Von der Frage nach dem zu Hause, dem Sommer und der Zukunft
Mondkind hat wahrscheinlich
wieder zu viel nachgedacht. Der folgende Text ist ein wenig zusammen gewürfelt.
Aus Tagebucheinträgen, die vom April, Mai und Juni stammen (natürlich
anonymisiert) und aus Gedanken, die Mondkind im Jetzt gekommen sind. Ein Text
über die Frage nach dem zu Hause, der Realität von verpassen Sommern und der
Frage, ob sie die je erleben wird, so wie sie sich das wünscht. Und zusammen
vermitteln sie ein Bild zwischen zwei Gegensätzen. Zwischen Hoffnung und Verzweiflung,
Vergangenheit und Zukunft, Realität und Traum.
„Another summer day
Is come and gone away
In Paris and Rome
But I want to go home
Maybe surrounded by
A million people I
Still feel all alone
I just want to go home
Oh I miss you, you know“
(Michael Bublé – Home)
„Ich hoffe Du fühlst sich sicher,
dort wo Du jetzt bist.“
Ein Satz, der Emotionen auslöst.
Der bewegt und berührt, der mir Tränen aus Wehmut, Sehnsucht und Erleichterung
in die Augen treibt.
Ich fühle mich sicher, dort wo
ich jetzt bin. Ich weiß, es ist vorbei. Ich weiß, ich muss mich nicht mehr von
Termin zu Termin in der Ambulanz hangeln für eine Stunde Sicherheit alle paar
Wochen. Ich weiß, ich darf fallen. Und ich weiß, da sind Hände, die mich
auffangen und denen – wenn auch nur im Rahmen ihres Jobs daran gelegen ist –
dass das hier nicht das Ende ist. Ich muss nicht sterben.
Was sagt es über einen Menschen
aus, wenn sich die Psychiatrie mehr wie „zu Hause“ anfühlt, als jeder andere
Ort das derzeit darstellen könnte? Hier habe ich gerade meinen Platz, hier darf
ich sein, hier werde ich erwartet, hier werde ich angenommen.
Aber es ist eine Psychiatrie. Es
ist ein Krankenhaus, in dem Weißkittelträger herum laufen.
Es ist eine Situation, die – wenn
man genau drüber nachdenkt – absolut surreal ist.
Und weißt Du, das macht mir
Angst. Wie oft sind schon Orte mein „zu Hause“ geworden, die das nie hätten
werden sollen und bei denen mir das auch von Anfang an bewusst war?
„Erste Aufgabe ist zu Hause“.
Sogar der Klang seiner Stimme liegt mir noch in den Ohren.
Nur was ist zu Hause? Zu Hause
hätte früher wahrscheinlich bei meinen Eltern sein sollen. Und irgendwie ist
dort nach und nach alles zusammen gebrochen. Irgendwann haben wir uns nicht mal
mehr „Hallo“ gesagt, wenn wir zur Tür herein gekommen sind, wir haben uns alle
so sehr genervt, dass ich es schon nicht mochte, wenn ich unten gehört habe,
wie der Schlüssel sich im Schloss drehte. Zumindest nachdem ich begriffen
hatte, dass Dad durch diese Tür nicht mehr kommen würde.
Wir haben uns nie in den Arm
genommen und Akzeptanz beruhte eigentlich nie auf Menschlichkeit, sondern nur
auf Noten und selbst meine Schwester war im Studium unglaublich berechnend was
ihre Beziehung zu mir angeht. Das ist sie im Prinzip bis heute, nur dass es
heute weniger Bedeutung hat, weil die Semester uns ein wenig getrennt haben. Zusammenhalt
aufgrund der Uni war nicht mehr nötig und die Geschwisterliebe hat nicht
ausgereicht, um das Band zwischen uns stabil zu halten.
Mein derzeitiger (Anmerkung:
damaliger) Wohnort. Was es genau ist,
weiß ich nicht.
Auf jeden Fall registriert man
mein Aus- und Eingehen dort mehr als in meinem Elternhaus.
Dieser Ort hätte etwas wie ein zu
Hause werden sollen. Nur, dass ich dort meine eigene Rolle nicht so richtig
definieren konnte. Ich bin kein Familienmitglied, sondern im Prinzip nur Gast,
gehöre aber doch irgendwie dazu.
Es ist mir nie gelungen zu
definieren, wie die Rechte und Pflichten eines Gastes aussehen. Ich habe
einfach versucht mich so gut wie möglich einzufügen und irgendwann sagte meine
Vermieterin mal: „Mondkind hat sich hier super angepasst.“ Das trifft es wohl
ziemlich. Ich habe mich so sehr angepasst, dass ich fast unsichtbar geworden
bin.
Ich bin die Erste, die morgens das
Haus verlässt, egal wann ich Uni habe und abends häufig die Letzte, die wieder
kommt. Ich gehe morgens und abends zuerst durchs Bad, um nicht zu stören. Das
Haus putze ich auch gern mal von oben bis unten, aber nur wenn keiner da ist,
den man mit dem Geräusch des Staubsaugers stören könnte oder damit, dass man
das Bad verbarrikadiert, um es zu putzen.
Ich verzichte abends häufig auf
meine Wärmflasche, um mit dem Wasserkocher die anderen nicht beim Fernsehen zu
stören und die Küche benutze ich generell fast nie, um keine Aufmerksamkeit auf
meine bescheidenen Kochkünste zu ziehen, Töpfe zu blockieren oder im Weg herum
zu stehen.
Keine Ahnung, ob das nötig ist.
Vielleicht übertreibe ich es auch ein wenig. Vielleicht hätte ich nicht so
still werden müssen.
Und was ist jetzt zu Hause?
Zu Hause ist ein Ort, an dem ich
mich sicher fühle. Ein Ort, an dem ich mich frei bewegen kann. An dem ich mir
keine Gedanken machen muss, wen ich gerade störe und wen nicht. Ein zu Hause
ist ein Ort, an dem Leben ist. Einen Ort, auf den ich mich freue, wenn ich die
Uni verlasse. An dem am Abend vielleicht jemand auf mich wartet, von dem ich
vielleicht mal höre: „Mondkind, schön, dass Du da bist.“ Ein zu Hause ist wie
ein Fels in der Brandung, der immer bestehen bleibt, egal wie stürmisch der
Alltag gerade ist.
Und vielleicht ist der „Ort“ gar
nicht so geographisch gemeint. Vielleicht kann ein „zu Hause“ mitziehen,
vielleicht ist es gar nichts greifbares, sondern nur etwas
Zwischenmenschliches, wie ein unsichtbares Band, das sich zwischen den Menschen
spannt, die sich lieben und auf sich achten.
Aber nichts desto trotz bleibt es
ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit, etwas, das Ruhe und Sicherheit
vermittelt und den Alltag für einen Augenblick ausklammert.
Und irgendwo auf dem Weg habe ich
dieses Gefühl verloren.
Und … - wenn man ausklammert, dass das hier ein Krankenhaus
ist, dass es eine Durchgangsstation ist, ein Ort zum Aufpäppeln von kranken
Seelen und verrückten Hirngespinsten, dass das hier der Job von den Ärzten und
Therapeuten ist und die Dinge nicht aus Nächstenliebe passieren – dann ist das
hier genau das, was ich suche.
Es ist nicht nur ein Ort, an den ich im Moment gehöre
(gehört habe…) und an dem es auffallen würde, wenn ich fehle, es ist auch ein
Ort, an dem wir „Patienten“ alle auf uns gegenseitig und die Ärzte auf uns alle
achten. Es ist geradezu beeindruckend, wie wichtig Menschen einem hier
innerhalb kürzester Zeit werden, obwohl man sie bis vor ein paar Tagen noch
nicht gekannt hat. Aber was hinter diesen Mauern passiert, hat wohl auch
reichlich wenig mit der Realität zu tun. So offen geht man im Alltag einfach
nicht miteinander um und so sensibel sind die meisten Menschen auch einfach
nicht.
Und was ich hier auch nochmal einen Augenblick erleben darf,
ist ein Sommer. Es hat lange gedauert, bis ich akzeptiert habe hier zu sein,
aber langsam fange ich an unsere abendlichen Spaziergänge schön zu finden und
sie zu vermissen, wenn sie wegen der PMR – Gruppe ausfallen müssen. Ich fange
an, die Sonne zu fühlen und die Wärme, die nicht nur auf der Haut, sondern auch
im Herz ankommt. Ich fange an, mit den anderen gerne auf die nahe gelegene
Einkaufsstraße zu gehen. Ich finde Gefallen an meinem Keyboard, ich genieße die
Klänge und genieße es noch viel mehr, dass ich sie mit meinen eigenen Händen
erzeuge.
Ich fange an, die Entschleunigung zu schätzen.
Und ich fange an zu begreifen, dass es genau das ist, wofür
ich beinahe ein Jahrzehnt gekämpft habe und dass es sich gelohnt hat, so lange
durchzuhalten. Zwischenzeitlich hatte ich Angst, das nie mehr erleben zu
können, nie wieder einen Sommer zu erleben, bevor ich an der Verzweiflung über
das Leben kaputt gehe.
Und irgendwie könnte man es auch als das Ende eines Kapitels sehen.
Mondkind hatte nochmal einen Sommer. Zumindest – ein paar
Tage lang. Nachdem sie begriffen hatte, dass eine Unterbrechung des Studiums
nicht das Ende der Welt bedeutet und bevor sie wieder angefangen hatte zu
studieren. Es können maximal zwei Wochen gewesen sein.
Wenige Tage, in denen Mondkind dahinter gekommen ist, wie es
sich anfühlt das zu leben, dass sie sich immer gewünscht hatte.
Und wenngleich sie es versucht hat zu halten und so viele
Ideen für die Zeit danach und für die Semesterferien hatte, hat sie es nicht
geschafft. Sie hat die Menschen, die ihr anfingen etwas zu bedeuten verlassen,
den Ort, der irgendwann auch einfach dadurch eine Bedeutung bekommen hat, dass
er es Mondkind so sehr ermöglicht hat, an ihr selbst zu wachsen und sie selbst
zu sein – nicht nur anonym in Form eines Blogs. Ein Ort, an dem sie geweint und
geflucht hat, an dem sie sich manchmal so unverstanden gefühlt hat, aber der
ihr auch einen Nestschutz vermittelt hat und einen Platz, an dem sie Luft holen
durfte, bevor sie den nächsten Schritt wagt. Mondkind ist nie im desolaten
Zustand über die Station gerannt, aber die schlechten Tage waren hier genauso
erlaubt, wie die guten Tage. Ein Ort, den sie am Ende auch mit einem Funken
Zuversicht verlassen hat, weil sie so viele positive Dinge erreichen konnte und
glaubte endlich ihr eigenes Leben in ihren eigenen vier Wänden zu haben, die
schon nach und nach ein zu Hause formen würden.
Mondkind zweifelt daran, dass sie das noch mal erleben wird.
Ihr Kopf und damit verbunden der Wahnsinn hat sie wieder eingefangen, lässt ihr
keine Ausbruchmöglichkeit mehr. Dreht sich nur um sich selbst und die Uni und
versinkt dabei in der Schuld, weil solche Texte aufgrund von Zeitmangel
eigentlich gar nicht entstehen dürften – trotz Ferien.
Sie läuft wieder in ihrem Hamsterrad, hangelt sich von Woche
zu Woche, von Ambulanztermin zu Ambulanztermin und wenn dazwischen mal drei
Wochen liegen, gleicht das schon einer mittelschweren Katastrophe.
Mondkind weiß, dass sie das nicht noch jahrelang durchhalten
wird. Und dass die Diskrepanz auch dadurch immer mehr erschwert wird, dass sie
nicht mehr tragen, aber ertragen kann und dass dadurch am Ende doch das Meiste
irgendwie funktioniert. Wie passt es denn zusammen, dass sie den Weg irgendwie
weiter geht und dennoch alles in Frage stellt? Das muss doch geradezu
unauthentisch wirken, Mondkind kann es den Menschen ja nichtmal verübeln.
Wie soll das denn werden? Soll sie irgendwann als
erfolgreiche Oberärztin immer noch in Ambulanzen herum hängen müssen? Da passt
doch etwas nicht… Die Eskapaden der Jugend müssen doch irgendwann mal vorbei
sein und sie muss ihren Platz gefunden haben.
Mondkind glaubt in ihrer Situation ohnehin nicht die Chance
zu haben, besonders alt zu werden.
Und vielleicht haben sich die vergangenen zehn Jahre
gelohnt, um noch einmal das Leben zu fühlen. Aber lohnen sich weitere,
ungezählte Jahre? Und jedes verlebte Jahr, das wenig mit Leben und vielmehr mit
Überleben zu tun hatte, ist im Prinzip für umsonst, wenn es am Ende nicht
irgendetwas gibt, für das es sich lohnt.
Und gerade ist sie eigentlich in der günstigsten Position
das zu entscheiden. Es ist noch nicht so viel Zeit seit der Klinik vergangen,
als das man sagen könnte, dass sie viel Zeit für umsonst verbracht hat.
Und wenn sie sich für ein Leben
entscheidet, dann muss es doch mal vorbei sein. Sie hat irgendwie das Gefühl
kein Recht mehr auf diesen ganzen Wahnsinn hier zu haben, weil es doch
irgendwann… – irgendwann auch einfach mal okay sein muss.
Und die Tage nicht mehr grau sein
dürfen. Und die Nächte nicht mehr so lang sein dürfen und sie nicht mehr immer
müde sein darf und auch nicht mehr so leer. Und weil da doch mal Ziele sein
müssen, hinter denen sie auch steht und sie das doch mal ernst meinen muss,
wenn sie sagt, dass es ihr gut geht. Weil Leben doch mal mehr als ein
„Dazwischen“ sein muss – sie hat doch gesehen, dass es geht. Und dass es okay
ist, das bedeutet wohl auch, dass sie mal aufhören muss, ständig das Leben in
Frage zu stellen, dass sie über den Punkt doch mal irgendwann hinweg sein muss,
weil sie auch gar nicht die Kraft hat jeden Tag diese Frage von vorne zu
beantworten.
Alles Liebe
Mondkind
Kommentare
Kommentar veröffentlichen