Von Ausflügen und dem Wesen von Entscheidungen


Ab morgen früh bin ich hier wieder alleine. Meine Schwester und die Schweinchen brechen wieder auf in Richtung des Nordens.
Es reicht langsam aber auch. Ich weiß es nicht… - seitdem ich durch bin mit der Anorexie – Geschichte (zumindest gewichtstechnisch betrachtet) und meine Schwester eher im Gegenteil, immer weiter rein rutscht, ist das alles ganz anstrengend. Im Prinzip ist das ein 24/7 – Trigger und ich weiß nicht, wie oft ich sie einfach an die Wand klatschen könnte und mich immer wieder erinnern muss, dass sie auch nichts dafür kann.
Ein bisschen frustrierend ist eben auch die Beobachtung, dass man mit ihr schon anders umgeht. Auch in der Familie. Man würde sie nie so alleine lassen, wie mich. Meine Mutter fragt ständig nach, wie es ihr geht. Zwar sind „Anorexie“ oder „Magersucht“ natürlich Unwörter, weil sie eine Krankheit suggerieren und man ja schließlich nicht krank zu sein hat, aber man hält trotzdem ein bisschen schützend die Hand über sie in allen möglichen Lebensbereichen. Und manchmal ist er da einfach wieder, ganz leise. Dieser Gedanke: „Mondkind, vielleicht musst Du das auch so machen. Vielleicht musst Du das Chaos nach außen hin sichtbar machen. Vielleicht fangen dann die Menschen an, Dir zuzuhören…“ Obwohl ich diese alte Disziplin mit einer eigenen Küche und Kollegen, die einen natürlich mit in die Kantine schleppen (und sofort fragen was ist, wenn man nicht mitkommt), nie wieder an den Tag legen könnte.

Wir haben noch ein paar Ausflüge gemacht.
Am „Wandertag ins Umland“ ging es mir körperlich eigentlich erstaunlich gut, von daher gab es da tatsächlich gute Momente. Ich liebe diese Gegend hier so sehr. Gerade in Tagen wie diesen, in denen der Kopf einfach nur explodiert, könnte ich stundenlang durch die Landschaft wandern und einfach nur sortieren. Mich von Zeit zu Zeit in Gras setzen und Erkenntnisse verschriftlichen, damit sie nicht wieder verloren gehen bis ich dazu komme, sie schwarz auf weiß zu verewigen. 





Dann waren wir heute noch in einem kleinen Kurort. Das war aber für mich psychisch und körperlich gar kein guter Tag und dementsprechend anstrengend – auch, weil der Ort sehr voll war.
Wenn ich mich mit meiner Schwester vergleiche, merkt man die geringe Belastbarkeit doch sehr deutlich. Ich glaube, sie hat absolut kein Problem damit, jeden Tag woanders herum zu springen. Und obwohl wir gar nicht jeden Tag unterwegs waren, bin ich jetzt einfach urlaubsreif. (Wobei natürlich die berechtigte Frage ist, was mir denn dabei helfen könnte, die Energiespeicher zu füllen. Zu Hause versacken ist auch keine gute Idee…)


 






An der Wohnung ist übrigens nichts passiert in der Woche. Leider. Wir waren in sämtlichen Möbelhäusern im Umkreis, aber ich habe mir da ein Konzept ausgedacht für die Wohnung, das etwas schwierig umzusetzen ist. Alle Stücke, die gepasst und mir gefallen haben, waren nicht vorrätig und hätten bestellt werden müssen. Mit selbstverständlich unterschiedlichen Lieferzeiten. Ich bin tagsüber natürlich nicht daheim und zum Abholen bräuchte man ja ein Auto, das ich nicht habe. Man könnte wen fragen, aber dann müsste ich ja schon wieder Leute mit meinem Krempel behelligen. Das wäre organisatorisch und zwischenmenschlich sehr viel Zusatzstress – deshalb bleibt hier vorerst leider alles beim Alten. Es funktioniert ja. Ich habe seit 8 Monaten ein Bett, einen Schreibtisch mit einem Stuhl, die Küche (seit noch nicht ganz acht Monaten) und das Sofa vom Vormieter, auf dem man zumindest sitzen und schreiben oder essen kann. Und zu mehr komme ich ohnehin nicht.

***
Ein paar Worte zum Mai…
Ein Monat neigt sich dem Ende, der dieses Jahr extrem anstrengend war. Die Grenzen waren und sind erreicht – so viel ist klar. Und der permanente Versuch war eigentlich, dass das Helfersystem zumindest so viel trägt, dass mit Hilfe dessen die Entscheidung für die Klinik getroffen werden kann. Geklappt hat das nicht. Ich habe versucht, die Knoten in meinem Kopf, die mich an der Entscheidung hindern, auf den Tisch zu legen. Aber am Ende war es doch so, dass diese Suche nach Hilfe wie ein Boomerang wieder bei mir gelandet ist. Und jedes Mal ein Stückchen mehr Hoffnung mitgenommen hat, dass ich das lösen kann. Letztendlich auch in Frage gestellt hat, wie lange das Helfersystem überhaupt noch existent sein kann. Wenn ich mich nicht für die Klinik entscheiden kann, wird das alles nicht mehr lange halten. Und inwieweit das ohne Hilfe geht, kann ich nicht sagen. Im Moment kann ich es mir nicht vorstellen. „Sie können jetzt auch nicht Ihren ganzen Fall hier auf die Seelsorge ablegen, die vielleicht ein bisschen Küchenpsychologie betreibt“, ermahnte der Herr Seelsorger letztens. „Das reicht für Sie nicht. Sie brauchen mehr. Wenn es wirklich akut wird, kann ich nichts machen für Sie. Ich kann Sie nicht krankschreiben, Ihnen keine Medikamente verschreiben und einweisen kann ich Sie nur – wie jeder andere – über die Polizei. Aber ich mache mit Ihnen dennoch, was ich eben kann…“

Mit der Therapeutin hatte ich am Freitag noch ein recht interessantes Gespräch über Entscheidungen, deren Grundlagen, Tragweite und Bedeutung. Eine Entscheidung führt nicht zwangsläufig immer zum Erfolg oder zum Scheitern, zu weiß oder schwarz. Dazwischen gibt es auch noch ganz viel grau, aus dem ganz viel wachsen kann – auch Gutes. Das ich jetzt noch gar nicht sehe. Heißt also hinsichtlich Klinik: Es kann sein, dass gar nichts passiert und ich hinterher einfach weiter arbeiten darf. Es kann auch sein, dass ich den Job verliere. Das heißt aber auch nicht, dass das Leben vorbei ist. Das heißt nur, dass es anders wird. Aber es geht eben weiter. Und manchmal heißt anders nicht gleich schlecht.      
Und dann kann man Entscheidungen auch immer nur treffen aus dem, was gerade ist. Wenn es jetzt gerade akut schwierig wird und die Klinik angemessen erscheint, dann kann ich auch auf dieser Grundlage eine Entscheidung treffen. Ob sich das hinterher als „richtig“ heraus stellen wird, das kann ich jetzt noch gar nicht wissen. Ich habe ja keine Glaskugel. Und es wäre auch legitim, schon an dem Punkt aufzuhören zu denken. Ich muss mir nicht 200 Szenarien ausdenken, wie ich hinterher weiterleben kann. Und es muss auch nicht erst irgendetwas passieren, bevor ich einsehe das Recht zu haben, mich behandeln zu lassen.        
„Wie wollen Sie denn so eine Entscheidung treffen? Wenn es nur Katastrophen – Resultate in Ihrem Kopf gibt und Sie für jedes Problem vorher eine Lösung haben wollen?“, fragte sie. Tja… - das weiß ich eben auch nicht. Mondkind – Kopf eben. Damit will niemand Entscheidungen treffen und damit zumindest Jemand mittragen kann, wenn ich die Entscheidung getroffen habe - dazu war ja das Helfer – System gedacht. Und langsam rennt mir echt die Zeit weg. Mit der Wartezeit wird das – selbst wenn ich da Dienstag anriefe – noch bis mindestens Juli dauern und eigentlich weiß ich schon jetzt nicht mehr, wie ich das bis dahin machen soll. Die Therapeutin hat mich da zwar immer innerhalb von einem Tag untergebracht – wenn überhaupt – aber ich bin ja nicht die Therapeutin. Sondern nur eine äußerst inkonsequente Patientin. (Obwohl ich auch kein Problem damit hätte, übergangsweise auf einer anderen Station zu sein. Hauptsache der Wahnsinn hört auf und Hauptsache ich schaffe das noch an genau diese Klinik, was immerhin noch Kraft für eine Tagesreise durch Deutschland bedeutet).
Die letzte Klinikeinweisung jährt sich übrigens bald. Ich glaube, das wird ein ganz schwieriger Tag – auch wenn ich in der ersten Woche damals ganz viel geweint habe,  mich super unwohl gefühlt habe und kurz davor war, mich zu entlassen. Aber ich glaube, das wird immer so sein. Anfang in der Psychiatrie ist immer blöd, da darf man sich nichts vormachen. Ich wette, das wäre diesmal nicht anders.

Im Moment ist da immer noch dieses völlig verschobene Wertesystem. In dem der Job immer noch weit wichtiger ist, als die Gesundheit (und man ja im Hinblick auf die Karriere wenigstens das Neuro – Jahr voll machen sollte) und der Suizid eine bessere Lösung ist, als die Gefahr den Job zu verlieren. An diesen Argumenten komme ich einfach nicht vorbei, da renne ich immer wieder gegen dieselbe Wand. Und man kann rational wissen, dass das bescheuert ist. Und es trotzdem nicht anders hinbekommen, wenn eben niemand mitträgt. Sobald die erste Person, auf die ich mich verlassen könnte – sei es nun erstmal aus dem therapeutischen Umfeld, oder aus dem privaten Umfeld sagen würde: „Mondkind, ich weiß, dass es Dir mit dieser Entscheidung richtig schlecht geht, obwohl sie rational gesehen richtig ist. Und Du darfst mich deshalb auch noch 200 Mal anrufen, wenn Dir das Hirn gerade wieder auf die Barrikaden geht“, dann wäre die Lage schon eine andere. Aber ich muss das alleine tragen. Und die Entscheidung auch noch verteidigen gegen die Familie und den Arbeitgeber. Völliges Gegenteil sozusagen von dem, das ich bräuchte.

Ansonsten… - kriecht da seit gestern Nachmittag ein alter Bekannter hoch: Die Angst vor dem Job. Obwohl ich es genießen sollte. Der letzte Monat ohne ersten Dienst und ohne 24 – Stunden – Dienst. Allerdings sollte ich so viel wie möglich üben gehen. Hatte ich eigentlich Montag vor. Wenn mein Vater nicht den Plan dadurch torpediert hätte, dass er mittags kurz vorbei kommen möchte, um etwas abzuholen. Er hat schon zwei Mal nachgefragt, aber beide Male hatte ich wirklich Wochenenddienst. Diesmal hat er keine Wiederrede gelten lassen und schon mal gar keinen Übungsdienst (okay, das war selten dämlich von mir, so ehrlich zu sein), also muss ich wohl da sein. Obwohl er eben nur auf der Durchreise ist und sich das damit nicht mal richtig lohnt…

Und wisst Ihr, wen ich unfassbar vermissen werde…
Die beiden Meeris… 





Mondkind

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