zu sitzen und zu wissen, dass er mich jetzt raus in die Welt schickt. Mit allen guten Wünschen und allem, was er mir mit auf den Weg geben konnte. Wie ich so sehr gehofft habe und zeitgleich die Angst meinen Rücken hoch kroch, sich auf meine Schulter gesetzt und gefragt hat: „Mondkind, was machst Du, wenn es nicht klappt? Irgendwo in der Ferne, wo Dich keiner halten kann? Wenn der Schuss in den Ofen geht… - hast Du einen Plan, wie Du das händelst…?“
Nein, hatte ich nicht. Hatte ich nie. Aber… - ich lebe noch. Trotz allem. Ein kleinesWunder. Und ein bisschen frage ich mich: Was wird passieren, wenn ich Monate später wieder in diesem Büro sitze? Werde ich genug Selbstbeherrschung haben, um zu sagen: „Naja, die Situation ist schwierig, aber vielleicht nicht so schlimm…“ Auch, um den Herrn Therapeuten ein wenig zu schützen. Wenn er mir schon quasi in seiner Freizeit eine Stunde Zeit einräumt (oder wie viel nun auch immer), sollte man sich vielleicht auf seichte Updates beschränken und kein Drama daraus machen. Oder werde ich – mit der aktuellen Situation und dann auch noch mit den Erinnerungen und Hoffnungen ans Gestern, die dann so präsent sein werden – endgültig auseinander fallen, wenn ich den Rahmen dafür habe und wir mal nicht hunderte Kilometer auseinander sitzen. Und was passiert dann? Sterben kann ich schon mal nicht daran, auch wenn es wahnsinnig weh tun würde – das ist immer der Vorteil gewesen, wenn so etwas im professionellen Rahmen passiert.

Irgendwie gibt es zwei Leben.
Das Mondkind – Assistenzärztin – Leben, das ich eigentlich jetzt nicht an den Nagel hängen kann. Wo das mit der Epilepsie so wichtig ist und es ohnehin blöd ist, auf der neuen Station erstmal Urlaub zu haben, wo ich mich doch einarbeiten muss. Und der Oberarzt uns bis Mitte Juli noch so viel beinbringen muss und ich im Mai nur noch wenige Tage arbeite.
Und auf der anderen Seite das Mondkind – Kopfchaos – Leben. Dem man einfach den Wind aus den Segeln nehmen könnte, wenn man dem Hirn ein emotionales zu Hause geben könnte. Aber solange das nicht geht, wird dieser Teil mir mit regelmäßigen Abständen auf die Barrikaden gehen.
Und so gern ich mich auch einfach für das Mondkind – Assistenzärztin – Leben entscheiden würde und den Kopf einfach unbeachtet brüllen lassen würde – so einfach ist das nicht. Es wird immer wieder laut werden, wenn ich mich einfach nur an die Professionalität klammere.
Und dann ist es, wie so oft im Leben. Wenn ich so einfach könnte, würde ich mein Assistenzarzt – Leben leben. Aber da habe ich die Rechnung ohne das Gefühl gemacht. Und der Versuch beides unter einen Hut zu bekommen – den Kopf zu beruhigen, indem ich das Problem für ihn nicht mit der „echten“ Familie, aber mit einer „Behelfsfamilie“ löse und mich damit doch für das Arztleben entscheiden kann, hat bisher nicht funktioniert. (Ich habe da diese Woche nochmal versucht ein Statement zu dem Thema zu bekommen – ein letzter Versuch um zu wissen, wo ich stehe, bevor ich in die Studienstadt fahre, aber das war nicht erfolgreich). Es war einer der guten, konstruktiven Pläne in meinem Leben – zumindest befinde ich das. Aber jetzt muss man sich der Realität stellen. Und vorsichtig fragen: Wie geht es weiter, wenn Plan A nicht funktioniert und Plan B nie existierte?
Aufgabe für Dienstag.

Mondkind

P.S. Ich würde übrigens gern ein Reisetagebuch schreiben, aber ich weiß noch nicht, ob das in Anbetracht der Corona – Lage falsch aufgefasst werden könnte. Es geht ja weniger um die Reise. Es geht einfach darum, dass ich mal einen Therapeuten im direkten Kontakt brauche und das geht aktuell nun mal nur so.

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