Krisenintervention


Frühmorgens im Labor. Mondkinds Magen ist wie zugeschnürt, ihr Herz rast. Sie hat dieses Grummeln in Bauch, das man vor besonders wichtigen Klausuren hat. Dabei steht gar nichts an.

Ihr Finger zittern heute so sehr, dass sie kaum die Lösungen mit den Antikörpern auf ihre Präparate tropfen kann. Und ihre Gedanken kreisen unentwegt um ein Thema.

Es geht nicht mehr. So wird sie das Wochenende nicht hinkriegen. Sie ruft in der Ambulanz an und dort teilt man ihr mit, dass ihre Therapeutin sie nachher zurück rufen wird. Was sie dann tatsächlich tut. „Was ist denn los?“, fragt sie. Und Mondkind erklärt, dass es da mit dem neu aufgetretenen Stundenplanproblem – beziehungsweise eher mit dem Familientheater im Nachgang – in Verbindung mit einem anderen Problem geknallt hat. Mit den beiden Sachen für sich wäre sie vielleicht noch fertig geworden, aber in der Kombination... „Das klingt alles überhaupt nicht gut, kommen Sie vorbei“, sagt die Therapeutin.

Und – nur so vorsichtshalber – packt Mondkind mal ihr Handyladekabel und ihren mp3 – Player ein. Falls sie eine Nacht irgendwo anders überbrücken muss.



Ein wenig später in der Ambulanz.

Mondkind fragt sich, ob sie das wirklich erzählen kann, was gestern los war. Sie könnte berichten, dass sie das Studium überfordert oder so und es ihr deshalb nicht gut geht, aber das wäre nicht richtig. Lediglich sicher.  Und wenn sie es verschweigt, hätte sie eigentlich gar nicht erst kommen müssen. Es geht ihr dabei nicht darum, die Situation möglichst brenzlig zu gestalten, sondern darum, dass sie es einfach mal aussprechen darf. Dass die beiden darüber reden können und vielleicht Mondkinds verquere Denkweise in eine andere Richtung lenken können. Mondkind weiß, dass das irgendwie extrem ist, aber ihre Gedanken haben sich gerade verhakt.



Und dann fängt sie an zu reden. Schaut an ihrer Therapeutin vorbei an die Wand, die sie mittlerweile so oft beim Reden angestarrt hat, dass sie langsam jeden Fleck kennt. Sie sucht nach Ausdrücken, um diesen Wahnsinn in ihr in Worte zu fassen. Immer wieder braucht sie Pausen und es wundert sie schon ein wenig, dass ihre Therapeutin heute Nachmittag gar keinen Druck macht.

Ihren Rücken laufen Bäche hinab, während die Worte mühsam ihren Weg in den Raum finden.

Als sie fertig ist, herrscht Stille. Mondkind schaut immer noch gegen die Wand.



„Also sind sie suizidal“, stellt die Therapeutin fest. „Sie wissen was das heißt.“

Es heißt, dass sie ungefähr einen Telefonhörer weit weg von der Einweisung ist.

Mondkind legt den Kopf gegen die Wand. Schaut immer noch an ihrer Therapeutin vorbei gegen die andere Wand.

Schweigen. Minutenlang. Mondkind kommt es vor, als wären es Stunden. Sie kann einfach gerade nichts sagen. Überhaupt nichts.
Ihr Kopf ist einfach nur komplett leer.


Mondkind weiß, dass ihre Therapeutin im Prinzip nicht anders kann. Ihre Toleranzgrenze ist wirklich hoch und die Ärztin hätte sich sicher nichtmal die Hälfte angehört, bis es ihr zu bunt geworden wäre, aber das... 

Und Mondkind hat es eben selbst verzapft. Sie hätte ja nicht reden müssen.


Sie beide wissen, dass eine Einweisung sie eine Woche vor dem Start der Uni an einen neuen Tiefpunkt bringen würde. Dass es Mondkind selbst dann, wenn sie wieder ein wenig Licht in ihr Leben lässt, ihren Plan von ihrer Zukunft weg nimmt oder es zumindest schwerer macht.

Und irgendwie kann sie nicht glauben, dass sie dabei ist, sich geradewegs in dieselbe Situation zu katapultieren, wie vor einem halben Jahr. Sie kennt die Leute auf der Station und die sind alle sehr nett – das ist es nicht - und Mondkind würde sich auch gern nochmal mit dem Oberdoc dort Gedanken über die Medikation machen – dem würde sicher noch etwas Schlaues einfallen – aber für die Nummer ist jetzt einfach keine Zeit.



„Ich meine… -„, hört Mondkind sich sagen, „also vielleicht klingt das jetzt doof, aber ich muss schon vorher noch ein wenig Ordnung in meinem Leben machen. Die Wäsche noch mal waschen und nochmal aufräumen und überlegen, wem ich was noch sagen will und das aufschreiben. Und im Labor die Versuche fertig machen. Die Antikörper sind teuer, die kann man nicht „umsonst“ verwenden.“



„Also haben Sie doch Pläne für die Zukunft“, sagt die Therapeutin. „Ja…“, sagt Mondkind. „Und nächste Woche bin ich eigentlich auch irgendwie mit wem verabredet und eigentlich ist es mir wichtig…“

„Aha“, sagt sie fast ein wenig enthusiastisch.

Jetzt rettet ihr das geplante Treffen mit dem Oberdoc gerade den Arsch.



Die Therapeutin geht ihre Notizen nochmal durch. „Ich sehe hier auch ganz viel Lebenswillen“, sagt sie. „Und in der Regel ist das so, dass die meisten Menschen gar nicht sterben wollen. Die wollen einfach nur raus aus der Situation, weil es so furchtbar ist.“

Das weiß Mondkind eigentlich, aber in der Situation der letzten beiden Tage, war es ihr wirklich etwas entfallen. Es wird auch wieder bessere Zeiten geben.



Sie reden eine ganze Weile darüber, dass Mondkind eine Chance hat, das zu schaffen. Es muss nicht so sein, dass sie irgendwann mal einerseits als Oberärztin in der Klinik steht und auf der anderen Seite ihr Leben nicht auf die Reihe bringt und dass dann so ein großer „gap“ zwischen den beiden Leben entsteht, dass sie gar nicht mehr klar kommt. Der Gedanke, dass sie „damit ohnehin nicht alt werden kann“, ist völlig ungerechtfertigt.

Es wird alles nicht einfach werden und sie wird auch noch lange Hilfe brauchen, aber auch ein Leben ohne Ambulanz wird möglich sein. Und die im Moment zu brauchen, ist auch nicht schlimm. Und es gibt sie ja auch und es bewertet keiner, wie lange Mondkind schon da ist und es immer noch nicht gepackt hat. Mondkind macht sich viel zu viel Stress. Sie muss nicht 13 Wochen nach der Klinik (oder so ähnlich) ihr Leben komplett auf der Reihe haben – das ist normal, dass es auch nach der Klinik noch lange Zeit ruckelig weiter geht, weil ja auch die Sachen die dort gelernt und geändert werden, erst Akzeptanz finden müssen.

Und an der Akzeptanz im Gesamten: Daran wird sie noch arbeiten müssen. „Es ist verdammt unfair, von einer Krankheit so überfallen zu werden, aber Sie werden keine andere Chance haben, als die zu akzeptieren, damit zu leben und sich so weit wie möglich damit einzurichten. Und das geht sogar ziemlich gut.“

Und auch die Sache mit den verlorenen Sommern… dass sie nach zehn Jahren mal wieder eine gute Zeit im Sommer hatte und es für sie nicht furchtbar war bei schönen Wetter draußen zu sein, weil ihr dann immer klar wird, wie erfroren sie doch ist, zeigt doch, dass es geht. Und sie muss darauf vertrauen, dass diese Zeiten länger und häufiger werden, je besser sie lernt mit sich selbst umzugehen.



Mondkind kommt sich im Verlauf ein bisschen vor wie eine Blume, die ihren hängenden Stängel langsam wieder aufrichtet. Ein kleines bisschen zumindest.



Mit einem Seitenblick auf die Uhr stellt Mondkind fest, dass sie schon über eine Stunde zu Gange sind und sie ist so unglaublich dankbar, dass ihre Therapeutin – woher auch immer – so viel Zeit gekramt hat.



Der letzte Punkt ist das Wochenende. Sie reden über mögliche Pläne und Mondkind sagt, dass es die derzeit noch nicht so richtig gäbe. „Das wäre mir schon wichtig, dass Sie sich so eine Art Liste machen“, sagt sie. Mondkind verspricht, dass sie darüber nachdenken wird und sie hat ernsthaft schon zwei Leute im Kopf, die sie fragen könnte, ob Sie Zeit haben.



Die Therapeutin schaut auf ihren Zettel. Es ist eine Weile still.

„Ich gehe davon aus, dass wir uns Montag sehen“, sagt sie plötzlich. „Ja“, erwidert Mondkind erleichtert.

„Da hatten Sie gerade Glück heute. Eigentlich hätte ich hier etwas ganz anderes zu tun gehabt“, sagt sie. „Danke, dass ich kommen durfte und dass Sie sich so viel Zeit genommen haben“, sagt Mondkind. „Das ist schon alles okay“, erwidert sie. Und – keine Ahnung – sie sieht tatsächlich so aus, aus würde sie das ernst meinen…



Auf dem Weg nach Hause wird Mondkind klar, dass sie das Versprechen definitiv einhalten wird. Das war gerade der ultimative Vertrauensbeweis und Mondkind weiß, dass ihre Therapeutin  sich unglaubliche Vorwürfe machen würde, wenn es schief gehen würde.

Egal wie das Wochenende verläuft – am Montag steht sie da ohne eine Schramme auf der Matte.



Alles Liebe

Mondkind


P.S. Die Bilanz der Zusammenfassungen ist auch heute wieder ernüchternd... aber sie hat gerade keinen Kopf dafür. Noch eine Woche und 1,5 Skripte...??? Naja, wenn sie sich beeilt, könnte sie es trotzdem schaffen... 

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen