Verkehrsunfall


Damals.
Es ist irgendwann gegen Mittag.
Mondkind weiß schon nicht mehr, wie sie auf der Rückbank des Autos noch sitzen soll – so viele Stunden sind sie schon unterwegs in Richtung Süden auf dem Weg in den Sommerurlaub. Sie fahren durch ein schweres Gewitter und wenn man es nicht besser wüsste, könnte man meinen sie seien mitten in der Nacht unterwegs.
„Noch ein halbes Stündchen – dann machen wir Mittagspause“, kündigt ihr Vater an. „Bis dahin ist das Wetter hoffentlich auch wieder besser.“

Mondkind schaut aus dem Fenster und bewundert das Naturspektakel.
Plötzlich quietschen die Reifen. Mondkind wird in ihren Gurt gedrückt und das Kartenspiel, das sie gerade in der Hand hielt, gleitet ihr aus den Fingern.
Noch bevor sie den Blick zwischen ihren Eltern hindurch nach vorne richten kann, knallt es.
Glas fliegt über das Dach, die Airbags werden alle gleichzeitig ausgelöst und verbreiten einen eigenartigen Geruch und Nebel im Auto.
Ein paar Sekunden später steht alles still. Der Regen hämmert auf das, was von dem Auto noch übrig geblieben ist und rinnt zwischen den entstandenen Löchern hindurch.
Schockstarre. Keiner weiß so wirklich, was passiert ist.

Mehr als 13 Jahre ist dieser Tag her und dass keiner der Beteiligten ernstlich verletzt wurde, grenzt an ein Wunder. Bis Mondkind wieder ruhig in einem Auto sitzen konnte, vergingen ungefähr acht Jahre und immer noch ist sie wachsam und wird – je nachdem mit wem sie unterwegs ist – schnell nervös.
Und bis heute schmeißt sie das Scheppern von zwei ineinander fahrenden Autos – so wie es gestern Abend auf der Straße vor ihrem Haus passiert ist – zurück in jenen Moment. In diesen Moment, in dem sie in dem Auto saß, in dem Qualm nichts mehr sehen konnte, ihr Herz so sehr raste, dass es sich beinahe überschlug und sie Angst hatte, dass die Reste des Autos gleich explodieren.
Gestern blieb es zum Glück bei Blechschäden.

 

Im Moment kommt sie sich vor, wie in diesem Bremsvorgang. In dem verzweifelten Versuch, die Katastrophe zumindest so weit es geht zu reduzieren. Damals stand ein Auto einfach so auf der linken Spur, auf das sie beinahe ungebremst auffuhren. Heute ist es eine Wand, die vor Mondkind steht.
Sie hat keine Chance mehr nach links und rechts auszubrechen, weil sie sich auf das Examen fokussieren muss, das ungefähr einen halben Meter vor der Wand steht. Ein menschlicher Verkehrsunfall.
So wie ihr Vater damals schon ein paar Millisekunden vorher wusste, dass er nichts mehr machen kann, weiß auch Mondkind, dass sie nicht mehr viel retten kann.
Das Examen hat alle Probleme auf das Danach verschoben. Dinge die vielleicht schon hätten gelöst sein können, sind liegen geblieben. Dazu kommen eine neue Lebenssituation und das Wegfallen von Bezugspersonen und die allem übergeordnete Sinnfrage.
Mondkind würde gerne so viel tun. Sie hatte sich das anders vorgestellt nach dem Examen. Frei sein. Den Sommer genießen. Verreisen. Vielleicht mal wieder das Meer sehen dieses Jahr. Und nicht alleine sein.
Aber sie weiß, dass das alles auf emotionaler Ebene derzeit nicht ankommen würde und alles noch viel schlimmer machen würde. Und sie mag es auch nicht vertraute Gefilde zu verlassen, wenn es ihr nicht gut geht.

Mondkind weiß, dass sie auf etwas zurennt, an dem sie zerbrechen wird.  Es ist nicht die Karosserie; der Schaden wird kaum sichtbar sein. Das was hinter der Hülle liegt – das bricht. Immer wieder ist sie in ihrem Leben an diesen Punkt gekommen. Immer wieder sind ihr Dinge weg gebrochen, die sie noch irgendwie zusammen gehalten haben, die dem Chaos in ihrem Kopf, der Verzweiflung, Unsicherheit und Sinnlosigkeit ein Netz geboten haben.
Jedes Mal hat sie sich aufgerichtet und ist weiter gegangen. „Du musst doch nur morgens aufstehen und irgendwie den Tag über die Bühne bringen.“ So oft hat sie dieser Satz schon begleitet.
Und auch dieses Mal wird man ihr äußerlich nichts ansehen. Das hat Mondkind gelernt in den vielen Jahren, in denen der Wahnsinn in ihrem Kopf sie schon begleitet. Die Fassade bricht selten.

Mondkind könnte in den Funktionier – Modus rutschen. Die Telefonate erledigen, die getan werden müssen, Mails schreiben, sich um die Doktorarbeit und um ihr Zimmer kümmern. Sie könnte den ganzen Monat über rotieren, viel arbeiten und kaum schlafen. Funktionieren würde das wahrscheinlich.
Solange, bis sie dann den ersten Abend fern ihrer Studienstadt verbringt und merkt, dass sie da vollkommen kopflos hinein gerannt ist. Und was dann passiert, weiß sie nicht.

Alternativ könnte sie sich von der Ambulanz einfangen lassen – auch wenn das nur mit viel Widerstand möglich sein wird.
Aber was würde das bringen? Die können auch nicht verhindern, dass Mondkind mit Höchstgeschwindigkeit gegen die Wand fährt. Mondkind hätte die Anker anders setzen müssen. Nicht an Orte und Personen, die ihr ohnehin wieder wegbrechen, sondern – so undenkbar das für sie im Moment auch ist – in sich selbst. Denn wenn man – egal wohin man geht – am Ende noch sich selbst hat, wird vieles sicher einfacher.
Es ist zumindest alles vorbereitet, damit Mondkind die Fassade fallen lassen kann. Und auch wenn sie die Veränderung in der Stimme ihrer Therapeutin nicht mag, sobald Mondkind mit dem Thema gut verpackt in sprachlichen Bildern um die Ecke rückt und in Verteidigungsstellung geht, wenn nach ihrer Erzählung eine Pause von ein paar Sekunden folgt und es dann seitens ihrer Therapeutin mit einem „Also…“ losgeht, nach dem sie nochmal Luft holt und danach zu einem Monolog ansetzt, wäre sie zumindest eine Person, bei der Mondkind sich das vorstellen könnte. Danach gäbe es so jemanden vorerst nicht mehr – also vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt.

Aber unter Umständen heißt das am Ende Kontrollverlust. Es heißt, dass nicht mal der Funktionier – Modus klappen würde. Es heißt, dass Mondkind sich selbst in eine Situation hinein katapultieren könnte, die den weiteren Weg Mondkinds in Frage stellt und Hindernisse aufstellt, wo keine sein müssten. Die sie dann auch noch überwinden muss.
 Und es würde mit Sicherheit das nächste Familiendrama nach sich ziehen.
Es heißt auch, dass Mondkind ihr Umfeld enttäuschen würde. Ihre Familie, unter Umständen den Oberarzt von ihrem PJ, so sie es denn nochmal verschieben müsste, und zuletzt auch ihre Therapeutin. Das kann doch nicht die letzte Handlung der beiden sein – nach drei Jahren. Ihr hätten doch schon längst Flügel wachsen sollen. Sie hätte doch schon längst der Ambulanz den Rücken zugekehrt haben  und nicht an einem neuen Tiefpunkt angekommen sein sollen…

Vielleicht sollte sie einfach das tun, das sie immer in solchen Situationen tut. Versuchen weiter zu gehen. Sich nicht zu fragen, wofür eigentlich. Und es hoffentlich so lange zu überleben, bis irgendwann wieder ein ganz kleines Licht am Horizont auftaucht. Ein ganz kleines bisschen Hoffnung.

***
Ihre Konzentration findet heute wieder nur schwer ihren Weg auf die Scripte. Wie soll das auch möglich sein in Anbetracht dessen, was da auf sie zukommt? Wenn man nur sieht, dass alles jeden Tag ein Stück näher rückt. Wenn der Blick sich nicht abwenden lässt von der Gefahr.
Sie hat einfach keine Ahnung, wie sie das wieder aushalten soll und dass es unweigerlich kommen wird, macht ihr so verdammt viel Angst. 
Und abnehmen kann es ihr auch keiner. Höchstens mittragen. 
Wobei die wenigsten verstehen, was in diesen Zeiten mit Mondkind wirklich passiert. Denn trotz allem bringt sie ja irgendwie die von ihr erwartete Leistung.

Ich versuche es jetzt nochmal. Neuro Teil 2 ist heute dran und bis jetzt lief es gar nicht. Und für solche Dinge ist jetzt eigentlich keine Zeit mehr. Der Lernplan gibt keine Lücken und keinen Puffer mehr her. 

Mondkind



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