Tag 78 / 116 Pädiatrie I



„Senden“
Sie hat vor ein paar Tagen lange gebraucht, um auf den Button zu drücken.
Und dann irgendwann hat sie ihren Kopf ausgeschalten und es einfach gemacht – sonst hätte sie wohl noch Stunden vor dem Laptop gesessen. Sie hat auf den Button gedrückt und damit ihren Rücken vielleicht noch näher an die Wand befördert, als er das ohnehin schon war.

„Ich habe wieder angefangen zu rauchen“, erklärt ihre Freundin ihr.
„Oh nein, muss das sein?“, fragt Mondkind, „kannst Du nicht irgendetwas anderes tun, um Dich zu beruhigen. Musik hören, malen, Kreuzworträtsel, unter die Dusche hüpfen, whatever – ich muss Dir ja jetzt nicht sagen, dass das den Körper schädigt und dann auch noch Geld kostet.“
„Weißt Du“, erklärt ihre Freundin, „Du stehst vor diesem Automaten und Du weißt einfach, dass es falsch ist, aber es geht in dem Moment nicht anders. Das ist doch bei Dir genauso mit dem PJ. Du weißt, dass es falsch ist und Du machst es trotzdem…“

Falsch…
Es wäre nicht unbedingt falsch, wenn sie nicht in der Situation wäre, in der sie gerade ist.
Manchmal fragt sie sich, was verdammt noch mal eigentlich los ist, in den letzten Wochen. Woran liegt das denn? Hat sie vielleicht einfach nur keine Lust arbeiten zu gehen? Ist sie vielleicht einfach nur ein bisschen zu faul?
Aber im Prinzip ist ja nicht das Arbeiten das Problem. Sondern die Schwere auf den Tagen, dieses Gefühl der Wand zwischen der Welt und ihr. Das permanente Gegeneinander laufen von Grundsätzen und Bedürfnissen. Ihre Bedürfnisse waren noch nie laut, daher hatte sie dieses Problem bisher quasi nie. Da war immer nur: „Du musst funktionieren“ und „Du darfst nicht krank sein“. Und jetzt ist da aber noch ein trotziges und wenig konstruktives: „Ich will aber einfach nicht mehr. Ich will nicht noch einen Sommer so verbringen in dieser Leere und dieser Schwere.“

Feeling lost...


Es ist anstrengend, das den ganzen Tag auszuhalten.
Und bis sie auf den „Senden“ – Button gedrückt hat, hatte sie die ganz leise Hoffnung, sich doch noch für sich selbst und für das Leben zu entscheiden. Und gegen das, das sie seit mehr als 10 Jahren macht.
Aber das hat sie nicht getan. Sie würde gern, aber sie kann einfach nicht.
Im Prinzip wäre das dieser eine Punkt, an dem ihr jemand die Verantwortung abnehmen müsste, um diese Leitsätze zumindest ein bisschen zu entlasten. Es geht nicht darum, dass sie grundsätzlich keine Verantwortung für ihr Leben übernehmen möchte, aber dieser eine Punkt ist der, an dem sie immer und immer wieder scheitert.

Sie hat viel geweint heute, nachdem die Nacht schon nicht schön war. Sie glaubt, das Mirtazapin verliert schon langsam seine Wirkung. Mondkind schläft schon seit ein paar Tagen nicht mehr so gut wie noch vor einer Woche, ist aber tagsüber auch wieder fitter.
Sie versucht die Sorgen beiseite zu schieben. Noch ist sie hier. Noch ist sie nicht alleine auf ihrem Weg. Noch gibt es Menschen, die ihr zuhören. Noch weiß sie, wo sie hingehen kann, wenn ihr Hirn vollkommen abdreht.
Aber das wird sich ändern. Und obwohl sie sich selbst dafür ohrfeigen könnte, macht ihr das so verdammt viel Angst.
Und dass der Lernplan – wenn das hier so weiter geht – allmählich den Bach runter geht, macht ihr nicht weniger Angst.

Sie war heute wirklich kurz davor in der Ambulanz anzurufen, weil auch die Aussicht auf das Wochenende die Sache jetzt nicht unbedingt besser macht. (Es ist ungünstig, dass ein simples Wochenende sie immer noch stresst. Das ist nichts, wirklich gar nichts, im Gegensatz zu acht Monaten). Aber sie hat sich gedacht, dass sie das jetzt echt nicht bringen kann, nachdem sie gestern da war und überhaupt… - als ob ihre Therapeutin zum Freitag Zeit hätte. Wo hätte sie Mondkind denn hinschieben sollen? Es hätte ja auch nicht die Möglichkeit gegeben, das auf morgen zu verschieben. Wahrscheinlich hätte es für Stress dort gesorgt und Mondkind ist in der Ambulanz gefühlt ohnehin schon völlig überpräsent…

Und ihre Zähne… das toppt wirklich alles und macht die ganzen Sorgen noch viel schlimmer. Das ist ja eigentlich nicht so das Ding mal endlich zum Zahnarzt zu gehen, aber sie kann sich das eben nicht vorstellen bei einem Arzt, den sie nicht kennt. Und so generell geht sie da nie allein hin. Meist gehen ihre Schwester und Mondkind zusammen und haben dann beide ihren Termin. Wahrscheinlich wäre Mondkinds Schwester im Fall der Fälle ein wenig hilfreicher Faktor, aber sie bildet sich zumindest ein, dass es hilft.
Und was es noch viel schlimmer macht ist, dass Mondkind seit Wochen jeden verdammten Tag bewusst wird, dass da einfach keiner ist. Und wenn sie ihren Krempel nicht auf die Kette kriegt, dann ist das so. Und wahrscheinlich steigert sie sich da gerade auch völlig hinein, weil sie sich dann ja auch bei jedem Bissen drauf konzentriert. (Das ist eine – wenn auch ziemlich unschöne – Methode zum Abnehmen…)
Natürlich hofft sie darauf, dass es so ist, aber es würde Mondkind überhaupt nicht wundern, wenn da am Ende wirklich gar nichts ist… - das wäre nicht das erste Mal.
Und nachdem ihre Mutter sie  – da war sie 10 Jahre alt oder so – mal richtig in die Mangel genommen hat, weil der Zahnarzt der Meinung war, dass man die Zähne gründlicher putzen könnte, ist sie der Zähneputzer vor dem Herrn geworden. Das schützt nun auch nicht vor allen, aber vielleicht vor einigen Dingen.

„Ist da jemand“ ist ein Lied von Adel Tawil. Kennt das jemand? Wenn nein 👉 Anhören, aber Taschentücher bereit legen.
Zu dem Zeitpunkt, als dieses Lied die ersten Male in den Radios gelaufen ist, war sie gerade in der Klinik. Mondkind hatte es zum ersten Mal gehört, als sie Ausgang hatte und hatte es direkt aufgenommen. (Aufgenommen – nicht gedownloaded (oh Gott, heißt das Wort wirklich so…) – ganz old – school mit einem Überspielkabel…) Wahrscheinlich hätte sie es sich ersparen sollen, aber manchmal braucht man das auch einfach. In der Nacht danach hat sie das Lied auf Dauerschleife gehört und nur geheult, zum Ärgernis ihrer Bettnachbarin, die ihr auch echt leid getan hat, aber es ging nicht anders (blöderweise hatten sie nicht gerade den sympathischsten Nachtdienst…)
Aber besser als dieses Lied, könnte man die Thematik nun mal kaum treffen. 

***
Es tut mir leid, dass das heute so arg negativ ist... es ist halt schon schwierig genug im realen Leben sich das nicht anmerken zu lassen, sondern trotzdem noch für die anderen da zu sein - meiner Freundin zum Beispiel, der es heute immer noch nicht besser ging. 
Vielleicht wird es morgen wieder postiver... 
Pädiatrie war heute... - reden wir nicht drüber und starten morgen von vorn. Was bleibt einem auch anderes übrig, als jeden Tag wie ein Neuanfang zu betrachten?

Alles Liebe
Mondkind

P.S. Ich muss hier mal etwas am Layout ändern... irgendwie gefällt mir die Startseite gar nicht - die Fotos werden immer nur zum Teil angezeigt. Das muss aber denke ich bis nach dem Examen warten...

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