Letzte Therapiestunde vor dem PJ
Letzte Therapiestunde für… - ja, für wie lange eigentlich… ? Alleine
keinen festen neuen Termin zu haben, stresst Mondkind unfassbar.
Wegen der nahenden Feiertage ist die Ambulanz heute wieder in die
Tagesklinik umgezogen. Mondkind mag die Räume dort irgendwie nicht so sehr. Es
wirkt alles so viel größer und nicht so familiär, wie in der Ambulanz.
An der Anmeldung sagt sie, dass sie einen Termin bei der Therapeutin
hat. Die Dame sucht sehr lange in ihrem Pc herum und Mondkind hat schon Sorge,
dass es irgendeine Fehlkommunikation gab. „Sie sind aber nicht für eine Studie
da… ? Einfach nur für ein normales Gespräch?“, fragt sie, wobei sie „nur“ und „normal“
betont und Mondkind irgendwie das Gefühl hat, von ihrem Blick durchbohrt zu
werden. „Ja“, entgegnet Mondkind. „Dann setzen Sie sich am Besten in den
Wartebreich“, erklärt sie Mondkind… - naja, wohin auch sonst…?
Mondkind merkt, dass sie ein wenig zittert. Gerade war sie noch in der
Anatomie gewesen und es hatte ein ziemlich ungeplantes Gespräch mit dem
Betreuer ihrer Doktorarbeit gegeben. Dadurch war sie auch noch zu spät los
gekommen und musste sagen, dass sie jetzt einen wichtigen Termin hat, nachdem
sie gehofft hat, dass das Gespräch noch irgendwie allein zu einem Ende findet.
Der Stress, die neuen Ideen und die Schwierigkeit der Umsetzbarkeit
und die Themen, die sie auf dem Herzen hat, stressen sie.
Irgendwann hört sie das Klackern von Schuhen den Gang herunter kommen.
Irgendwie hat ihre Therapeutin eine einmalige Art zu laufen. Es laufen ja viele
Menschen mit Geräusche produzierenden Schuhen umher, aber ihre Therapeutin
erkennt Mondkind immer, bevor sie sie gesehen hat.
„Hallo Frau Mondkind“, wird sie begrüßt, „Wie geht es Ihnen…?“
„Och ja…“, gibt Mondkind zurück.
„Ich merke schon…“, seufzt die Therapeutin mit einem Lächeln „Sie
sehen gestresst aus.“
„Ja, ich komme gerade aus der Anatomie – das lief alles etwas
ungeplant heute…“
„Okay, dann kommen Sie erstmal hier an. Ich würde Ihnen ja jetzt einen
Tee anbieten, aber leider weiß ich auf die Schnelle auch nicht, wo ich hier
einen herbekomme; bei uns drüben wäre das etwas Anderes.“
„Kein Problem, es geht schon…“, sagt Mondkind. Und wundert sich doch
sehr über dieses Angebot, das sie da gerade gehört hat. So etwas hat ihre
Therapeutin noch nie zu ihr gesagt…. Aber es ist sehr nett und wird Mondkind im
Lauf der Stunde noch den Schubs geben, ehrlich zu sein. Es sind eben diese
winzig kleinen Dinge zwischen den Zeilen, die Mondkind Vertrauen fassen lassen.
Zunächst mal geht es kurz um die Anatomie. Den akuten Stress ein wenig
reduzieren. „Machen Sie sich da keinen Druck. Sie tun, was Sie tun können und
auf deren Seite wurde ja auch eine Menge Zeit vertrödelt. Und jetzt sind Sie
eben einfach erstmal nicht da…“
Im Anschluss ist - wie so oft - Thema, wie weit Mondkind jetzt mit der
Organisation des PJs ist. An der Stelle läuft ja zum Glück alles. Zwar wartet
sie immer noch auf die Mail vom Oberdoc der Neuro, aber der hat sie ja für
heute angekündigt.
„Was gibt es sonst noch so…?“, fragt die Therapeutin.
„Naja, da gibt es schon noch so eine Sache…“, sagt Mondkind. „Also… -
die war schon vorher da, aber irgendwie hat Paris da nochmal ein bisschen rein
gehauen…“
„Ach ja – sie waren ja in Paris, wie war es denn?“
„Naja… - erwartungsgemäß gab es da eine Menge Reibereien, aber ich
habe einfach versucht das Beste daraus zu machen. Etwas schwierig für mich war
noch die Sache mit Messerstecherei…“
„Stimmt, das kam in den Nachrichten… - haben Sie etwas davon
mitbekommen?“
„Ja, die war direkt vor unserem Hotel…“
„Ernsthaft…? Oh shit…“
„Okay“, sagt Mondkind und gibt sich einen Ruck. „Also das ist nicht so
ganz einfach, ich habe auch einen Zettel mitgebracht, wenn es nicht geht, aber
ich versuche es."
Und dann berichtet Mondkind. Die letzten beiden Therapiestunden haben
sie ein wenig raus gehauen. Und sie wusste lange nicht, warum. Denn im Prinzip
war doch alles okay. Langsam bildeten sich Lösungen, langsam ergaben sich
Perspektiven für die Zeit im PJ. Es lief doch gerade gut… - also wo war das
Problem?
Letzten Endes hat es ihr der Blogpost „Leben und Überleben“ vor ein
paar Tagen bewusst gemacht. Mondkind war immer der Auffassung, dass die
Ambulanz raus ist, wenn sie geht. Sie kann das auch nachvollziehen und sie hat
einfach nicht damit gerechnet, dass die sich da jetzt so hinein hängen, auch
wenn Mondkind das sehr schätzt und sehr dankbar dafür ist.
Das PJ war für sie lange wie Roulette spielen. Einige Zeit – im letzten
Dezember – war ja gar nicht klar, ob sie das überhaupt noch versuchen möchte.
Dazu hat sie sich ja mittlerweile durchgerungen. Eigentlich weniger wegen ihr
selbst – sie tut ja kaum etwas für sich – sondern mehr wegen des Oberarztes.
Weil er sich so viel Mühe gegeben hat, Mondkind dorthin zu holen. Weil er für
so viele Dinge eine Lösung gefunden hat. Und weil er „sehr traurig und
enttäuscht“ wäre, wenn sie nicht käme. Diese eine Mail mit diesem einen Satz,
dem er vielleicht gar keine so große Bedeutung beigemessen hat, hat alles
verändert.
Aber für Mondkind war es in den letzten Wochen ein Weggehen mit offenem
Ende. Eigentlich hätte es nur zwei Möglichkeiten gegeben. Die eine Möglichkeit,
die sich alle – auch Mondkind – wünschen. Dass es ein Wendepunkt wird. Eine
gute Zeit. Dass Mondkind Fuß fasst, dass es ihr psychisch besser geht und sie
stabiler wieder hochkommt.
Die zweite Möglichkeit wäre gewesen, dass all das nicht passiert. Dass
es trotzdem heftige Krisen gibt und sie damit alleine ist. Und da hilft es eben
auch nicht, wenn ein noch so lieber Oberarzt sie fünf Mal am Tag fragt, ob
alles okay ist und sie mal ein oder zwei Tage eher gehen lässt. Da müssen
andere Hilfen ran. Oder… - wenn es gar nicht besser wird, dann kommt Mondkind
vielleicht einfach nicht mehr hoch.
Der Zeitpunkt wäre „günstig“. Freundschaften kann man durch die Ferne
ein wenig lockern, sodass die Leute der Auffassung sind, im Guten auseinander
gegangen zu sein. Die Ambulanz… - ihr wird nach acht Monaten keiner hinterher
telefonieren. Wenn sie nicht mehr auftaucht, könnte man auch meinen, sie habe
den Absprung geschafft und brauche all
das nicht mehr.
Bleibt noch ihre Familie. Mondkind sagt, dass sie jetzt mal die
Grundsatzdiskussion um Egoismus und Schuld raus lassen möchte, aber ihre Therapeutin
sich sicher sein könne, dass sie sich darüber täglich den Kopf zerbricht. Sie
ist da aber mittlerweile zwiegespalten, sagt sie. Dass man sie vielleicht nicht
verstehen kann, kann sie nachvollziehen. Wer es nicht erlebt hat, kann es
wahrscheinlich nicht verstehen und vielleicht ist das auch ein Segen für die
Leute. Die Tochter von ärztlicher Hilfe fernzuhalten ist aber nochmal eine andere
Nummer. Mondkind will das im Fall der Fälle nicht als „Racheakt“ verstanden
wissen – dazu ist ein Leben doch zu wertvoll – aber sie fragt sich, wie viel
Verantwortung sie den anderen gegenüber wirklich hat, wenn sie sich doch
bemüht, dass es nicht so endet, aber man sie überhaupt nicht lässt.
Jedenfalls… - über das Familiending müsste man nachdenken, aber
ansonsten ist der Zeitpunkt im PJ so schlecht nicht und würde vielleicht den geringsten Schaden von Mitmenschen produzieren.
Und dann kommt die Ambulanz um die Ecke und hängt sich mit hinein und
schafft das Bild einer Zukunft, das es bis vor wenigen Wochen nicht gab. Krisen
können damit überlebt werden, wenn Mondkind das will.
„Es gibt immer für alles Lösungen – dann muss man halt danach suchen…“,
hakt die Therapeutin ein.
Mondkind erklärt, dass der Punkt für sie dabei eigentlich ist, dass
jetzt wieder ein Überleben der acht Monate möglich ist, wo sie doch schon ein
wenig damit abgeschlossen hatte, dass das ihr letzter Sommer wird. So böse ist
sie auch nicht darüber, weil sie weiß, dass es nur die Verzweiflung ist, die
sie so denken lässt und sie hofft einfach, dass sie sich in 20 Jahren mal
dankbar dafür sein wird, so einen weiten Weg gegangen zu sein.
Aber… - Ziel war eben lange nur Überleben. Und auch jetzt ist es das
wieder. Wie bekommt man Mondkind über die acht Monate? Was braucht sie für
Unterstützung? Es geht gar nicht um Lebensqualität, dazu ist ihr Zustand immer
noch zu akut. Das wäre einfach das Sahnehäubchen und im Moment braucht Mondkind
so viel Kraft und Unterstützung um das PJ überhaupt zu schaffen, dass man sich
um solchen „Luxus“ einfach nicht kümmern kann.
Und sie weiß nicht, was das langfristig noch für einen Sinn hat.
Und dann kommt eben auch Paris ins Spiel. Mondkind führt aus, dass ihr
klar ist, dass sie nicht für das Leid der Welt verantwortlich ist, aber, dass
sie sich schuldig fühlt, dass es nicht jemanden wie sie hätte treffen können,
die doch vom Leben ohnehin nicht mehr so viel möchte.
Nach diesem Monolog ist Mondkind warm geworden im Therapiezimmer. Aber
sie ist ein bisschen stolz auf sich, dass sie alles ohne Zettel erzählen
konnte.
„Wie akut ist das jetzt gerade?“, fragt die Therapeutin.
„Naja, wie gesagt… - ich möchte es versuchen mit dem PJ. Also im
Moment ist es einigermaßen sicher, würde ich sagen. Halt hauptsächlich wegen
des Oberarztes, nicht wegen mir…“
„Na okay, den gibt es ja zum Glück…“
Die Therapeutin erklärt, dass es Mondkind natürlich langfristig zu
wünschen wäre, dass sie stabiler wird. Dass sie nicht nur für die Anderen,
sondern auch ein bisschen für sich selbst lebt. Immer wieder legt sie Mondkind
ans Herz, es nochmal mit einander anderen Therapieform zu versuchen. Sie fügt allerdings auch hinzu, dass das eine Weile dauern wird. Mondkind müsse keine Angst haben ein Leben lang in Therapie zu sein, aber da es bei ihr schon so viele Jahre so geht und die Dinge so tief sitzen, wird man auch lange brauchen, um das zu lösen. Und sie wird immer ein bisschen Rücksicht nehmen und neue Situationen gut planen müssen. Das sei ein bisschen wie bei Herzkranken, erklärt ihre Therapeutin. Die müssten ja auch auf bestimmten Dinge achten. Das müsse Mondkind eben auch.
„Ich habe halt immer so viele Probleme mit neuen Menschen zusammen zu
arbeiten. Und dann dauert das ewig, bis ich denen wieder vertraue“, erklärt
Mondkind.
„Das ist das Problem bei Ihnen, ich verstehe das“, sagt die
Therapeutin. „Aber das sollte sie nicht davon abhalten.“
Im nächsten Jahr wird das aber nichts. Denn Mondkind ist laufend
woanders. Jetzt acht Monate eben dort wo sie ihr PJ macht, dann auf jeden Fall
wieder vier Monate in der Studienstadt und dann weiß man nicht, wo es sie
hinverschlägt. Das macht in Mondkinds Fall einfach keinen Sinn jetzt irgendwo
einen Therapeuten zu suchen, wenn Mondkind mit dem Ablöseproblem und in der Folge
mit der Herausforderung konfrontiert ist, wieder jemand neuen zu vertrauen.
Schon dass – obwohl die Frequenz ja jetzt massiv gedrosselt wird, wenn
es überhaupt klappt – sie ihre jetzige Therapeutin verlieren wird, macht ihr
Angst genug. Wenn sie das irgendwann – wahrscheinlich nach Monaten – überwunden
hat, möchte sie das eigentlich alles nicht nochmal.
„Sie sind gerade auch in einer schwierigen Lebenssituation“, erklärt
die Therapeutin. „Es gibt zwar einen vagen Plan von einer Zukunft, aber man
weiß noch nicht, wie das alles laufen wird und dann muss ja auch erstmal noch
das mündliche Examen bestanden werden. Nicht zu wissen was wird, ist gerade für
Menschen wie Sie sehr schwierig.
Vielleicht wird es auch besser, wenn sich die Lebenssituation verändert und es mehr Sicherheiten gibt. Das kann wirklich sein.“
Sie erklärt auch, dass wenn es in der Ferne nicht geht, sie jederzeit
wieder hochkommen kann. „Und sonst ist auch nach den acht Monaten oder nach der
mündlichen Prüfung nochmal Zeit die Thematik intensiver – vielleicht auch
nochmal mit einem Klinikaufenthalt - anzugehen…“
„Dann würde sich ja alles nochmal ein halbes Jahr verschieben…“
„Frau Mondkind, was ist ein halbes Jahr im Gegensatz zu… - Sie wissen
schon…“
„Ich weiß…“, erwidert Mondkind, „die in der Klinik haben mir auch klar
gemacht, dass das am Ende eine lebensbedrohliche Krankheit ist und das voll
überzogen klingt, aber einfach so ist. Allerdings setze ich die Prioritäten für
mich da eben immer etwas anders… ich weiß auch nicht, warum das so ist…“
„Ich weiß…“, sagt die Therapeutin.
Am Ende geht es noch darum, was Mondkind machen kann, wenn sie am
Montag alleine dort ist.
„Manche möbilierte Wohnungen sind sehr schön eingerichtet, manche aber
auch nicht. Machen Sie es sich ein bisschen hübsch, stellen Sie die Möbel um
oder hängen Sie Poster an die Wand. Wenn Sie so lange weg sind, müssen Sie es
sich da schon ein bisschen gemütlich machen…“
„Oder ich gehe um die Salzburg und schaue nach, ob meine Lieblingsbank
noch da ist…“, sagt Mondkind.
„Oder das… - Hauptsache Sie machen sich einen Plan…“
Die Stunde neigt sich dem Ende. „Soll ich Ihnen noch etwas zum Thema
Achtsamkeit mitgeben?“, fragt die Therapeutin. „Wenn Sie etwas da haben“,
antwortet Mondkind. Der Ordner stehe jetzt drüben in der Ambulanz, aber sie
schaue mal im Computer nach, was da hinterlegt sei. Sie sucht sich da echt zu
Tode und Mondkind genießt es einfach noch ein paar Minuten da sitzen zu können.
Nichts mehr sagen zu müssen und sich einfach sicher zu fühlen.
Schließlich fängt der Drucker an zu grummeln und eine ganze Reihe
Zettel werden ausgespuckt.
Zwischendurch entwickelt sie die Idee, dass sie Mondkind ja auch ein
paar Blätter per Mail schicken könnte. Ob das dann am Ende vom Tisch war, hat
Mondkind dann gar nicht mitbekommen, also vielleicht flattert ja noch eine Mail
von ihr rein. Das wäre ja mal Premiere, dass Mondkind nicht zuerst schreibt.
„Okay“, sagt die Therapeutin, „ich wünsche Ihnen alles Gute. Ich glaube wirklich, dass das richtig gut werden kann. Und Sie
melden sich…“
„Ja, ich schreibe Ihnen dann irgendwann“, erwidert Mondkind, „hoffentlich
werde ich viele positive Dinge berichten.“
Als Mondkind die Tür hinter sich zuzieht, muss sie sich bemühen, ihre
Tränen hinunter zu schlucken. Es war ein gutes Gespräch, der Druck ist ein
etwas weniger in ihr. Aber alles, was sich ab dem heutigen Nachmittag aufstaut,
muss sie erstmal aushalten. Sie sollte mal mindestens zwei bis drei Wochen
verstreichen lassen, bis sie sich meldet und überhaupt einschätzen kann, wie es
läuft.
Manchmal würde Mondkind ihr ja doch gern die Blogadresse geben. Einfach, damit sie vielleicht zwischen den Zeilen Mondkinds Dankbarkeit spürt und sieht, wie weit sie Mondkind auf ihrem Weg gebracht hat. Job hin oder her, aber manche Dinge sind einfach unbezahlbar. Und das gehört dazu. Ohne ihre Therapeutin wäre Mondkind heute nicht da, wo sie jetzt steht. Aber das wird Mondkind natürlich doch nicht tun.
![]() |
Mondkinds Lieblingsbank in der Ferne... - okay, sieht nicht so einladend aus, aber die Lage ist perfekt. Hinter der Burg, wohin sich kaum eine Menschenseele verirrt mit Blick ins Tal. |
Mondkind
Kommentare
Kommentar veröffentlichen