Reisetagebuch #4 Psychiater, Therapeutin und der Fluss


Also... - an der Stelle heute nochmal: Wer zu viel Negativität gerade nicht gut aushalten kann, liest den Eintrag besser nicht. Ich hätte mir das auch anders gewünscht - aber es ist der Lauf der Dinge. 

Dieses Bild gehört in jedes Reisetagebuch in die Studienstadt - sonst war man nicht so richtig da


So wake me up when it's all over
When I'm wiser and I'm older
All this time I was finding myself
And I didn't know I was lost

(Avicii - Wake me up)

Weckt mich auf, wenn dieser Wahnsinn hier vorbei ist. Bitte. Also nicht in der näheren Zukunft.

Der Morgen beginnt natürlich wieder viel zu früh. Und irgendwie wird der körperliche Zustand auch immer weniger tragbar. Heute erzeugt allein der Gedanke an Frühstück Übelkeit und der Magen rebelliert ohnehin, also beschließe ich das heute mal zu lassen.

Es ist noch relativ früh am Morgen als ich mich auf die Socken in Richtung der Universität mache. Ab einem gewissen Streckenabschnitt ist es mein alter Weg zur Uni. Vorbei an den an der Bahnstrecke stehenden, herunter gekommenen Häusern. An die immer noch dieselben Graffitis geschmiert sind. Hauptbahnhof. Bewusst wahrnehmen. Einmal durchqueren. In Richtung der U – Bahn. Orange Buchstaben auf schwarzen Hintergrund verraten, dass die Bahn in einer Minute kommt. Die Treppen herunter rasen. Wie lange habe ich das nicht mehr gemacht? Erinnerungen an Zeiten, die längst vorbei sind. In der Vorstellung von damals hätte man heute von Glück reden sollen.

Irgendwie stehe ich diese Woche zu oft an Gleisen...

Einmal quer über das Uni – Gelände. Durch die Wiesen in Richtung der Bibliothek, dann an der Mensa vorbei, über den Parkplatz, auf dem das Auto meiner Schwester immer stand und  dann die Straße überqueren, um im Anschluss das weiße Anatomie – Gebäude zu betreten.
Gründe Aufblinken der Schlüsselkarte vor dem Schloss, danach ein Klicken. Ich kann die Tür aufziehen und stehe wieder im Labor. Die obligatorische Umarmung mit dem MTA fällt heute weg. Ich bekomme eine Führung durch die neuen Räume der Anatomie – den Nordflügel. Die Zeit steht nicht still. Auch hier nicht. Während dessen spricht der MTA viel über Vorteile die ein Arbeiten in der Anatomie mit sich bringen würde. Ich laufe dann auch noch ausgerechnet dem Chef in die Arme und muss versprechen, das Vorhaben Doktorarbeit wieder in Angriff zu nehmen.

Danach düse ich weiter in Richtung Ambulanz. Auf dem Weg gehe ich an der Medizinerbibliothek vorbei. Und was sehe ich da? Mein altes Fahrrad. Das hatte eigentlich eine Freundin haben wollen und wir hatten die Bibliothek als „Übergabeort“ vereinbart, weil ich keine Zeit mehr gehabt hatte, es ihr persönlich zu bringen. Die Schlüssel vom Schloss hatte ich ihr mit der Post geschickt. Irgendwie hatte es mich beruhigt zu wissen, dass es nicht verschrottet wird. Ich gehe hin. Streife mit der Hand einmal über Lenker und Sattel. Prüfe den Druck auf den Reifen, der nach all der Zeit weniger geworden ist. Liebes Fahrrad, falls ich vergessen hatte das zu erwähnen – danke, dass Du mich so lange durch die Uni gekurvt hast, obwohl Du älter bist, als ich selbst. Liebes Fahrrad, hätte ich Dich mal mitgenommen… Es tut mir leid.

Hi alter Drahtesel... - wie gern hätte ich Dich in meinem Keller stehen...

Ambulanz. Frau Therapeutin lässt sich heute sehr viel Zeit, ehe sie mich herein bittet. Und irgendwie… - ist das ein ganz komischer Termin. „Naja, Sie können ja lachen – das ist schon mal gut“, begrüßt sie mich, als ich das Zimmer betrete, die reale Maske aufgesetzt und die imaginative Maske noch nicht abgenommen habe. Da kann ich jetzt halt nicht im nächsten Satz sagen, dass es eigentlich ziemlich furchtbar ist.
Update. Ich sage, dass es mir nicht nur psychisch, sondern auch physisch mittlerweile ziemlich schlecht geht. Und dann… - beißt sie sich an dem Dienstthema fest. Es geht darum, wie ich das noch einen Monat schieben kann; das fände sie wichtig, wie sie sagt. Man droht mir den ersten Dienst seit Januar an – es gibt keinen Grund mehr das zu schieben, erkläre ich. Ich werde das machen müssen und das werden auch alle Oberärzte so sehen – auch wenn ich einräume, dass man da sicher noch mal nachfragen könnte.
Und dann ging es allen Ernstes sehr lange darum, wie ich mich motivieren könnte, meine Lampen an die Decke zu hängen – oder besser erstmal welche zu besorgen. Das ist in Anbetracht der Dramatik der Situation, die ich ihr absolut nicht vermitteln kann, ein Witz. Sie erklärt mir dann, dass es völlig normal ist, dass man im ersten halben Jahr zu nichts kommt. Aber die Lampen waren ja nur ein blödes Beispiel. Ich bekomme hier ja generell aufgrund von Energiemangel nichts auf die Kette.
Die Kombination ist langsam ungünstig. Wenn es mir sehr schlecht geht, werde ich leise. Zu leise. Glaube, der Frau Therapeutin nicht mehr dazwischen grätschen zu dürfen. Wenn sie Dinge ausdrücklich wichtig findet, dann müssen wir wohl darüber reden. Obwohl ich hätte mal dazwischen funken und sagen können, dass das mit dem Lampen jetzt wirklich das geringste Problem ist.

Kaum habe ich die Ambulanz verlassen, ruft der Herr Psychiater an, der mich vor dem Termin bei Frau Therapeutin  noch vertröstet hatte. Ich sitze unweit der Tagesklinik auf einem Stapel Steine. Was ich denn – wenn ich schon mal eine Woche Urlaube habe – in der Studienstadt so treibe, will er zuerst wissen. „Ich versuche, mir das Leben zu retten und Sie sind gerade meine letzte Chance“, wäre die wahre Antwort gewesen. Aber da man das am Telefon nicht bringen kann, sage ich stattdessen: „Freunde besuchen und die Doktorarbeit.“ Letzten Endes stellt er – wie so viele Menschen fest – dass der Job ja wohl funktioniert. „Das macht mich aber nicht zu einem glücklicheren Menschen“, werfe ich ein. „Nein, Sie leider nicht“, entgegnet er. Er sagt, dass ich jetzt unbedingt die 12 Monate voll machen muss, um es für den Facharzt anerkannt zu bekommen. Zumal wir herausfinden, dass das Krankenhaus an sich nicht das Problem ist und man deshalb jetzt auch nicht den Job an den Nagel hängen sollte. In meiner Neuro gibt es schon viele Möglichkeiten und ich kann viel lernen – das ist einfach die depressive Symptomatik, die dahinter hängt und es mir im Moment so schwer macht.
Und da er ja Psychiater ist, schlägt er vor, dass man ja nochmal versuchen könnte mich medikamentös zu unterstützen, nachdem ich gestehen muss, die Medikamente abgesetzt zu haben. „Kommen Sie doch nochmal hier hoch und wir schauen, dass wir nochmal ein Medikament für Sie finden und Sie zumindest mal ein Rezept mitnehmen können“, schlägt er vor. Morgen Nachmittag hätte er Zeit gehabt, aber da bin ich ja schon fast wieder im Ort in der Ferne. Das wäre die letzte Chance gewesen nochmal persönlich da zu sein und zu vermitteln, dass wir genau JETZT eine Lösung brauchen und ich alleine es gerade eben nicht schaffe. Ich glaube nämlich, dass er keine Ahnung hat, wie es mir wirklich geht und das Telefon ist dafür immer ungeeignet.
Aber zumindest setzt er noch einen kleinen Anker. „Rufen Sie mich nächste Woche nochmal bitte an“, sagt er. „Wenn ich wieder in [Ort in der Ferne] bin?“, frage ich wohl etwas zu überrascht. „Ja, ich meine das ernst…“, entgegnet er.
Ich bedanke mich. Für die Zeit und die Mühe. Zwar habe ich absolut keine Ahnung, wo ich auf der neuen Station zwischendurch telefonieren soll, aber ich finde hoffentlich einen Weg. Wahnsinn, dass der Herr sich nach all den Jahren, in denen er mich eigentlich schon gar nicht mehr behandelt, noch so bemüht. 

Mein Telefonplatz mit Herrn Psychiater


Danach sitze ich auf den Steinen, schaue über die Wiese und falle da erstmal zusammen. Es ist mir auch gerade egal, wer das alles sieht. Das war es dann wohl. Mission gescheitert. Ich fahre ohne Lösung zurück. Morgen früh. Ich wollte nie wissen, in welcher Verfassung ich da morgen im Zug sitze, wenn ich es nicht schaffe. Ich kann diese Ohnnacht einfach nicht mehr in Worte fassen. Das war so viel Aufwand; dieser Versuch aus der Nummer irgendwie raus zu kommen, in der ich gerade festhänge...



Nicht das beste Bild vom Unigelände - bot sich aber an von meinem Steinhaufen

Im Anschluss bin ich noch mit einer Freundin verabredet. Wir treffen uns in der Altstadt. Gehen nochmal vor an den Fluss. Weil das jedes Mal sein muss, wenn ich da bin. Sonst bin ich nicht wirklich da gewesen.
Und dann sitzen wir da nebeneinander auf der Wiese und schauen auf das Wasser. Ich bin ganz still geworden. „Mondkind, Du hast Augenringe, Deine Lippen sind aufgeplatzt und bluten. Und Du sitzt da mit Winterjacke und Schal, obwohl es in der Sonne echt warm ist… Dir geht es richtig schlecht“, sagt sie. „So ist das, wenn man nicht schlafen und nichts essen kann und der Magen selbst bei Wasser rebelliert…“, gebe ich zurück. „Mondkind, wenn man Dir das schon so im Außen ansieht, dann will ich nicht wissen, wie es bei Dir im Innen aussieht…“ „Nein, willst Du nicht…“, sage ich und lege den Kopf auf die angezogenen Knie.
Und dennoch wird das dort der erste Moment Stille, seitdem ich hier bin. Ich erinnere mich, wie ich die Studienstadt so unbedingt hinter mir lassen wollte. Und… - dass das am Ende alles nichts gebracht hat. Dass ich langsam nicht mehr weiß, wohin mit mir. 




Langsam fühle ich mich ganz, ganz weit weg von der Welt. Als sei ich gar nicht mehr wirklich hier. Als sei das nicht mehr ich, die da agiert.
Vier unfassbar anstrengende Tage neigen sich dem Ende. Dass die Reise in der Verfassung eigentlich zu anstrengend ist, das war schon vorher klar. Aber ich wollte nichts unversucht lassen, nochmal irgendwie an ein bisschen Hilfe zu kommen. Nur irgendwie… - wird die Not nicht richtig gesehen, oder man meint, dass ich das selbst lösen muss.
Wenn man ohne sein professionelles Helfersystem zu Grunde geht, sei das auch ein Grund für die Klinik, hat eine liebe Leserin mir geschrieben. Und am Ende zerfällt da doch gerade viel. Was das mit Frau Therapeutin heute war, weiß ich nicht – vielleicht will sie da langsam auch ein bisschen Distanz rein bringen. Mit Herrn Therapeuten komme ich auch nicht mehr weiter im Moment, weil unser beider Grenzen zu weit auseinander stehen. Und mit Herrn Psychiater ist es eine ganz kurze Zwischenlösung.

Ich habe Angst. Vor der langen, anstrengenden Zugfahrt. Davor, morgen wieder in meiner Wohnung zu stehen und nicht zu wissen, wie lange ich das noch durchhalte. So körperlich und psychisch am Ende war ich nicht mal vor den Klinikeinweisungen. Wie soll ich so Am Montag arbeiten? Bis Ende des Monats muss ich es noch durchhalten; meine Schwester kommt noch vorbei. Aber dann? Was mache ich im Juni? Wenn es so unerträglich ist, aber das Ende der Fahnenstange immer noch nicht erreicht ist? Und es unmöglich ist, die Hilfe zu organisieren, die ich brauche? Denn irgendwie habe ich ja alles versucht, das ich von mir aus tun konnte. Und es hat nicht gereicht. Und langsam… - langsam bin ich viel zu müde.
Aber hey… - ich habe die Studienstadt nochmal gesehen. Noch einmal am Fluss gesessen. Die Schiffe gesehen. Das Wasser gehört. Die Erinnerungen gespürt. An einen Ort, den ich wahrscheinlich zu sehr abgewertet habe in der Hoffnung, dass die Zukunft besser wird.

Mondkind

Kommentare

  1. Hallo Mondkind,
    hast du denn schon einmal im Ort der Ferne nach einem neuen Therapeuten Ausschau gehalten? Das würde ich dir dringend empfehlen, auch wenn es sicher nochmal Kraft kostet. Das Erlebnis mit deiner Therapeutin klingt wirklich nicht besonders hilfreich, aber man kann ihr auch schlecht einen Vorwurf machen, dass sie die Situation nicht erkennt, sie behandelt dich ja nicht mehr regelmäßig. Du brauchst da vermutlich mehr Regelmäßigkeit und vielleicht hilft dir ein Helfersystem in der neuen Stadt auch dort mehr anzukommen.
    Ich wünsche dir nur das Beste!

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    1. Hey!
      Danke für den lieben Kommentar.
      Ja, ich habe hier schon mal nach Therapeuten geschaut – das war nicht besonders erfolgreich. Es gibt halt kaum Jemanden – da müsste man nehmen, was man bekommt. Ich war sogar schon mal bei Einer zum Vorgespräch gewesen, aber die hat dann gesagt, dass sie ein paar Dinge nun mal ambulant nicht behandelt, die bei mir aber Thema sind; da kann man es dann eben wirklich lassen. Ich muss auch sagen – ich würde sehr gern Schematherapie weiter machen – da müsste man mal in den umliegenden, größeren Städten schauen. Aber dazu bräuchte ich eben endlich mal ein Auto, sonst dauert das viel zu lang dahin und selbst dann ist es schwierig mit der Arbeit zu vereinen. Wie soll ich denn noch zur Therapie, wenn ich täglich bis in die Puppen arbeite… ? Klar könnte ich die Briefe auch hinterher weiter schreiben, aber wenn man sich wirklich richtig damit beschäftigt und das verarbeitet, braucht man danach auch Ruhe.
      Jedenfalls wird der Weg sein: Erst Mobilität, dann Therapie. Aber Du hast Recht – ich müsste mich eigentlich dringend darum kümmern.

      Das stimmt, der Therapeutin kann man wirklich keinen Vorwurf machen; habe ich ja auch nicht. Ich hoffe es kommt nicht so rüber im Blogpost. Das wäre auch meine Verantwortung gewesen zu sagen: „Halt, stopp mal. Hier spielen gerade ganz andere Dinge eine viel gewichtigere Rolle.“ Ich habe mich halt echt nicht getraut, v.a. auch weil ich weiß, dass sie die schwierigen Themen eher nicht mag und wir das Klinikthema quasi tot geredet haben. Aber wenn ich dafür schon durch halb Deutschland gurke, hätte ich das machen müssen.

      Ein Helfersystem in der neuen Stadt baut sich halt nicht so einfach. Es weiß auch kaum Jemand Bescheid und da muss auch irgendwie ein Vertrauen entstehen.

      Liebe Grüße
      Mondkind

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  2. Hallo nochmal,

    die Arbeitszeiten machen das ganze auf jeden Fall schwierig, gerade wenn man alle paar Monate die Station wechseln muss und sich immer wieder neu sortieren muss. Evtl. gibt es aber ja doch einen Tag der Woche, wo du etwas früher gehen kannst oder stattdessen für die Briefe am Samstag rein kommst, oder ähnliches und dafür dann aber an einem Tag die Unterstützung bekommst, die du brauchst... Deine Gesundheit ist wirklich das Wichtigste!
    Und vielleicht kannst du für die erste Zeit auch ein Auto leasen/Car sharing (falls es das gibt in deiner Stadt) nutzen? Die erste Option ist zwar etwas teurer, aber dafür hast du dann erstmal die Mobilität und Ruhe. Ich würde dir auf jeden Fall wünschen, dass du auch in der Nähe bald jemanden findest, der dich da unterstützen kann.

    Und nein, du hast es natürlich nicht als Vorwurf formuliert! Ich wollte mich nur in die Therapeutin hineinversetzen. Das hätte ich auch deutlicher ausdrücken können! :)

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    1. Hey,
      das müsste ich dann halt nochmal mit dem Chef besprechen, ob man das so machen kann. Und dann sollte ich diesmal Jemanden mitnehmen, damit das ein vernünftiges Gespräch wird...

      Mit dem Auto... - eigentlich hätte ich ja gern ein eigenes Auto. Das wäre auch finanziell vermutlich nicht unmöglich. Immerhin verdiene ich ja schon Geld. Ich müsste das nur mal angehen - daran scheitert echt viel. Und ich habe auch immer Angst, dass mich der psychische Zustand doch eines Tages wieder um die finanzielle Unabhängigkeit bringt...

      Für Unterstützung in der Nähe... - ich glaube, was man auch nicht unterschätzen darf ist, dass man erstmal bereit sein muss, sich auf wen Neues einzulassen. Mit dem Herrn Kliniktherapeuten habe ich echt wahnsinniges Glück gehabt. So einen engagierten Therapeuten findet man nicht an jeder Straßenecke. Demzufolge liegt die Messlatte (denn ob man will oder nicht - man vergleicht immer), wirklich hoch. Und das macht mir aktuell auch so ein bisschen Sorgen. Die Meisten im Helfersystem haben viel von meiner Geschichte mitbekommen. Für die bin ich nicht unbedingt die Assistenzärztin, die unberechtigterweise depressiv ist. Viele haben den Rattenschwanz dahinter mitbekommen. Und ein neuer Therapeut wird eben erst im Heute starten.

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