Tag 113 / 116 Generalprobe
Weiter gehen.
Einfach nur vorwärts.
Unabhängig davon wie die Nacht war. Unabhängig von den Saltos, die der
Kopf schlägt.
Lesen. Schnell lesen. Gelbe Kästen überfliegen.
Altfragen durcharbeiten.
Feststellen, was sie alles nicht kann.
Bis der Kopf schmerzt. Bis die Buchstaben vor den Augen anfangen zu
tanzen. Ob aufgrund der Tränen in ihren Augen oder der Müdigkeit, spielt keine Rolle. Sie weiß
es auch nicht. Vielleicht beides.
Ein Blick aus dem Fenster. Der Rasen vor dem Haus wurde erstmals
gemäht. Die Kirschblütenblätter fliegen schon von den Bäumen. Ohne dass sie
einmal darunter her gefahren wäre. Sie nehmen die Kindheitserinnerungen mit.
Von einem Kirschbaum im Garten ihrer Eltern. Auf dem sie oft saß, als sie klein
war. Bis er abgeholzt wurde. Er nehme das Licht weg, sagten die Eltern.
Ist wirklich schon Frühling?
Sie hatte so gehofft, dass er anders wird. Dieser Frühling. Positiver.
Endlich, nach so vielen Jahren.
Passiert ist das Gegenteil.
Das Zwitschern der Vögel schmerzt beinahe. Und das Sonnenlicht, das durch
ihr Fenster fällt, fühlt sich seltsam fremd an.
Das Examen aus dem letzten Herbst. Generalprobe. Die Prüfung, die sie
auch hätte schreiben sollen.
Gefühlt mehr raten, als wissen.
Um mit einem Klick auf den „Beenden – Button“ das Ergebnis zu
erfahren.
Feststellen, dass sie bestanden hätte. Mit sehr viel Luft nach unten.
Wenn es das echte Examen gewesen wäre, hätte sie allen Grund zufrieden zu sein.
Sie weiß nicht, wie sie das immer macht. Vielleicht ist das in all dem
Wahnsinn ihre größte Stärke. Wenn es gehen muss, dann geht es irgendwie.
„Wenn man nirgendwo hinfliehen kann, lernt man durchzuhalten.“
Mondkind sei leidensfähig, sagte mal jemand. Ob das gut oder schlecht
ist? Sie weiß es nicht.
Zuversicht. Ein ganz kleines bisschen.
Sie darf sich so viele Fehler mehr erlauben und hätte immer noch
bestanden. Und darum geht es in erster Linie. Erstmal nur das Ding bestehen.
Damit es objektiv gesehen zumindest eine Belastung weniger gibt.
Und danach ein paar Tage nach Möglichkeit nur überleben. Fast eine
Woche. Das ist Aufgabe genug im Moment. Und hoffen. Hoffen, dass da irgendein
Wunder in der Ambulanz passiert. Dass irgendjemand irgendwo einen Weg sieht. Einen Pfad zwischen dem Dickicht, den Mondkind übersehen hat.
Wegpunkt. Einer der letzten.
Wegpunkt. Einer der letzten.
Ich wünsche allen Lesern einen guten Start ins Wochenende!
Mondkind
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