Ambulanz



Dienstag Morgen, 8:30 Uhr
Erster Termin des Tages absolviert. Ambulanz. Wieder mal einen Termin bei der Ärztin. Nach diesen Terminen verlasse ich die Ambulanz immer mit dem Gefühl, nicht so richtig verstanden worden zu sein und frage mich, ob ich das alles so schlecht in Worte fasse oder ob das alles zu abgehoben ist oder, ob wir beide vielleicht grundsätzlich aneinander vorbei reden, weil wir zwar beide Medizin studieren / studiert haben, aber das so unterschiedlich, dass die Ärztin gar nicht nachvollziehen kann, was ich hier mache. Ich lerne sieben Monate für das  Staatsexamen, sie hat 30 Tage gelernt – nach eigener Aussage zumindest – und da findet sie einige Dinge mit Sicherheit ein wenig amüsant.

Dabei beginnt es eigentlich ganz okay. Es ist noch dunkel und zudem regnet es, als ich ankomme und da die Ärztin gerade ohnehin noch draußen steht und ihre Zigarette zu Ende raucht (an rauchende Weißkittel werde ich mich nie gewöhnen) hält sie mir die Tür auf und begrüßt mich mit einem „Guten Morgen Frau Mondkind“, das ich natürlich erwidere.

In ihrem Büro sieht das dann aber wieder anders aus.
Mondkind hat einen imaginären Zettel im Kopf. Es gilt auf die Frage wie es ihr geht abzuarbeiten, dass sie im Prinzip keine Ahnung hat, wie sie diese Wand, die jedes Mal wenn sie nach Hause kommt auf sie herunter sinkt, aushalten soll. Ansonsten gilt es noch das Schlafproblem anzusprechen – im Moment ist sie froh, wenn es mal vier Stunden werden und dann gibt es ja auch noch die Tatsache, dass Mondkind wegen des Ausschlags nochmal das Quetiapin abgesetzt hat.

Wahnsinnig weit kommt Mondkind nicht.
Um zu verdeutlichen was sie meint erklärt sie auf die Frage wie es ihr geht, dass sie das Gefühl hat jeden Morgen wenn sie das Haus verlässt, zu einem anderen Menschen zu werden und dass Alltag so schon irgendwie zu bewältigen, aber es eben sehr anstrengend ist.
Mondkind hätte nicht sagen dürfen „ein anderer Mensch“, denn das bringt uns zu einer gefühlt ewigen Diskussion, dass Mondkind vielleicht mit einer veränderten Stimmung im Alltag umher geht, aber ja grundsätzlich keine andere Person wird. Mondkind hätte wahrscheinlich bedenken müssen, dass es ja auch so etwas wie multiple Persönlichkeitsstörungen gibt und dass sie das anders hätte formulieren müssen. Sie merkt irgendwann an, dass das wohl ein wenig unglücklich ausgedrückt war.
Die Ärztin stellt dann mal die These auf, dass es ja auch genau andersherum sein könnte. Dass Mondkind im Alltag so ist, wie sie wirklich ist und es ihr nur zu Hause nicht gut geht und das die zu Mondkind nicht passende Stimmung ist. Mondkind muss zugeben, dass das ein reichlich intelligenter Schachzug ist, aber spätestens jetzt ist der Moment, ab dem sie sich latent nicht ernst genommen fühlt. Sie wird doch wohl wissen, wie es ihr geht und sie ist es auch, die doch fühlt, dass selbst auf dem Weg durch den Alltag, ins Labor, in die Vorlesung, auf dem Weg zu Freunden immer die Schwere im Hintergrund mitschwingt, die sich manchmal nach einer gewissen Zahl von Stunden nur noch schwer unterdrücken lässt.

Nach diesem reichlich ungeplanten Gesprächsverlauf sind die beiden eigentlich schon fast über Zeit, als Mondkind natürlich die obligatorische Frage gestellt wird, ob sie versprechen kann sich bis zum nächsten Termin nicht umzubringen. Damit es nicht ganz so unehrlich wird, berichtet Mondkind, dass die Gedanken schon irgendwo im Hinterkopf herum turnen, aber sie das im Moment gut im Griff hat und es keinesfalls in Erwägung zieht. 40 – 80 % der Depressiven haben Suizidgedanken, also ist das wohl grundsätzlich nicht so verwerflich und das völlig abzulehnen, könnte ein wenig zu sehr geschönt wirken.
Währenddessen zieht sich ihr Herz zusammen. Im Kopf lebt sie wieder im Dazwischen, rechnet schnell nach, dass es bis zum nächsten Fixpunkt noch sechs Tage sind und dass es in denen um nicht viel mehr gehen wird, als darum zu überleben und trotz allem irgendwie das Pensum zu schaffen.

„Und was ist, wenn es zwischendurch ein Problem gibt?“, wird Mondkind gefragt. „Dann melde ich mich in der Klinik“, antwortet Mondkind artig. Manchmal kommt sie sich da wirklich vor, wie ein Kleinkind.
Ich frage mich, ob die wirklich an das glauben, was sie abfragen.
Als würde – wenn es so schwarz um mich herum wird – noch irgendjemand an die Ambulanzärztin denken? Ich würde an so viele andere Menschen denken, mich fragen, ob der Schritt ihnen gegenüber vertretbar ist oder ob es doch noch eine Beziehung gibt, an der ein Mensch in einer Welt ohne mich so sehr zerbrechen würde, wie ich das vor vielen Jahren bin. Denn eigentlich will ich sie nicht weiter geben, diese Dunkelheit, weil ich wirklich niemandem wünsche, das jeden Tag stemmen zu müssen.

„Wo haben Sie die Nummer?“, bohrt die Ärztin weiter. „Fliegt irgendwo zu Hause rum“, antwortet Mondkind. „Das war so nicht abgemacht. Die sollen die in ihrem Portemonaie oder ihrem Handy haben“, gibt die Ärztin zurück. „Machen Sie das gleich?“, fragt sie. „Ja“, antwortet Mondkind.
Allerdings kann sie sich nicht daran erinnern, dass sie irgendwann mal etwas anderes abgemacht hätten, außer dass Mondkind sich nicht das Leben nimmt. Vielleicht hat sie den Satz aber auch einfach nur verpasst.

Die Ärztin klappt ihre Akte zu.
Mondkind ist irgendwie durcheinander von dem Gespräch und sie hat weder den Mut noch die Lust noch irgendwelche sortierten Gedanken, um nochmal einzuhaken. In ihrem Kopf fliegt alles durcheinander und auf ihrer Brust liegt genau die Schwere, über die die beiden geredet haben und die doch nicht so richtig verstanden wurde.

Und irgendwie fragt Mondkind sich so ein bisschen, was nach diesem ersten Termin passiert ist, den Mondkind bei der Ärztin hatte. Dieser Termin, bei dem sie so unglaublich einfühlsam erschien, bei dem sie Mondkind versichert hat, dass man das alles irgendwie hinbekommt, dass sie sich nicht so viele Sorgen machen soll und sie sich auf gewisse Art getragen gefühlt hat und der Ärztin das voll und ganz abgenommen hat. Als die Gespräche noch mehr waren, als Floskeln.

Erstmal ist die Ärztin jetzt vier Wochen im Urlaub. Anfang November muss Mondkind wieder kommen. Die Schlafsache wird sie schon irgendwie in den Griff bekommen – sie hatte ohnehin nicht vor irgendwelche Medikamente dafür zu nehmen. Und das Quetiapin – naja, mit dem wird sie wohl selbst ein wenig jonglieren. Vielleicht. Irgendwann. Wenn sich ihre Haut ein wenig erholt hat. Mittlerweile geht es zwar alles ganz gut, aber von dem wochenlangen Behandeln mit Teebaumöl hat sie ein wenig gelitten.

Und jetzt – nachdem es alles niedergeschrieben ist, nachdem die Gedanken ihren Platz gefunden haben, aus dem Hirn ein wenig ausgelagert wurden, wird es ein wenig ruhiger in Mondkinds Kopf.
Manchmal fehlt es ihr so sehr, dass einfach eine Person da ist, mit der sie sich austauschen kann. Die einfach mal ein wenig neben ihr sitzt, diese Schwere, die Mondkind nicht beschreiben kann, aber die sie so sehr quält, mit aushält. Aber vielleicht – so denkt Mondkind sich manchmal – ist das auch einfach ein wenig viel verlangt.
Dennoch - an ihrem alten Wohnort ging das manchmal. Jetzt muss sie es allein schaffen. 
(Ihr Vater hat ihr kürzlich erzählt, dass seine Freundin nochmal mit ihrer ehemaligen Vermieterin gesprochen hat, und die so ihre Bedenken geäußert hatte. Abgesehen davon dass ich mich frage, warum alle über meinen Kopf hinweg reden und miteinander telefonieren und ich davon noch nicht mal irgendetwas mitbekomme (ich will gar nicht wissen, was da in der Klinik alles hinter meinem Rücken gelaufen ist und wie viele whatsApp - Gruppen es mit den verschiedensten Leuten gab), hatte sie vielleicht irgendwo ein bisschen Recht).

Und jetzt ist es Zeit. Das letzte Augen – Script steht heute an und eigentlich muss Mondkind heute fast 1,5 Skripte schaffen, weil morgen viel Zeit im Labor verbracht werden muss.
Und auf eine Mail wartet sie nebenbei noch. Denn neben all dem Chaos gibt es vielleicht auch endlich bald mal wieder zwischendurch eine gute Nachricht von einem Menschen, den Mondkind so sehr zu schätzen gelernt hat und vielleicht werden sie sich bald doch mal wieder sehen.

Alles Liebe
Mondkind

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