Ambulanz II
Mondkind
ist in ihre eigenen vier Wände gefahren.
Mit
dem Druck würde sie im Moment nicht mal im Labor umgehen können. Sie kann halt
nicht verheult durchs Labor laufen. Das übersteigt dann doch ein wenig das, was
sie dort bringen kann.
Und
sie braucht jetzt einfach alle Kanäle, um irgendwie mit dem Druck umzugehen.
Die
Ambulanz… - das ist phänomenal schief gegangen und Mondkind weiß nicht, wie man
das alles so übersehen kann.
Sie
hat gestern Abend tatsächlich noch einen Zettel geschrieben, den sie heute
Morgen noch schnell in der Bibliothek gedruckt hat. Einen Ersatz – Arzt hatten
sie nicht (und Mondkind fällt gerade ein, dass sie die Sache mit dem Rezept
vollkommen verpennt hat… aber da sie von den Medikamenten sowieso rein gar
nichts merkt, ist das vielleicht auch alles nicht so wichtig…).
Also
sitzt sie gleich ihrer Therapeutin gegenüber.
Und
bevor es auf irgendeine andere Schiene gehen kann, erwähnt Mondkind, dass sie
einen Zettel dabei hat. Und dann wäre es zumindest mal gesagt. Das, was Mondkind
nicht erzählen kann. Was selbst bei ihr in der Trockenübung zu Hause nicht
funktioniert.
Aber
ihre Therapeutin hat andere Pläne. Es geht um die Reise, die Mondkind ab morgen
antreten soll. Mondkind erklärt, dass sie schon Schwierigkeiten hatte die
letzten 48 Stunden zu überbrücken und keine Ahnung hat, wie sie das machen
soll.
Sie
reden darüber, was Mondkind alles tun kann. Dass sie eben auch nein sagen kann.
Oder früher fahren kann. Ja, kann man alles machen. Aber nicht, wenn man
Familienmitglied in Mondkinds Familie ist. Und ihr Vater, der ihr gleich das
nächste Mal die Ohren lang ziehen wird, dass sie mitgefahren ist.
„Sie
müssen sich ja auch mal überlegen, wie Sie in Zukunft mit solchen Situationen
umgehen“, merkt die Therapeutin an. „Falls es etwas wie eine Zukunft gibt“,
denkt Mondkind – aber das sagt sie so natürlich nicht.
Mondkind
versucht nochmal den Fokus von ihrer Familie weg auf sich selbst zu lenken.
Erklärt, dass die Familie viel Druck macht, aber dass auch in ihr selbst ganz
viel Druck ist und da viel ist, über das sie nicht reden kann, aber sie dazu ja
den Zettel mitgebracht habe…
Und
irgendwie reden sie wieder über irgendetwas anderes. Völlig aneinander vorbei.
Mondkind ist mittlerweile schon angespannt wie ein Flitzebogen. Das läuft mal
alles in die falsche Richtung.
Ein
paar Minuten später erwähnt sie den Zettel noch einmal. „Also den Zettel zu
lesen schaffen wir jetzt nicht mehr; das ist Ihnen klar“, merkt die Therapeutin
an.
Der
Moment, in dem der Druck einen gewaltigen Sprung nach oben macht. Was soll das
denn alles?
Irgendwann
im Lauf der Stunde merkt ihre Therapeutin an, dass man natürlich nicht einfach
so in die Klinik könne, sobald es mal ein bisschen schwierig werde – allerdings
ohne das Mondkind das nochmal erwähnt hätte.
„Hätte
sie den Zettel gelesen“, denkt Mondkind, „wüsste Sie, dass es nicht erst seit
ein paar Tagen schwierig ist. Sondern, dass sie seit Mitte Februar, als sie das
mal „angetestet“ hat und zu hören bekommen hat „Also wenn Sie sagen, Sie haben
irgendwo den Plan oder die Idee sie wollen sich umbringen, dann geht das nicht,
dass wir sie einfach so nach Hause gehen lassen“ eine sehr genaue Idee hat. Nur
dass ihr das damals das Examen zerschossen hätte. Natürlich hätte man es gar
nicht mehr unbedingt schreiben müssen, aber das wollte sie nicht so sehr an sich heran lassen, weil sie eigentlich schon leben will. Es ist nur schwer ohne Hoffnung.
Mondkind
versucht es nochmal mündlich, aber das funktioniert auch nicht richtig. Sie
berichtet, dass sie sich hinsichtlich des PJs noch gar nicht um irgendeine
Anbindung gekümmert hat, weil es irgendwann… - irgendwann auch einfach mal okay
ist. Wenn man so viel versucht hat. Wenn man sich so oft von Punkt zu Punkt
gehangelt hat. Wenn man so oft dieses „Bis dahin musst Du es noch schaffen und
dann ist es einfach erstmal vorbei“ im Kopf hatte. Wie das Examen. Und dann
feststellt: Es ist nicht vorbei.
Sie
erwähnt, dass wenn sie im PJ keine Anker mehr hat, sich auch um keine gekümmert
hat und im Notfall auch keine finden wird – dass es dann auch wirklich okay
ist. Es stresst sie auch irgendwo nicht mehr so richtig. Sie kann das wirklich
nicht mehr.
Es
war irgendwann Ende Dezember / Anfang Januar, als diese Angst nie wieder aus
dem PJ zurück zu kommen, so real geworden ist. Als es sie tagelang raus gehauen
hat. Solange, bis sie sich beruhigt hat, dass sie nach dem Examen ja noch eine
Chance hat an Perspektiven und an der Hoffnung zu arbeiten. Es hat beruhigt.
Für eine Zeit. Denn auch eine Mondkind weiß, dass es so vieles auf dieser Welt
gibt, das sie noch nicht gesehen und noch nicht erlebt hat und dass sie sich
auch viel wird mit dem Thema Egoismus und Schuld auseinander setzen müssen –
was sie eigentlich schon permanent tut.
Sie
weiß, dass das eigentlich keine Lösung ist. Aber sie sieht keinen Ausweg mehr
aus diesem Grau, aus dieser Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung.
Es
ist dieses winzige Kerzenlicht, das schon seit Monaten unruhig im Wind
flackert. Dieses Licht, das gerade erlischt. In diesem Moment. Jetzt wäre
vielleicht noch der Zeitpunkt gewesen das irgendwie bis zum PJ hinzubekommen.
Mondkind setzt ihre Prioritäten ja anders. Stellt die Uni über sich. Und wenn
sie irgendwo auf dem Weg nicht mehr weiter gehen kann, dann ist das so.
Hauptsache die Uni hat bis zum Schluss funktioniert.
Die
Therapeutin sucht noch nach einem Termin für Mondkind. Zweiter Mai. Letzter
Anker. Diesmal wahrscheinlich wirklich letzter Anker.
„Ich
gehe davon aus, dass wir uns dann sehen“, sagt sie.
„Naja“,
versucht Mondkind es ein letztes Mal. „Wenn ich so die letzten 48 Stunden
bedenke und die Tatsache, dass ich sieben Tage verreise, fällt mir da eine
Diskrepanz auf…“
„Auch
bei ihrer Oma gibt es Kliniken“, meint sie dazu nur. Natürlich. Wenn Mondkind
sich das schon nicht traut hier in die Klinik zu fahren die sie kennt, wird sie
das gerade bei ihrer Oma machen, der sie dann auch noch erklären müsste, was
genau sie vorhat.
Fahren
bedeutet sieben Tage überleben. Denn dort hat sie nicht die Ruhe, die sie
braucht und schief gehen sollte es eher nicht.
Einzige
Möglichkeit wäre noch heute, aber sie hat sich selbst eine Sicherung eingebaut.
Einmal müsste sie tatsächlich noch los, um etwas zu besorgen. Und sie müsste noch ein paar Dinge
organisieren, um so wenig Chaos wie möglich zu hinterlassen.
Es
wird irgendwie knapp alles. Andererseits kann sie sich nicht vorstellen, wie in
ihrem Zustand irgendetwas weiter gehen soll.
Aber
vielleicht sollte sie ohnehin warten, bis sie keine Versprechen mehr bricht.
Auch wenn man ihr das nicht abgenommen hat, sondern eher etwas subtil
formuliert hat. Wenn ihre Therapeutin es nicht mehr mitbekommt. Und vielleicht glaubt, dass Mondkind es geschafft hat irgendwo in der Ferne. Das würde noch mehr als einen Monat bedeuten. Aber sie muss ja nicht viel tun. Nur aufstehen, aushalten, den Tag verleben und wieder ins Bett gehen. Ist nicht so schwer. Muss doch irgendwie machbar sein.
Sie
weiß es gerade nicht.
Auf
jeden Fall ist es aber ein unendliche Schwere und eine Last, die sie kaum
tragen kann. Es wäre ja nicht mal in ihrem Sinn gewesen, dass das in der Klinik
endet. Vielleicht ist es schwer nachvollziehbar, aber über so ein großes und gefühlt
existentiell bedrohliches Thema mal reden zu können und als Person wahrgenommen
zu werden und nicht nur als Teil eines Familiensystems – das wäre der Weg
gewesen, den sie sich heute gewünscht hätte.
Und
jetzt sind die Tränen leer und die Worte verbraucht und der Druck ist immer
noch nicht weniger. Mondkind hatte noch nie so wenig Ahnung, wie sie das alles
schaffen soll. Und irgendwie beschleicht sie langsam die Angst, dass das
jahrelange Kämpfen am Ende für umsonst war. Sie schafft das nicht acht Monate
ohne Anker. Manchmal hat sie geglaubt, dass Hoffnung vielleicht tragen kann.
Dass eine winzige Flamme in der Dunkelheit reicht. Aber nicht mal mehr die gibt
es.
Es
ist schwarz in Mondkind geworden.
Und
vielleicht führt ihre Spur im Sand, die im Lauf der Jahre so viele Umwege
genommen, so viele Wege gekreuzt hat, so oft in eine Richtung gegangen ist, um
ein paar Meter später wieder umzukehren und es mit einer anderen Richtung zu
versuchen, jetzt einfach Richtung Meer. Und irgendwann werden die Wellen ihre
letzten Fußtritte verschlucken.
Mondkind
![]() |
Es sieht fast aus wie Sommer auf dem Weg zur Uni... und Mondkind wünscht sich so sehr dort sitzen zu können und sich die Ruhe anzutun... |
Kommentare
Kommentar veröffentlichen