Tag 114 / 116 Lernplan und ein paar Gedanken


Für mich fühlt sich das alles gerade gar nicht mehr real an. Ich fühle mich komplett ferngesteuert.
Dennoch gibt es einen Plan, den ich versuche einzuhalten, obwohl ich es nicht ganz schaffen werde. Dazu dürfte mein Kopf weniger über anderes nachdenken.

Für morgen und übermorgen steht noch je ein Innere – Script auf dem Programm, dazu auch noch eine grobe Wiederholung von Auge, Arbeitsmedizin, Umweltmedizin, Zytostatika und Epidemiologie. Da muss ich mir noch mal die ganzen Formeln anschauen. Im letzten Examen mussten die tatsächlich einen Odds ratio berechnen. Dazu fiel mir dann gleich „Kreuzprodukt“ ein und damit ließ sich das leicht lösen. Aber dadurch werden wir schonmal kein Odds ratio berechnen müssen. (Oder gerade deshalb?)
Jedenfalls sind das überschlagen mal locker 500 Seiten.
Und dann muss ich auch noch die Notizen zu den letzten drei Examen durchgehen. Und eigentlich auch noch ein paar Notizen zu Altfragen, die ich davor gekreuzt habe.

Um das Bio - abi einer Freundin muss ich mich auch noch kümmern. Ich fahre jetzt wohl doch nicht mehr zum Drucken in die Bibliothek – das muss jetzt eben so gehen; das würde mich rund eine Stunde kosten. Viel mehr als Lesen ist ohnehin nicht drin. Damit habe ich nur auch kein Biochemie – Buch hier, in dem das wahrscheinlich recht kompakt gestanden hätte…

Für das alles habe ich noch ein wenig mehr als 48 Stunden Zeit… das wird knapp würde ich mal sagen. Und theoretisch sollte ich am Montag wahrscheinlich gar nichts mehr tun, weil ich mich im Moment so fühle, als sei ich mit dem Kopf vor eine Laterne gerannt.
Okay, schlechter Vergleich – aber mein Hirn ist einfach einigermaßen Matsche; das wollte ich sagen.

Ich glaube, dass irgendetwas in mir langsam schon registriert, dass es eine verdammt wichtige Prüfung ist. Das ist bei mir immer ganz komisch. Ich werde zwar irgendwie fahrig und unmittelbar vor der Prüfung zittern auch oft meine Hände und ich spüre die Unruhe in mir, aber das lässt meinen Kopf vollkommen unbeeindruckt. Da ist nichts. Keine Angst. Keine Anspannung. Aber eben umgekehrt auch keine Erleichterung, wenn es vorbei ist.

Was die Chancen des Bestehens angeht: Ich habe in keiner von dem Probeklausuren unter 60 % gekreuzt – auch wenn es zwischendurch manchmal ziemlich schlecht aussah.
Ziel ist es natürlich eigentlich nicht, da gerade so mit knapp über 60 % durchzurutschen; eine 2 wäre schon schön. Aber erstmal überhaupt bestehen, ehe man da weitere Ansprüche stellt.

Ich glaube was mir jetzt wirklich noch einen Strich durch die Rechnung machen könnte wäre, wenn mir die ganze Situation hier komplett entgleitet und irgendwelche Dinge passieren, die absolut nicht mehr steuerbar sind. Ansonsten wird es gehen. Es ist halt schon eher auf dem absteigenden Ast im Moment, aber es ist ja auch nicht mehr weit.
Elf Tage muss ich noch durchhalten bis zum Wegpunkt. Über den Sinn und Unsinn von Wegpunkten habe ich auf dem Blog ja schon vor Monaten sinniert. Aber es ist erstmal ein vorläufiges Zielschild. Ich kann es nicht ändern… 

Chaos... 📃

***
Und das kommt dabei raus, wenn Mondkind des nachts mal wieder sinniert statt schläft:

Mondkind muss einkaufen fahren.
Die Winterjacke kann sie mittlerweile gegen eine der dünneren Jacken tauschen.
Auch die Handschuhe braucht sie nicht mehr.
Und die Winterschuhe auch nicht.

Kinderlachen vom nahe gelegenen Spielplatz
Hundgebell.
Mütter, die ihre Kinder ermahnen.
So viele Menschen auf den Straßen.

Die Eisdiele, an der Mondkind auf dem Weg zum Laden immer vorbei radelt.
Die Menschen sitzen draußen in der Sonne, genießen das erste Eis.

In ihr macht sich ein latenter Fluchtreflex breit.
Sie hält das nicht aus hier draußen. Diesen Frühling. Diese Leichtigkeit in ihrer Schwere.

Beinahe eine Stunde später ist sie wieder da. Sitzt erstmal nur ein paar Minuten an der Wand in ihrem dunklen Flur.
Völlig am Ende.
Wie soll das weiter gehen?
Wie soll sie in rund anderthalb Monaten ins PJ starten… ? In der Verfassung…

Sie weiß, dass es nur ein temporärer Zustand ist. Dass es vorbei geht. Dass es irgendwann – wann auch immer irgendwann ist – besser werden wird.
„Sie studieren doch Medizin, Sie wissen doch, dass man das gut in den Griff bekommen kann“, hatte der Arzt vor ein paar Wochen an ihre Vernunft appelliert.
Sie weiß es, ja. Aber sie glaubt nicht daran. Vielleicht ist es bei ihr ja anders, als bei anderen Menschen.

Sie weiß, dass es so viele Menschen gibt, die so vieles nicht mehr erleben konnten. Die viel zu früh aus dem Leben gerissen wurden. Die nicht darauf vorbereitet waren.
Die vielleicht noch so viele Pläne, Wünschen und Ziele hatten, die sie alle nicht mehr verwirklichen konnten.

Mondkind hat objektiv betrachtet viel Glück gehabt. Eine vernünftige Schulbildung, die Möglichkeit zu einem wunderbaren Studium. Heute ist sie froh so viel darüber zu wissen, wie ihr Körper funktioniert.
Sie hat noch so viel vor sich. Und die Dinge sind auch immer änderbar.

Die Vergangenheit ist nicht mehr änderbar. Aber je länger das so geht und je mehr sie sich verliert, desto schwieriger kann sie auch Perspektiven für das Morgen finden.
Wer ist sie denn? Was will sie überhaupt? Wird sie das je herausfinden?
Werden die Tage je mehr sein, als ein vor sich hinplätschern in dem Versuch sie ohne größere Katastrophen zu überstehen?

Im Gegensatz zu den vielen Menschen an die Mondkind denkt, die die Zeit im Jetzt nicht mehr erleben können, hatten viele davon etwas, das sie nicht hat.
Dieses etwas, das Mondkind fehlt und das das Leben lebenswert macht.
Und dennoch wäre es fast Ironie diesen Menschen gegenüber das Leben in ihrer Position ziehen zu lassen.

Es sind so viele Gedanken, die Mondkind in Bezug auf dieses Thema kommen. Vieles ist verdammt unfair. Denn irgendwie ist es nun mal auch standpunktabhängig. Wenn Mondkind dieses etwas, das ihr fehlt zumindest ab und an hätte, dann würde sie vielleicht eher wie ihr Umfeld denken, das Mondkinds Denken wahrscheinlich nicht nachvollziehen kann.
Es macht nun mal einen großen Unterschied, ob man morgens in den Tag startet und weiß, dass die Situation wieder viel Überforderung mit sich bringen wird, oder ob man sich darüber zumindest keine Gedanken macht oder gar positiv den Tag anfängt. Mondkind hat das ja selbst erlebt letztes Jahr ein paar Tage bevor sie wieder an die Uni gegangen ist.

Manchmal denkt sie, dass sie es doch nur genügend wollen müsste. Dass sie sich mehr Mühe geben müsste.
Sie gibt sich so viel Mühe, wie es irgendwie geht um ihr Leben auf einen vernünftigen Sockel zu stellen. Studiert, ohne zu wissen wofür. In dem Vertrauen, dass sie sich selbst irgendwann dankbar sein wird, so viel Kraft in etwas investiert zu haben.
Aber was soll sie tun, wenn auf emotionaler Ebene nichts ankommt? Da hilft es nicht, sich anzustrengen. Eher ist es so, dass es umso schlimmer wird, je mehr sie es versucht.
Sie kann halt nicht aus sich heraus springen und die Überlegung, dass sie immer noch viel verpasst –  dass sie auch wieder den nächsten Sommer verpassen wird – lässt sie verzweifeln.

Sie würde gern ein Stück dieser Leichtigkeit erleben. Ein Mensch, auf dem die Sonne sich nicht so schwer anfühlt, den der Frühling nicht überfordert.
Sie würde gern das Leben schätzen. Hobbies haben. Eine Zukunft für sich selbst sehen.
Sie würde gern sagen können, dass es sich lohnt. Dass es besser werden wird. Dass sie irgendwann nicht mehr durch die Tage fällt. Dass sie mehr sind als ein Dazwischen. Mehr, als ein Hangeln von Wegpunkt zu Wegpunkt.
Dass sie irgendwann genug Stabilität in sich selbst findet und das Außen nicht mehr braucht. Damit es nicht jedes Mal eine Katastrophe ist, wenn Dinge sich ändern.

Aber das kann sie (noch) nicht. 

Mondkind

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen