Lerntag 111 / 116 You didn't ever care...


Mondkind liegt in ihrem Bett,  dreht sich seit Stunden hin und her. Sie hat die Kopfhörer im Ohr, die Musik ziemlich laut aufgedreht und ignoriert die Tatsache, dass das HNO – Script zum verantwortungsvollen Umgang mit Kopfhörern ermahnt hatte.

„So now I'm sitting here wondering why
You didn't ever care for me
You didn't ever care for me, oh
You didn't ever care for me
You didn't ever care for me, oh
You didn't ever care for me
You didn't ever care for me, yeah“



Wenn das Examen vorbei ist, muss sie mal die Noten suchen. Das hat letztes Jahr – als sie es sich eine zeitlang erlauben konnte Keyboard zu spielen – ganz gut geklappt, alle negativen Gefühle in den Tasten abzuladen.

Sie versteht es einfach nicht. Eine vernünftige Lösung für die Zeit nach dem Examen gibt es nicht.
Vor einem Jahr war es, als sei ein Erdbeben durch die Familie gezogen, als Mondkind das erste Mal in die Klinik kam. Das kann sie wirklich nicht nochmal machen.
Und schon gar nicht, wenn ihre Mutter das scheinbar schon befürchtet und bereits jetzt alles daran setzt, Mondkind weg von den Ärzten zu bekommen.

Mondkind erinnert sich an eine Therapiestunde irgendwann aus dem Februar. Oder Ende Januar.
„Sie wissen also, dass Ihre Familie damit schwierig – oder auch gar nicht zurecht kommen würde, wenn sie nicht mehr da wären und sie würden das trotzdem machen, weil es für Sie einfacher wäre…“

Mondkind hätte sie an die Wand klatschen können. Noch provokanter hätte man das wohl kaum formulieren können.
So einfach ist das alles nicht. Vor allen Dingen, da sie kaum eine Chance hat.
Sie kann es nicht richtig machen.
Wenn man sie zumindest einfach in Ruhe lassen würde. Mondkind hat sich damit angefreundet, auf unabsehbare Zeit ziemlich viel Abstand zu ihrer Familie halten zu müssen.
Und, dass sie ihre Anker woanders suchen muss.
Aber warum muss man immer wieder dazwischen grätschen? Warum muss man ihr es immer wieder schwer machen? Warum muss man ihr ein schlechtes Gewissen machen aufgrund allem, was sie tut und warum muss sie die Verantwortung für den Familienfrieden tragen?
(Und dann wundert sich noch jemand, warum Mondkind (möglichst unauffällig) verzweifelt an allen Leuten festhält, von denen sie zumindest das Gefühl hat, dass sie ihnen nicht egal ist.)

Denn es geht dabei eben nicht nur um sie selbst. Ihre Schwester hat eine Menge abbekommen letztes Jahr. Wenn Mondkind gerade nicht mehr greifbar ist, dann ist sie dran.
Mondkind kann sich das nicht so einfach machen und in der Ambulanz nach dem Examen mal alles ungefiltert raus hauen unabhängig von den Konsequenzen. Sie ist nämlich nicht die Einzige, die sie dann trägt.
Und sie kann auch schlecht sagen: „Ich hätte da schon eine Menge zu erzählen, aber das kann ich jetzt wirklich nicht machen, weil ich dann etwas lostrete, das nicht mehr steuerbar ist.“

Und am Ende wird es irgendwie gehen. Am Ende wird sie den Monat über rotieren, tun, was getan werden muss und dann irgendwann Mitte Mai gehen. „Vielleicht kommt ja wieder Ruhe in die Familie, wenn Mondkind dann mal weg ist.“
Ein Satz, den man ihr so wahrscheinlich nicht ins Gesicht gesagt hätte, aber Mondkind und ihre Schwester reden zumindest ab und zu mal miteinander. Und dann sickert so etwas durch.

Und dann wird sie ab Mitte Mai irgendwo PJ machen, keine Ahnung haben, wie sie das jetzt acht Monate machen soll und es trotzdem versuchen durchzuziehen.
Jeden Morgen ihren Kittel übertreifen, das Stethoskop um den Hals hängen und auf die Station laufen. Und schon das erste „Guten Morgen“ wird ihr fremd vorkommen. So wie immer.
Ein bisschen mutig sein. Aufgaben übernehmen. Small – Talk mit den Patienten. Hier ein Lächeln und dort ein Danke.
Und abends wird sie sich fragen, wer diese Person war, die da heute gut gelaunt über die Station gelaufen ist.

Erstmal muss sie dazu aber natürlich das Examen bestehen und deshalb wäre es schön, wenn sie sich etwas mehr auf das Lernen und etwas weniger auf den Rest konzentrieren würde.

Bilanz von heute bisher… ? Reden wir mal nicht drüber.
Das muss jetzt schon klappen mit dem Plan – sie hat den ja gestern schon eingestrichen.
Sie wird immer angehalten, nicht so viel zu schreiben. Für sie ist das allerdings die Methode um alles was in ihr ist, zu kanalisieren und um wieder ein bisschen ruhiger zu werden. Es ist ihr Weg das zu verarbeiten, das täglich auf die einprasselt.
Und vielleicht ist das auch einfach okay so. Vielleicht sollte sie nicht versuchen, nicht zu schreiben.

Und sie hofft so sehr, dass sie bald von einem Sommer schreiben kann, von ein bisschen Leichtigkeit, von ein bisschen Frieden in ihr selbst.
Sie wartet schon Ewigkeiten darauf, endlich mal ein altes Westlife – Lied zur Stimmung passend in ihre Texte einflechten zu können. Darin heißt es: „There’s something in the silence, I’ve never used to feel…“ und ein paar Zeilen später: „Hello Happiness, tell me where you’ve been.

Ich starte dann mal den zweiten Versuch für heute.
Antibiotika und Zytostatika...

Mondkind

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