Tag 81 / 116 (Pädiatrie IV) und ein paar Gedanken



Nachricht aus der Ferne.
Mittlerweile habe ich den Oberdoc informiert, dass ich für das PJ komme. Es gilt noch ein paar Formalitäten zu erledigen und ich hatte einige Fragen bezüglich der weiteren Organisation.
Und wie immer wenn ich ihm schreibe, kommt eine super liebe Mail zurück, die mit den folgenden Worten begann...

„Hallo Mondkind,

Hurra! Es hat geklappt! …“ (mit drei Smileys dahinter... ;)  )

Er sagt, dass ich mir keine Sorgen machen muss, weil wir für alles eine Lösung finden werden – damit ist mehr die Organisation der PJs und die Wohnsituation gemeint, aber nun gut. Das ist ja auch schon mal was…

Ich wurde oft gefragt, ob ich denn nie wütend auf die ganze Situation bin. Und irgendwie war ich das lange Zeit tatsächlich nicht. Aber so allmählich bin ich das doch.
Ich habe so viel Glück gehabt mit dieser Klinik, habe dort schon eine Menge gelernt und werde auch noch eine Menge lernen. Wer ein bisschen in der Materie ist weiß, dass die Klinik zwar in einem ziemlich kleinen Kaff mitten auf dem Land liegt, aber dass sie einen wirklich guten Ruf hat. Ich würde nicht an einem Universitätsklinikum anfangen wollen zu arbeiten, aber dort kann ich mir das wirklich gut vorstellen und auch dort sieht und lernt man halt eine Menge.
Ich habe die Chance nochmal woanders zu leben, an einem anderen Ort Fuß zu fassen und habe dabei wahrscheinlich nicht mal irgendwelche finanziellen Schwierigkeiten (irgendwie versucht man auf dem Land halt doch Leute anzulocken, auch wenn das für mich nie der Grund war). Ich habe einen Sommer vor mir, der eigentlich ganz gut werden könnte. An Wochentagen ist sicher viel zu tun, aber an Wochenenden vielleicht frei – es sei denn der Oberdoc kann mir noch eine Doktorarbeit verschaffen, aber dann hänge ich eben am Wochenende in der Neuro ab, das ist jetzt auch nicht unbedingt schlecht.
Aber ansonsten… - es wartet meine Lieblingsbank an einer ruhigen Ecke hinter der Burg auf mich, von der aus man eine grandiose Sicht auf die Stadt hat. Und wenn schönes Wetter ist, kann man wunderbar Eis essen gehen. Und wenn ich mal eine vernünftige Küche haben sollte, kann ich endlich auch mal etwas backen.
Es gibt so viele Dinge, die man tun kann. Man muss es eben nur machen können. Wenn all meine Energie für diesen sinnlosen Kampf in mir selbst drauf geht, bleibt halt nicht mehr viel davon übrig.

Also ja… - ich bin wütend, dass alles so ist, wie es gerade ist. Denn wenn ich ganz viel Pech habe und es nach dem Examen richtig schief geht, wird es schwierig Mitte Mai wieder startklar zu sein. Und nochmal macht man diesen Eiertanz sicher nicht mit, von wegen ich gebe ein Datum vor, an dem ich wieder im Alltag stehen möchte.

***
Ein kleiner Ausschnitt aus der letzten Nacht. Vielleicht ein bisschen sentimental und genau der Punkt, an dem Tagebuch schreiben und lesen laut meiner Therapeutin kontraproduktiv wird, aber irgendwie blicke ich doch gern auf diese Momente zurück. Sie sind so einfach, so „normal“ und doch waren sie für mich etwas ganz Besonderes.

Frühling…

Es ist so schönes Wetter, dass man sich dem im Moment kaum erwehren kann. Es dauert sicher noch eine Weile und es wird bestimmt nochmal kalt und gegen Ende der Woche soll es schon wieder mehr regnen, als alles andere.

Dennoch weicht langsam - aber sicher - ein neuer Frühling dem Winter, lässt die Vögel wieder zwitschern und die Blumen wieder wachsen, hinterlässt eine eigenartige Atmosphäre von Frühling in der Luft und treibt die Kinder auf die Straße, deren Lärmen beinahe ungefiltert durch die undichten Fenster dringt.



Ich habe ein wenig gelesen in den letzten Nächten von den Tagebucheinträgen, die ungefähr ein Jahr zurück liegen. Damals stand ich an ungefähr der gleichen Stelle wie jetzt. Ich wusste, es geht irgendwie nicht mehr lange. Aber im Gegensatz zu heute ich wusste auch: Es gibt immer noch Möglichkeiten.



Und dann in der Klinik habe ich gehofft, dass es der letzte Frühling und der letzte Sommer ist, den ich so verbringe. Mehr als 10 Jahre habe ich auf diese beiden Wochen gewartet, die ich dort hatte und in denen sich so viel bewegt hat, nachdem ich endlich auch geistig in der Klinik angekommen war.

Es gibt so viele Tagebucheinträge darüber – der Blog hat nur einen Bruchteil davon gesehen, weil ich nie Internet hatte.

Es gab diesen Moment, in dem ich mit einem Mitpatienten für den Wochenausklang einkaufen war. Er hatte mich gebeten mitzukommen, weil er nicht gern allein in den Supermarkt ging. Noch hatte er gar keine Idee, was er da eigentlich zaubern wollte und meinte, dass er sich einfach mal vom Laden inspirieren lässt. Und als wir vor einem Regal standen, meinte er plötzlich: „Danke, dass Du mitgekommen bist Mondkind. Ich war schon lange nicht mehr so entspannt einkaufen.“

Und das war der Moment, in dem mir bewusst geworden ist: Ich auch nicht.

Normalerweise flitze ich durch den Supermarkt, weiß genau wo was steht und bin in 10 Minuten wieder draußen. Da es bei mir auch immer dasselbe zu Essen gibt (sonst müsste ich ja tatsächlich suchen), ist das auch relativ einfach. Es ist so eine „kleine“ Sache gewesen, die für uns beide so riesengroß war. Ich hätte echt heulen können, als mir bewusst geworden ist, was für ein großer Schritt das ist.



Derselbe Patient fragte mich ein paar Tage später – es waren die ersten warmen Tage des Jahres – ob ich Lust hätte mit ihm Eis essen zu gehen. Natürlich kam da der Mondkind – Impuls mit einem nein und er meinte dann, dass ich doch sonst nichts zu tun hätte. Und da hatte er ja Recht.

Also sind wir dann gemeinsam Eis essen gegangen und irgendwie hatte ich auch schon jahrelang nicht mehr entspannt in einer Eisdiele herum gesessen.

Auch unsere abendlichen Spaziergänge… es waren ja nicht alle so fit auf den Beinen und wir haben meist ein oder zwei große Pausen eingelegt und dieses Sitzen inmitten von Grün und Vogelgezwitscher hat mich immer so sehr an längst vergangene Tage erinnert. Manchmal war es doch eine eigenartige Ruhe, die sich da über mich gelegt hat.

Ein Gefühl von: „Mondkind, da gibt es noch etwas. Es gibt noch ein Leben da draußen. Und Du bist gerade dabei es zu finden.“



Und da ja viele von uns nicht schlafen konnten, haben wir abends manchmal eine Pyjama – Party veranstaltet. Insbesondere, als wir noch mehr Leute in meinem Alter waren. Dann saßen wir manchmal um 23 Uhr noch im Aufenthaltsraum, haben Cornflakes gegessen (die gab es nämlich immer – auch nachts) und haben über Gott und die Welt gequatscht.

Am Anfang war ich nie dabei, weil ich es mir einfach nicht erlauben konnte. Ich musste doch zumindest versuchen zu schlafen, sonst würde ich doch am nächsten Tag müde sein (obwohl es eigentlich egal war…). Aber irgendwann saß ich auch dort ab und an mit in der Runde und manchmal kam ich mir wie ein kleines Kind vor, das gerade etwas streng Verbotenes tut und das irgendwie aufregend findet. Es klingt bescheuert, aber es war so. So etwas gab es vorher nie.



In diesen beiden Wochen war ich glaube ich mehr ich selbst, als ich es in all den Jahren davor je war. Und es hat sich nicht mehr so viel gewehrt in mir. Ich hatte das Gefühl, dass ein Lächeln echt ist, dass da ein bisschen Frieden in mir ist, dass Stier und Einhorn sich langsam versöhnen und sich da eine eigenartige Ruhe über mich legt.

Und ich war dankbar. Mir selbst, dass ich es so lange ausgehalten hatte, so lange den Funken Resthoffnung getragen hatte. Und den Behandlern, die nicht müde wurden sich mit mir auseinander zu setzen und bei denen ich aus mir unerfindlichen Gründen „ein Stein im Brett“ hatte, wie es mal formuliert wurde. Ich hatte immer das Gefühl, ich bin die anstrengendste Patientin der Station, obwohl mir die Pflege mal versicherte, dass ihr Job sehr viel entspannter wäre, wenn alle so wären wie ich. Naja, Selbst- und Fremdwahrnehmung, nicht wahr?



Bei der Entlassung war meine größte Angst, diese Momente selbst nicht mehr realisieren zu können. Und ich bin letztens über einen Tagebucheintrag gestolpert, in dem steht, dass der Ergotherapeut mir erklärt hat, dass er nicht glaubt, dass ein paar Wochen Psychiatrie es bringen. Dafür sei die Sache zu festgefahren. Er sehe die ganz große Gefahr, dass das nach der Entlassung ganz schnell zurück in die alten Muster kippt.

Und leider hatte er Recht.



Aber das hält mich nicht davon ab, jeden Abend mit meiner Wärmflasche im Bett zurück an diese Momente zu denken, in denen ich eben doch dachte, dass ich jetzt gerade dabei bin, die Kurve zu kratzen.

Und es ist immer beides. Einerseits bin ich so dankbar, das erlebt zu haben. Andererseits tut es aber auch irgendwo weh, denn wer weiß, ob ich das nochmal schaffe… 

Mondkind

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