Von Licht und Schatten


Gestern.
Es war ein ereignisreicher Tag.

Mondkind musste sich endlich mal darum kümmern, einen Staubsauger zu beschaffen. Das war wieder eine kleine Herausforderung. Da das Fahrrad beim Staubsaugertransport wenig nützlich ist, ist Mondkind zum Elektrohändler ihres Vertrauens gelaufen. Zum Glück gibt es hier zumindest einen. Zwar hat sie sich schon gebildet, was beim Staubsaugerkauf zu beachten ist, aber eine fachkundige Beratung schadet ja trotzdem nicht. Nachdem sie sich alle Modelle angeschaut hat, bedeutet das auf die Verkäufer zuzugehen und sie zu fragen. Soziale Interkation mit fremden Menschen – immer schwierig für Mondkind. Aber die Überwindung lohnt sich – einer der Staubsauger ist nämlich gerade im Angebot. Zwar ist er etwas teurer, als Mondkind veranschlagt hat, dass es wird, aber der Verkäufer versichert ihr, dass sie daran lange ihre Freude haben wird. Mondkind hofft, dass er Recht hat, aber als sie ihn zu Hause zusammenbaut und ausprobiert, ist sie begeistert. (Allerdings ist es auch nicht schwer, besser als der kaputte WG – Staubsauger zu sein, der eher Show als alles andere war).


Nachdem sie noch ein Paket abgeholt hat, fährt sie zum dritten Mal los in die Stadt, um Lebensmittel einzukaufen.
Als die mit dem Einkaufszettel in der Hand den Laden durchstöbert, bemerkt sie plötzlich von hinten eine Hand auf ihrer Schulter. „Hallo Mondkind, wie geht es Dir?“ Es dauert ein paar Millisekunden, bis Mondkind diesen Menschen vor ihr mit Kappe auf dem Kopf und Dreitagebart einordnen kann. Einer der Oberärzte aus der Neuro. Der, den sie letztens noch im Vorbeigehen getroffen hatte.
Ein kurzer Plausch im Supermarkt. „Mondkind, ich habe das Auto hier. Wenn Du willst, kann ich Dich gerne mitnehmen…“ Mondkind bedankt sich für das Angebot, sagt aber, dass sie ihr Fahrrad dabei hat. Allerdings stellt sich im Lauf des Gesprächs raus, das Mondkind heute Morgen schon Staubsauger kaufen war und das wirklich eine eher aufwändige Aktion war. „Mondkind – wieso sagst Du denn nicht Bescheid… ?“, fragt er fast ein wenig vorwurfsvoll. „Mein Kollege (damit meint er „Mondkinds Oberarzt“) oder ich fahren Dich doch gerne!“ Mondkind bedankt sich noch einmal.

Es ist dieses Gespräch von nur wenigen Minuten, das Mondkind den Rest des Nachmittags beschäftigt. Mondkind ist eine PJlerin und die beiden Oberärzte ihre Chefs. Und eigentlich sind sie im Moment noch nicht mal ihre Chefs und es könnte ihnen einfach völlig egal sein, was Mondkind macht oder auch nicht. Und wie sie zurechtkommt.
Mondkind kann sich erinnern, dass es in ihrem Elternhaus immer Theater um das Auto gab. Als sie ausgezogen ist, wurde ihr das Auto weggenommen, ohne dass jemals darüber diskutiert worden wäre. Wenn sie gefragt hat, ob sie sich das Auto mal leihen könne oder sie jemand fahren könne, hieß es nicht selten „nein“ und es war den anderen egal, wie Mondkind das jetzt macht. Und als Letztes wurde sogar noch kurz vor dem Auszug die Versicherung so geändert, dass Mondkind zum Kisten verteilen nicht mal das Auto hatte.
Mondkind hat sich darüber geärgert, aber es akzeptiert. Und dann kommen Menschen wie ihre beiden Oberärzte daher und sind einfach so fürsorglich. 

Sonntags im Park... 😏

Letztens hat ihr jemand folgenden Satz geschrieben: „Du wirst also sehr achtsam mit dir sein müssen, aber wenn sich das Gefühl für Freude mit dem Licht verbindet, werden die Dämonen der Finsternis ebenfalls spürbar.“
Und das stimmt. Manchmal weint Mondkind, weil sie so unendlich dankbar für solche kleinen Dinge ist. Und manchmal weint sie, weil es einfach weh tut. „Nachträgliches Verlustgefühl“ hat ihr Ergotherapeut diese Situationen damals genannt. Diese Situationen, wenn die Schatten, die vorher unsichtbar waren nun im Licht um sie herum tanzen und ihr so bewusst machen, was ihr jahrelang gefehlt hat. Akzeptiert und geschätzt werden. Unterstützung. Oder zumindest, dass die Menschen nicht gegen sie arbeiten. Dass sie ihren Weg gehen und ihre Ziele verfolgen darf.
So viele Jahre lang konnte Mondkind nur in Dunkelheit und Ziellosigkeit überleben. Was nützt es Ziele zu haben, wenn jeder versucht Mondkind an deren Umsetzung zu hindern?
Auch hier zu sein ist im Prinzip nicht richtig, denn wie kann Mondkind es wagen sich zu entfernen und sich damit der Steuerung ihrer Familie ein Stück weit zu entziehen?

Mondkind erlebt hier einen krassen Gegensatz zu ihren Erfahrungen der vergangenen Jahre. Während sie zu Hause immer Ursache des Problems war, wird sie hier geschätzt und anerkannt. Ein Zustand, mit dem sie fast ein wenig überfordert ist. Jedenfalls glaubt sie nicht, dass sie jemals einen der Ärzte bitten wird, sie umher zu fahren, auch wenn das einige Dinge massiv vereinfachen würde. Der Fernbus in ihre Studienstadt fährt zum Beispiel 15 Kilometer entfernt von hier von einer Autobahnraststätte (wer bitte denkt sich so etwas aus) ab. (Oder eben 100 Kilometer entfernt von einem Bahnhof…) Dorthin zu kommen ist organisatorisch ohne Hilfe fast unmöglich. Aber sind 30 Kilometer Fahrtaufwand nicht ein bisschen viel, um das einem fremden Menschen zuzumuten?

Mondkind weiß, dass das alles nur auf Zeit ist. Sie wird ihren Status als PJlerin verlieren. Vielleicht bekommt sie hier auch gar keinen Job.
Sie hat Angst davor, in diese „große Familie“, wie sich hier alle nennen, hinein zu wachsen. Einen Platz zu finden. Hände zu finden, die dieses Herz aus Glas, das schon viel zu oft gesprungen ist, vorsichtig über den Sommer zu tragen.
Sie möchte sich hier integrieren und gleichzeitig möchte sie das nicht, weil sie Angst hat ein nächstes Mal zu fallen, wieder ein paar Sprünge mehr davon zu tragen und irgendwann endgültig zu zerfallen.

Es ist seltsam überfordernd mit dem Licht in ihrem Leben umzugehen. Aber sie möchte es versuchen. Es annehmen. Jetzt in dem Moment zu leben. Dankbar zu sein, für alle zwischenmenschlichen und medizinischen Dinge, die sie hier hoffentlich lernen wird.
Um dann vielleicht ein bisschen stärker diesen Ort irgendwann wieder zu verlassen.

***

Und genau diesen Zustand habe ich schon im März 2016 bei meinem ersten Aufenthalt hier versucht einzufangen.
 

Es ist eine komische Zeit. Ich hatte noch nie so intensiv das Gefühl lachen und weinen gleichzeitig zu können wie im Moment.
Es ist so perfekt. Ich kann sagen: „Es ist gut so, wie es ist“. Und das ist es wirklich. Da ist ein Gefühl von Zuversicht. Ein Gefühl von „ich weiß noch nicht wie, aber das wird schon alles“. Das ist ein Zustand, den es bei mir so selten gibt, dass es beinahe ein bisschen befremdlich ist.
Und gleichzeitig weiß ich: Es ist nur auf Zeit. Es wird nur halten, bis ich zu Hause bin. Wenn überhaupt. Ich habe Angst zurück zu gehen. Ich weiß, dass ich dann wieder gegen mich selbst kämpfe und dass ich die Sonnenseiten die ich hier erlebt habe bereue, weil ich das nie hätte machen dürfen.
Und ich möchte das nicht mehr. Ich möchte nicht loslassen, dass ich das gerade mal nicht tun muss.


Es wird Dinge geben, die wird zu Hause nie jemand erfahren dürfen. Dass wir heute zu neunt runter in die Stadt gelaufen sind, im herrlichsten Sonnenschein ohne Jacke auf dem Marktplatz saßen und das erste Eis des Jahres gelöffelt haben.
Dass wir später gemeinsam in den Sonnenuntergang laufen.
Die ersten Ausläufer des Frühlings. Und es ist eines der ersten Jahre, in dem das zumindest jetzt nicht weh tut. Eigentlich ist das absolut verboten, aber weil es hier ohnehin keiner mitbekommt, ist es egal. Und es ist so wunderschön mit der Natur aufzustehen. Den Frühling zu fühlen.

Mondkind

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