Wie ich die Seiten wechselte
Frühling 2015.
Das Physikum lag mittlerweile schon mehr als ein halbes Jahr hinter
mir. „Nach dem Physikum wird alles besser“. Wie oft hatte ich diesen Satz
gehört? Nur leider war es nicht so.
Unmittelbar nach dem Physikum hatte ich geglaubt, dass ich eventuell
noch in einer „postklausuralen“ Müdigkeit stecke und es vielleicht auch ein Loch ist, dass sich
automatisch ergibt, nachdem man den ganzen Sommer nur gelernt hat für diese
beiden Tage und im Anschluss realisiert, dass man im Prinzip überhaupt keinen
Sommer hatte.
Und danach kam der Winter – der ist ja stimmungstechnisch meist auch
nicht so toll.
Und dann – ein neuer Frühling. Ein neuer Frühling, der die Blumen zum Wachsen
und Blühen gebracht hat, der den Bäumen ihre Blätter und ihre Grüntöne wieder
gab und der die Menschen auf die Straße zog, sodass zwischen den Häusern wieder
das Kinderlachen zu hören war.
Nur in mir – in mir blieb es kalt und grau und eisig. Und wie jedes
Jahr im Frühling habe ich mich so weit weg gefühlt, so entrückt von dieser Welt,
wie ein Rest Winter inmitten des Frühlings.
Es war ein Frühling, in dem sich viel änderte.
Meine Schwester fing mit ihrer Dissertation an und da wir bisher unser
ganzes Leben vom Kindergarten bis zu eben diesem Zeitpunkt im Studium Seite an
Seite verbracht hatten, würde ich zum ersten Mal alleine studieren. Ein
bisschen beängstigend, herausfordernd, aber auch befreiend.
Es war auch eine Zeit, in der ich mit der Beratungsstelle, die mich
vom Ende der Schulzeit bis nach dem Physikum getragen hatte, nicht mehr weiter
kam. Wahrscheinlich kann mich jeder nur ein paar Jahre aushalten und dieser
Punkt war erreicht und nachdem die gute Frau mir wochenlang ans Herz gelegt
hatte, mich doch nach einem neuen Therapeuten umzuschauen, zog sie sich immer
mehr zurück. Beantwortete weniger Mails, streckte die Zeiträume zwischen den
Terminen mehr – vielleicht, um ein wenig Druck zu machen.
Ich war dann tatsächlich noch in der Beratungsstelle von der Uni
gewesen, aber das hat überhaupt nicht funktioniert. Wie so viele Menschen hat
die Frau nicht erfasst, worum es geht. „Läuft die Uni?“, fragte sie und nach
einem „Ja“ meinerseits bekam ich immer zu hören: Na was machen Sie denn dann
hier eigentlich? Ein bisschen netter wurde es schon formuliert, aber dennoch
so, dass ich immer das Gefühl hatte mich rechtfertigen zu müssen, deren Zeit zu
verschwenden.
Dass man den Alltag noch irgendwie auf die Reihe bekommt, sich bewegt,
seine Pflichten erfüllt, mit dem Strom mitschwimmt und dennoch jeden Tag einen
aussichtslosen Kampf gegen die Ohnmacht führt – das schien niemand zu begreifen.
Aber warum eigentlich? Ist es nicht so, dass es so viele Menschen gibt, von
denen man niemals geglaubt hätte, welche Abgründe sich hinter ihren Gesichtern
auftun und die dann plötzlich von heute auf morgen von dieser Welt verschwunden
waren? Und bei denen es dann hieß: Wie konnte das passieren, dem ging es doch
immer so gut?
In diesem Frühling wusste ich nicht, wie lange ich das noch überleben
würde. Und dass ich es überlebt habe, liegt wahrscheinlich nur daran, dass ich
keine effektive Methode im Kopf hatte, wie ich schnell und schmerzlos diese
Welt verlassen kann. Das war ja noch vor den Rechtsmedizin – Vorlesungen.
Das neue Semester schien mir nicht zu bewältigen, obwohl es kaum
Veranstaltungen und kaum Prüfungen gab – zumindest gemessen an den Semestern
davor, die Beratungsstelle ist mir irgendwie weg gebrochen, ich war wochenlang
auf mich allein gestellt und konnte dieses Leben einfach nicht alleine tragen.
Und dann… - ja, dann passierte etwas, dass mir doch noch mal Hoffnung
und eine neue Stütze geben sollte. Nicht, ohne dass ich dafür etwas aufgegeben
habe, aber ich war es so leid, dieses Chaos in meinem Kopf, dass meine
Toleranzschwelle hinsichtlich Verlusten geringer geworden war.
Es war ein Mittwoch und wir hatten an dem Tag eine einzige Vorlesung
im Fach „Prävention“. Jetzt ist das kein super schwieriges Fach und die Inhalte
hätte man sich freilich auch leicht anlesen können. Dafür den weiten Weg in die
Uni zu fahren, war ein wenig irre.
Thema dieser Vorlesung war allerdings: „Prävention psychiatrischer
Erkrankungen“ und irgendwie dachte ich, dass ich ja für mich selbst vielleicht
die ein oder andere Erkenntnis gewinnen kann.
Es war kurz nach dem Flugzeugunglück, bei dem der Pilot das Flugzeug
vorsätzlich gegen die Berge gesteuert hat und das hat den Dozenten offenbar
dazu gebracht, die ganze Vorlesung nochmal über den Haufen zu werfen und neu zu
strukturieren.
Neben der Sache mit der Prävention – das war schnell abgearbeitet –
war ihm die ganze Vorlesung offensichtlich ein persönliches Anliegen. Er hat
sich darüber ausgelassen, dass die Presse das Thema psychische Erkrankungen so
sehr zerrissen hat. Dass offensichtlich jeder genau wusste, worunter der Pilot
nun litt oder nicht, wenngleich über die Krankheitsgeschichte ja relativ wenig
bekannt war und dass das ein großer Rückschlag für den Versuch war, psychische
Erkrankungen aus der Tabu – zone zu holen.
Aber sie existieren nun mal und machen keinen Halt vor bestimmten
sozialen Schichten oder bestimmten Berufsgruppen und auch nicht vor Studenten,
Ärzten und Dozenten, wenngleich es unter Studenten kein Thema ist und unter den
meisten Ärzten auch nicht. Denn wer schon das Studium nicht aushält, ist
offensichtlich nicht so belastbar, wie ein Arzt das sein müsste und ein
psychisch erkrankter Arzt – ob der sich um seine Patienten kümmern kann?
Der Dozent schloss seinen kleinen Ausflug mit der Bemerkung, dass rein
statistisch gesehen auch in diesem Hörsaal Studenten sitzen müssten, die das
Thema betrifft und dass er sie ausdrücklich dazu anhalten möchte, sich Hilfe zu
suchen.
Auf der letzten Folie stand groß – und auch noch in der letzten Reihe
lesbar – seine Mailadresse.
Und irgendwie – nur für den Fall der Fälle – fand die ihren Weg in
meine Unterlagen.
Ich schlief eine Nacht darüber. Und auch noch eine Zweite.
Was mich bisher immer davon abgehalten hatte professionelle Hilfe in
Anspruch zu nehmen war die Tatsache, dass ich eigentlich hatte Pilotin werden
wollen. Und da ist man gut beraten psychisch gesund zu sein oder eine
Instabilität zumindest nicht durchblicken zu lassen. Vielleicht – so immer mein
Gedanke – ergibt sich nach dem Studium noch eine Möglichkeit diesen Traum zu verwirklichen.
Aber mal im Ernst: Wer studiert 6 Jahre Medizin und schiebt dann noch
eine Pilotenausbildung hinterher? Zumal der Beruf des Mediziners ja auch eine
sehr sinnstiftende Tätigkeit ist und ich darin vielleicht am Ende sogar mehr
aufgehe.
Und – so ich wirklich Pilotin werden würde, würde es auch in der
Zukunft schwierig werden, mit meinem immer weiter absackenden Gemütszustand
umzugehen. Vielleicht soll es dann eben nicht sein mit mir und dem Job des
Piloten. Ich wollte endlich aufhören zu leiden für etwas, dass ich doch am Ende
ohnehin nicht tun werde – schon weil ich es gar nicht finanzieren kann. Und das
machte dann den Weg frei, um professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Es war übrigens genau an meinem Geburtstag, als ich stundenlang vor
dem PC saß und überlegte, wie ich mein Anliegen formuliere.
Und irgendwie habe ich mit verschiedenen Dingen gerechnet die ein Oberarzt in der Psychiatrie einer von vielen hundert Medizinstudenten an der Uni entgegnen könnte und hatte
ein bisschen Angst. Er hätte ja sagen können: „Da kann ich Ihnen auch nicht
helfen“. Oder „Was fällt Ihnen eigentlich ein?“.
Aus heutiger Sicht ein wenig irrational, aber ich weiß, dass – als ein
paar Stunden später die Antwort in meinen Postkasten flatterte – ich mich nicht
getraut habe die Mail zu öffnen und das lieber zu Hause machen wollte, wo
niemand einen etwaigen Gefühlsausbruch mitbekommen würde.
Ich habe die Mail heute noch. Sie begann mit
„Hallo Frau (Mondkind),
Ich freue mich, dass Sie mich aus Anlass der Vorlesung kontaktiert
haben.“
Da fiel mir wirklich schonmal ein Stein vom Herzen – ich glaube ich
habe wirklich geweint, so erleichtert war ich. Er hatte ein wenig für mich
herum telefoniert, einen Arzt auf dem Gelände der Uni gefunden und es mir damit
sogar erspart an das am anderen Ende der Stadt gelegene psychiatrische
Krankenhaus fahren zu müssen, das an die Uni angegliedert ist.
Besagten Arzt hat er in seiner Mail gleich mal auf copy gesetzt – was ein
ziemlich intelligenter Schritt war, denn in meiner Unentschlossenheit brauchte
es noch ein Nachhaken, bis ich endlich einen Termin vereinbart habe. Dieses
Nachhaken geschah dann übrigens aus dem Urlaub des Docs heraus, wie ich bei der
Antwort feststellte, bei der ich dann zunächst vom Abwesenheitsassistenten eine
postwendende Antwort bekam.
„Hauptsache der Termin steht, den Rest regeln wir vor Ort“, schrieb er
in seiner Antwort ganz unten dran an die Mail.
Und was dieser Satz für eine Bedeutung hatte, lernte ich dann am
Telefon. Wartezeit 2 Monate.
Es waren lange zwei Monate. Leere Tage, die sich nicht füllen ließen,
außer mit dem Fünkchen Hoffnung, dass es doch nochmal irgendwann besser werden
kann verbunden mit dem Zweifel, ob ein Funken Hoffnung nicht ein Funken zu viel
ist. Es waren Tage, die lediglich ein Dazwischen waren und nur von Gedanken auf
diesen einen Fixpunkt gefüllt waren. Und was ich mir davon versprach, wusste
ich auch nicht so genau. Dass es nicht sofort besser werden würde war mir klar,
auch wenn ich den Gedanken lieber verdrängen wollte.
„Nur bis dahin musst Du es noch schaffen“, so meine Überzeugung.
Und irgendwie ging die Zeit herum, verging ein Frühling und die Hälfte
des nächsten Sommers, die Klausuren habe ich – obwohl sie nicht schwer waren –
gerade so knapp bestanden und irgendwann war diese Zeit überstanden und ich mit
klopfenden Herz auf dem Weg in die Ambulanz – das war übrigens einen Tag vor
der letzten Klausur und gelernt hatte ich weder an diesem Tag noch an dem Tag
davor, weil ich so viel Angst vor diesem Moment in der Ambulanz hatte und
gleichzeitig so viel Hoffnung. Aber es war mir egal – die Klausur meine ich.
Ich wollte einfach nur, dass es aufhört.
Und was dann passiert ist – darüber habe ich ja schonmal einen Eintrag
verfasst.
Ich will mir ehrlich gesagt gar nicht vorstellen was passiert wäre,
wenn ich mich dort nicht ernst genommen gefühlt hätte. Die Ambulanz war für
mich schon eine imaginäre Säule, als ich die noch gar nicht kannte.
Und innerhalb weniger Wochen ist die Ambulanz für mich eine Art
Lebensversicherung geworden.
Nicht nur, dass sie sich bemüht haben, alles im besten Sinn für mich
zu regeln. Ich wusste auch: Ich muss an der ganzen Sache nicht sterben, wenn
ich das nicht will. Es gibt immer ein back – up. Zur Not kann ich da immer
aufschlagen. Und was dann entschieden wird ist in dem Moment vielleicht nicht
mehr in meinem momentanen Interesse, aber es wird das Beste für mich sein. An
der Stelle habe ich denen hundert prozentig vertraut.
Ich habe mir in dem Moment gar nicht so viele Gedanken gemacht, das
über die Uni laufen zu lassen. Ich war so froh, dass ich jetzt Hilfe hatte,
dass man mich auch ein bisschen geschubst hatte, die endlich anzunehmen, obwohl
man das nicht gemusst hätte.
Ich hatte immer ein wenig Angst, den Namen meines Docs auf irgendeinem
Seminarplan vorzufinden. Ich glaube, wir hätten beide damit umgehen können,
aber angenehm wäre es nicht gewesen.
Und ein Praktikum in der an die Uni angegliederten Psychiatrie hatten
wir auch. Da ich es damals im Leben nicht für möglich gehalten habe selbst mal „Insasse“
zu werden, habe ich mir auch da keine Gedanken drüber gemacht.
Aber dann – als ich dieses Jahr im April die Station betrat, auf der
ich die nächsten 12 Wochen verbringen sollte, wurde mir klar, dass ich hier
schon meine Fußspuren hinterlassen hatte, genau auf dieser Station und
wahrscheinlich in einen Kittel gesteckt und mit einem Stethoskop um dem Hals
dem Stationsarzt hinterher gelaufen war und einen der Patienten über seine
Krankheit ausgefragt habe – was ich für den Vortrag, den wir daraus machen
mussten, gar nicht hätte tun müssen. Ich hätte den Vortrag aus mir selbst
machen können.
Zum Glück war damals noch ein anderer Stationsarzt und ein anderer
Oberarzt da. Der Psychologe war glaube ich derselbe, aber den habe ich damals –
denke ich – gar nicht gesehen, jedenfalls kam er mir nicht bekannt vor.
Aber es war hart in den ersten Tagen. Nicht nur war ich von einer
Sekunde auf die andere aus meinem bisherigen Alltag gerissen – bei jedem
Betreten der Station wurde mir einfach so klar, wie sehr ich versagt habe. Dass
ich auf der anderen Seite sein sollte.
Aber - wenn ich nun schon mit diesem Chaos in meinem Kopf leben muss - dann bin ich dankbar, dass es genau so gekommen ist. Und dass es offensichtlich immer Leute gibt, die ein bisschen mehr tun, als ihr Job verlangt, um für ein bisschen weniger Leid zu sorgen.
Alles Liebe
Mondkind
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