Der neue Alltag


Halb 6 in der Früh. Der Wecker klingelt. Eigentlich viel zu früh, aber Mondkind braucht die Zeit morgens, um sich auf den Tag vorzubereiten.
Kaffeemaschine anstellen. Ins Bad gehen. Erst mal die Boxen einschalten, den mp3 – Player anschließen und Musik anmachen. Christina Grimmie – I won’t give up. Die Aufnahme hat sie von einem Konzert in Boston gefischt...
Mondkind hört sie deshalb so gern, weil man ihr jedes Wort ihrer Songs abnimmt. Und weil ihre Stimme es schafft morgens ihr Herz zu berühren und ihr etwas von dieser Einstellung mit auf den Weg gibt. „Deception“ kommt direkt danach.

Mit Müsli – Schale und Pc an den Tisch. Schnell noch ein wenig aufräumen in ihrem Kopf. Ein paar Worte an ihr Tagebuch.
Dann in die Klamotten schlüpfen und die am Vorabend gepackte Tasche anschnappen.
Den Schlüssel im Schloss drehen. Hoffentlich geht alles gut. Hoffentlich sind keine gravierenden Fehler passiert, wenn sie wieder kommt. Hoffentlich ist sie nicht eingebrochen, hat ihre Haltung und Maske verloren, hinter der sie Angst und Unsicherheit versteckt.

Vor der Frühbesprechung hilft Mondkind bei den Blutabnahmen. Nachdem sie das nun schon wieder einige Tage macht, ist ihre Erfolgsquote schon ganz gut und sie kommt morgens auch weniger durchgeschwitzt in der Frühbesprechung an.
Je nachdem, was sie am Vortag gemacht hat, muss sie dort ihre Patienten vorstellen. Hoffentlich kommt keine Rückfrage der Oberärztin, die meistens – nicht nur von ihr – nicht beantwortet werden kann.

Während der Frühbesprechung klingelt ein Telefon. Eine halbe Minute später raunt es einmal quer über den Tisch: „Mondkind, gehst Du bitte in die Notaufnahme. Dort ist ein Patient.“
Mulmiges Gefühl. Was wartet dort unten auf Mondkind, während alle anderen noch in der Frühbesprechung sitzen?
Eine Schwester kommt ihr entgegen. „Ein Mann mittleren Alters mit Atemnot und Schmerzen in der Brust.“
„Lungenembolie und Herzinfarkt“, schießen Mondkind als mögliche Katastrophen in den Kopf.
„Haben wir ein EKG? Sind schon Trop und CKs abgenommen worden?“, fragt sie.
Die Schwester bringt das EKG an, das Labor sei noch nicht fertig.
Mondkind ist kein EKG – Guru. Auf den ersten Blick schaut es ganz gut aus, aber im Zweifel und in der Situation selbst, sieht alles aus wie eine Hebung oder Senkung und je länger sie drauf schaut, desto unsicherer wird sie.
Sie erhebt die Anamnese beim Patienten. Alles hört sich danach an, als sei es das Herz, auch wenn das EKG nicht die klassischen Befunde hergibt. Er ist auch familiär massiv vorbelastet und hat schon einen Bruder auf die Art verloren. Mondkind wird die Sache allmählich zu heiß. Was soll sie denn machen? Sie würde ja einen Herzkatheter vorschlagen, dann müsste der Patient aber auf den Berg verlegt werden – was sie nicht ohne Rücksprache machen kann. Oder kann man erstmal Nitro geben und schauen was passiert? Der Blutdruck ist nicht exorbitant hoch, aber eine Besserung der Beschwerden würde vielleicht die aktuelle Akuität nehmen und ein weiterer Hinweis sein.
Mondkind wählt die Nummer ihrer Ärztin. „Ich komme gleich“, sagt sie etwas genervt. „Gleich“ kann ewig dauern. 10 Minuten später ist sie da. Mit Nitro geht es dem Patienten etwas besser und es wird beschlossen, ihn zu verlegen, um einen Herzkatheter zu machen.
Mondkind ist etwas über eine Stunde da und schon durch mit den Nerven.

Der nächste Fall: Ein Patient, der vom Hausarzt mit Verdacht auf Gastroenteritis eingewiesen wurde. Das sieht nicht so schwer aus – das kann Mondkind machen und dabei gleich ihre Sono – Kenntnisse auffrischen. Was der Patient erzählt, hört sich allerdings so gar nicht nach GE an. Was hat der Hausarzt da auf seine Einweisung geschrieben?
Mondkinds Ärztin hakt sich kurz ein und meint, es könnten eher Gallensteine sein, Mondkind solle im Sono mal den DHC suchen und ihn messen. Eine eher schwierige Angelegenheit.
Allerdings ist der Bauch des Patienten merkwürdig. Aufgebläht und verhärtet, es fühlt sich eher an, als habe er eine Platte unter der Bauchdecke.
Auch im Sono kommt Mondkind schwer zurecht. Irgendwie scheint nichts an Ort und Stelle zu sein und da sind so viele Strukturen, mit denen sie nichts anfangen kann.
Hat sie alles verlernt?
Mondkind ruft die Sono – Ärztin an. Die macht seit 20 Jahren nichts anderes als Sonographie. Mondkind soll mit ihrem Patienten vorbei kommen. Auf dem Weg dahin wird ihm plötzlich schlecht und er erbricht sich, nachdem Mondkind ihn gerade noch rechtzeitig zur Toilette geleitet hat.
Er besteht darauf zu Fuß weiter zu gehen, aber Mondkind beschließt einen Rollstuhl zu holen. Ein Zusammenbruch auf den Flur fehlt ihr gerade noch. Wieder mal eine Lektion gelernt. Mit kranken Patienten sollte man nicht zu Fuß gehen, auch wenn sie behaupten, es ginge ihnen noch so gut.
Bleiben wolle der Patient aber auch auf gar keinen Fall, wie er Mondkind mittlerweile sitzend und mit seiner Akte auf dem Schoß erklärt.
Sonoraum. Es ist still. Auch die Sono – Ärztin sucht lange. „Ich rufe mal den Chef an“, sagt sie irgendwann.
Am Ende ist es am Chef dem Patienten zu erklären, dass er mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Darmkrebs hat. Der verhärtete Bauch kommt durch Metastasen unter der Bauchdecke zu stande.
Die Ehefrau des Patienten weint. Und auch Mondkind geht es nicht gut.
Der Chef erklärt, dass man noch nicht den Teufel an die Wand malen müsse und die Chirurgen viel hinbekommen. Er versucht die Wahrheit nicht zu verleugnen, aber irgendwie doch Hoffnung zu machen in diesem Augenblick des Schreckens. Man merkt ihm eine Routine an. Er ist einfühlsam, aber er weiß auch, wo er fein dosiert die Hoffnung einbauen muss, um die Leute aufzufangen.
Es ist gerade mal 10 Uhr und Mondkind ist durch für heute. Aber es hilft nichts – auf sie warten mindestens noch sechs Stunden.

Viel später am Nachmittag. Mondkinds Füße tragen sie kaum noch und sie hofft, dass niemand ihr subjektiv gefühltes, müdes Schlurfen über den Gang mitbekommt. Die Notaufnahme war voll. Eine Pause hatte Mondkind nicht – sie hatte nicht mal Zeit etwas zu trinken.
Und um 5 Uhr ist die Situation in der Notaufnahme soweit im Griff, dass sie guten Gewissens gehen kann. 



Abstecher durch den Park...

Zurück nach Hause. Tagebuch schreiben. Den Berg hinauf in die Klinik laufen. Mails abrufen. Mails schreiben. Sich um den Mietvertrag kümmern, auf dem das falsche Datum steht.
Und schon wieder Zahnschmerzen. Mondkind war ja erst beim Zahnarzt – eigentlich kann es nicht so schlimm sein. Und dennoch wieder Sorge. Es ist schlimmer als noch in der Examenszeit. Was macht sie, wenn es nicht besser wird? Sie hat nichtmal jemanden, der sie zum Arzt begleitet. Warum müssen es auch immer die Zähne sein? Warum kann sie denn nicht mal Ohren- oder Kopfschmerzen haben? Das ist auch blöd, ohne Frage. Aber bringt zumindest nicht die Angst vor dem Arztbesuch mit sich.

Mondkind kann sich an die Worte des Neuro – Oberarztes erinnern. Jeder habe ich am Anfang überfordert gefühlt. Vielleicht muss Mondkind da jetzt einfach durch und hoffen, dass ihr Körper nicht zu sehr spinnt. Auch wenn der Oberdoc es ihr angeboten hat, aber sie möchte die Neuro und die Innere nicht tauschen. Er würde es für sie versuchen angstfreier zu gestalten, aber Mondkind weiß auch, dass es dann viele Fragen und viel Gerede geben wird und das möchte sie einfach nicht. 

Mondkind

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