Reisetagebuch #1 Bahnchaos


Also… - wir halten hier mal fest: Ich werde – wenn es nicht sein muss – nie, nie wieder mit der Bahn durch halb Deutschland fahren. Das geht zwar vielleicht theoretisch schneller, aber ich habe heute sämtliche Nerven auf den Schienen gelassen.

Aber von vorne: die Nacht war für mich schon nach wenigen Stunden vorbei – leider. Und als es dann halbwegs vertretbar war, bin ich mit einem Kaffee ins Wohnzimmer gezogen. Auf whatsApp trudelten die ersten Geburtstagsgrüße von den Frühaufstehern ein.
Von einer Freundin habe ich ein Päckchen bekommen, das ich heute Morgen öffnen durfte. Ein kleines Buch ist darin verpackt mit dem Titel: „Was macht man mit einem Problem?“ Letzten Endes ist die Quintessenz, dass jedes Problem erstmal ganz viel Angst macht bis hin zur Handlungsunfähigkeit, aber in jedem Problem auch eine Chance steckt, wenn man nicht davor weg rennt, sondern sich dem stellt. Da kennt die Freundin mich ziemlich gut, muss ich sagen. Da hatte ich doch erstmal ein paar Tränchen in den Augen. 




Wenig später beginnt der stressige Teil des Tages. Erstmal muss ich nochmal zum Zahnarzt. Er ist echt super lieb. Wahrscheinlich kommen die ganzen Zahnprobleme von der Fehlstellung. (Also keine Einbildung…) Dass ich das nicht operieren lassen werde, hat er jetzt erstmal so hingenommen, meint aber, dass er noch mal Abdrücke machen und sich überlegen will, ob man mir nicht erstmal mit Schienen weiter helfen kann.
Danach muss ich noch schnell in die Stadt und etwas Wichtiges organisieren (in der Zeit fängt es an zu schütten, aber ich habe zum Glück die alten Schuhe an), im Anschluss noch flott frühstücken, die restlichen Sachen zusammen packen und dann muss ich auch schon los zum Bahnhof.

Und als ich so in der Tür stehe, bereit sie hinter mir zu schließen, habe ich schon wieder Tränen in den Augen. Scheiße man. Immer noch pendeln zwischen den Welten. Ich werde diesen Ort nie los lassen können, bevor sich die zwischenmenschlichen Dinge nicht geklärt haben. Bevor es da immer noch ein bisschen Resthoffnung gibt.


Im Zug wollte ich eigentlich ein paar Dinge vorbereiten, aber dazu komme ich nicht. Der Regionalexpress in die nächst größere Stadt ist zwar noch pünktlich, aber der ICE hat eine Stunde Verspätung. Auf dem Bahnhof schüttet es, ich habe nasse Füße – ich habe mehr gefroren, als am kältesten Wintertag in diesem Jahr. Und dann merke ich immer, wie das Muskelzittern exponentiell die Energie aus meinem Körper zieht.
Der Zug häuft unterwegs so viel Verspätung an, dass er gar nicht bis zu seinem Endziel, an dem ich hätte aussteigen müssen, fährt. Und dann ist man sich auch nicht einig, wo genau er stehen bleibt. Ursprünglich war eine Stadt genannt, von der aus ich noch gut 1,5 Stunden hätte S – Bahn fahren müssen. Dann hieß es, der Zug fahre doch weiter, aber nur mit einem Abteil – dann müssen wir halt schnell umsteigen und sollen im Zug schon so weit nach vorne laufen, wie es eben geht. Also gondelten alle Passagiere mit ihrem Gepäck durch den halben Zug. Am Ende fiel ich in der Studienstadt aus dem ICE und musste von dort aus weiter mit Regionalexpress und S – Bahn in Richtung Elternhaus. Und dann… - in der letzten S – Bahn waren auch noch die Kontrolleure unterwegs, denen ich erstmal erklären musste, warum ich aus der ganz falschen Richtung komme. 



Das Elternhaus. Ganz, ganz komisch. Überwältigend.
Die Füße in dieses Haus zu setzen. In dem alle Erinnerungen in sich zusammen fallen zu scheinen und nichts als leere Hüllen hinterlassen. Normalerweise wenn man kam, quickten die Meerschweinchen. Jetzt stehen im Käfig noch die Streureste und die Hängematte – die Schweinchen sind samt meiner Schwester im Norden.
Ich betrete mein Zimmer. Mittlerweile mehr Abstellkammer, als alles andere. Morgen… - werde ich die Schneekugel verrücken. Heute lasse ich nur den Blick streifen. Über Schulordner mit Oberstufenmaterial. Ein dickes Physikbuch – mein Versuch für den Pilotentest zu lernen und ihn zu bestehen. Die Augen streifen Erinnerungen aus dem Gestern, die nie verschwunden sind. Und… - wie letztens schon postuliert, ich muss wirklich nicht lange suchen, nur ein paar Papiere zur Seite schieben, bis mir Physik – Lernkarten für das Physikum in die Hand fallen.
Ich werde mich noch ein wenig darin verlieren in den nächsten Tagen denke ich. Aber heute… - bin ich selbst zu müde zum Denken und zum Erinnern (und zum Schreiben; verzeiht…). Ich hoffe, ich schlafe heute Nacht ein bisschen besser, damit ich morgen beim Therapeuten den Grips zusammen habe.



Apropos Therapeut… - ich glaube langsam weiß ich eine Antwort auf die Frage, wie es mir geht. Ich glaube das Problem ist nicht, dass alles grundsätzlich ganz schlecht und furchtbar ist. Ich glaube, dass es einfach wahnsinnig instabil ist.
Trotz allem was passiert ist  - beziehungsweise eher nicht passiert ist – habe ich noch Ziele. Ich möchte eine gute Neurologin werden (vielleicht auch irgendwann Psychiaterin, aber das schließt ja die Neurologie nicht aus). Und dann muss man sich fragen, wie man dahin kommt. Sicher nicht, wenn man jeden Morgen mit Angst und Tränen auf seinem Sofa sitzt.
Und gleichzeitig – ist es emotional so instabil, dass mir das ständig völlig unvorbereitet um die Ohren fliegt.
Das Eine schließt das Andere offensichtlich nicht aus. Ich kann meinen Job machen und trotzdem an mir selbst zu Grunde gehen. Meine Person definiert sich ja weder durch das eine, noch durch das andere Extrem. Letztens habe ich von einer lieben Leserin den Hinweis bekommen, dass ich ja mehr als die Krankheit bin. Natürlich hat die Neurologie eine psychiatrische Katastrophe eingestellt, aber eine psychiatrische Katastrophe, die trotzdem Neurologin werden möchte.

Ich weiß nicht, ob das alles so verständlich ist – ich glaube, ich muss das bis morgen Nachmittag noch ein bisschen besser sortieren, damit der Therapeut es auch versteht. Alles was ich sagen will ist eigentlich: Es geht mir nicht grundsätzlich und durchgehend total schlecht. Es rauscht nur ständig unberechenbar ab, tut dann plötzlich unglaublich weh und scheint absolut unaushaltbar. Und dafür brauche ich irgendwelche Strategien, damit ich weiter machen kann. Denn das möchte ich ja. Bis Mitte Juli müssen der Kollege und ich an der Epilepsie dran bleiben.

So… - morgen wird es spannend. Frühs treffe ich mich vielleicht mit irgendwem, da sind wir noch an der Planung und nachmittags dann einer der beiden wichtigsten Termine: Herr Therapeut.

Mondkind

P.S.
Und seht mal – das habe ich am 21.09.2018 geschrieben. Schon damals waren das diese ganz kleinen Momente im Tag…

Er sitzt auf dem blauen Hocker, sie kniet daneben. Vor den beiden der Kopierer. Mondkind muss ihren Sozialversicherungsausweis kopieren; er irgendeinen anderen Ausweis.
„Also Mondkind, ich möchte das papiersparend machen. Meinst Du ich kann den Kopierer irgendwie überzeugen, das nebeneinander zu drucken?“
„Naja, ich würde vorschlagen, Sie kopieren den Ausweis einfach ein Mal, schieben ihn ein Stück zur Seite, legen das vom Kopierer ausgespuckte Blatt wieder in das Papierfach und kopieren nochmal…“
Er hält das für eine gute Idee – obwohl Mondkind das eigentlich immer so macht.
Es ist nur die Frage, wie rum das Blatt wieder ins Papierfach muss.
Er drückt auf Kopieren, hebt seinen Zeigefinger und zwei Augenpaare starren auf den Kopierer.
Vorsichtig zieht er das Blatt aus dem Kopierer, als könne er noch nicht ganz glauben, dass es geklappt hat. Aber das hat es.
„Wahnsinn – zwei Mediziner können mit einem Kopierer umgehen.“
Mondkind lacht und für den Moment ist es wirklich echt. Für den Moment hat die Schwere mal Pause. Für den Moment rast ihr Herz nicht in ihrer Brust, zieht sich ihr Magen nicht zusammen, zittern ihre Finger nicht, spannen ihre Halsmuskeln sich nicht an.
Für den Moment ist alles okay. Einen Moment nur.
„Ein schönes Wochenende Mondkind“, sagt er, während der den Kopierraum abschließt.
„Ihnen auch ein schönes Wochenende. Bis Montag.“

Das waren so die Momente, die einen ganzen Tag retten konnten.

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