Lösungsstrategien
Mondkind wacht auf.
Es ist noch sehr früh an diesem Morgen.
Ihr Herz rast und ihr Magen schmerzt. Wenn sie irgendetwas fühlen
würde, würde sie jetzt wahrscheinlich Angst wahrnehmen.
Wo ist die Zuversicht von gestern Abend hin? Die Zuversicht, dass sie –
egal wie viele Steine ihr in den Weg gelegt werden – es trotzdem schaffen kann?
Im Bett liegen zu bleiben hat so ohnehin keinen Sinn und deshalb kocht
Mondkind Kaffee und setzt sich an den Schreibtisch. Ihr Magen mag heute früh aber
auch keinen Kaffee – vielleicht hätte sie es mit Tee versuchen sollen.
Mittlerweile haben sie die Geschehnisse der letzten Wochen doch ein paar Kilos
gekostet, ohne dass sie das wirklich gewollt hätte. Denn Mondkind möchte keinen
hilfsbedürftigen Eindruck mehr machen und deshalb möchte sie nicht – gewollt oder
ungewollt – zurück in die Magersucht rutschen. Diese Krankheit sei immer – auch
wenn das nicht gewollt ist – eine Art von Erpressung, da man das Umfeld immer
zum Handeln zwinge, hat ihr mal jemand erklärt. Und Mondkind mag niemanden
erpressen.
Es geht schleppend voran mit der Zusammenfassung an diesem Morgen. Ihr
Hirn arbeitet an Lösungen bezüglich des Stundenplans und irgendwann hat es
tatsächlich eine geniale Idee. In der Gruppe von ihrer Schwester wird ein Platz
frei bleiben, weil die Kommilitonin ein Freisemester für ihre Doktorarbeit
nimmt. Dann wären Mondkind und ihre Schwester zwar in derselben Gruppe, aber
hey: Es geht um das Examen. Da muss Mondkind dann eben durch.
Sie fragt ihre Schwester nach den Kontaktdaten der Kommilitonin, denn
gefragt werden muss sie trotzdem – es könnte ja auch sein, dass sie sich im
letzten Moment doch noch entschließt das Semester statt der Doktorarbeit zu
machen. Ihre Schwester meint nur leider das sei „überhaupt keine Option“ und
verweigert jegliche Kooperationsbereitschaft. Sie würde das mit ihrer
Kommilitonin klären. Nur dass sie das angeblich schon seit Samstagvormittag
versucht. Ursprünglich, um zu fragen, ob es für ihre Kommilitonin okay wäre,
wenn sie selbst die Gruppe verlässt, aber wenn die gar nicht mehr da ist, ist
das ziemlich irrelevant. Zumal die Freundschaft nicht so eng sein kann, wenn
man mehr als zwei Tage braucht, um eine kleine Frage zu beantworten. Ein „Ja“
oder „Nein“ reicht.
Heute Morgen ist es nicht so schlimm, dass der Tag nicht läuft. Sie
hat ihren Fixpunkt fast erreicht – sie muss nur noch mit dem Fahrrad in die
Ambulanz fahren. Mondkind weiß auch nicht, was dieses Gehangel von Termin zu
Termin in der Ambulanz soll – eigentlich ist es relativ sinnlos, aber so
ziemlich der einzige feste Fixpunkt, den sie hat.
Mondkind ahnt, dass der Termin heute nicht ganz so ergiebig wird und sie
zu keinerlei neuen Erkenntnissen bringen wird. Die Stundenplan – Aktion treibt
sie um, also wird sie es erzählen müssen, aber das ist kein Problem, das sie
nicht selbst lösen könnte. Klar ist die Situation blöd, aber Mondkind weiß, wen
sie anrufen muss, sie hat ihrer Schwester eine Frist gesetzt das zu klären und
sonst wird sie im Semester herum fragen. Man weiß nicht, ob es am Ende etwas
nützt, aber sie ist dran.
Und wenn Mondkind das erzählt, wird es die ganze Stunde um
Problemlösungsstrategien gehen und sie werden durchexerzieren, welche
Möglichkeit am Besten ist. (Obwohl Mondkind die Kiste zu heiß ist, um noch zu
wählen oder abzuwarten. Sie wird die erste Lösung wählen, die sich ihr bietet).
Sie versucht am Morgen noch einige Male im Dekanat anzurufen, um zu
fragen, ob das von deren Seite möglich ist zu tauschen. Aber auch da erreicht
sie niemanden.
Mondkind hat extra noch einen Zettel für die Ambulanz geschrieben und
auf die Frage, was sich seit letzter Woche ereignet hat, sagt sie, dass zwei
Dinge passiert sind, die auch kurz erläutert werden können, aber an deren
Lösung sie dran ist und an denen sich auch vorerst nichts ändern lässt. Und den
Zettel merkt Mondkind auch an und dass sie darüber gern reden würde.
Trotz Einleitung klappt das nicht. Natürlich geht es um
Problemlösungsstrategien und am Ende kommt heraus: Mondkind macht das schon
ganz gut gerade.
Dann geht es noch kurz um die Doktorarbeit und um die Frage, was
Mondkind denn in ihrer Freizeit tun könnte. Sie erwähnt das Keyboard, das seit
der Klinik quasi unbenutzt in ihrem Zimmer steht und sie erwähnt, dass ihr
letztens mal aufgefallen ist, dass sie noch eine Verlängerungssteckdose
bräuchte, um das Ding überhaupt zu betreiben. „Das ist Ihnen jetzt aufgefallen?“,
fragt die Therapeutin ungläubig. „Wie lange wohnen Sie da schon?“. „Seit Juli“,
gibt Mondkind kleinlaut zurück und dann huscht auch ihr ein Lächeln über das
Gesicht. „Es ist ja gut, dass Sie darüber auch lachen können“, kommentiert sie.
Und damit ist die Stunde dann tatsächlich vorbei und Mondkind nervt es
ein wenig, dass sie ihre Therapeutin nicht von dem Thema mit dem Stundenplan
weg bekommen hat. Es gibt auch noch andere Dinge, an denen man wirklich
arbeiten kann. Beim Stundenplan hilft nur Geduld im Moment.
Der Oktober wird übrigens ein schwieriger Monat. Ihre Therapeutin ist
drei Wochen nicht da und das bedeutet, dass die Fixpunkte sehr weit auseinander
stehen. Mondkind stresst das unglaublich und auf der anderen Seite nervt sie es
aber auch. Warum ist sie so verdammt abhängig von dieser Ambulanz? Das ist doch
der Klassiker schlechthin…
Ein bisschen fragt sie sich, ob sie das jemals schaffen wird, ihr
Leben ohne Hilfe zu tragen. Eigentlich will sie das nicht, genau genommen ist
es sogar ziemlich furchtbar. Aber jetzt würde sie es nicht hinkriegen ohne
Fixpunkt. Sie stresst es ja schon, wenn die weiter auseinander liegen.
Der Nachmittag zieht sich.
Der MTA ist heute krank, deshalb fällt die Laborbesprechung aus und
Mondkind weiß nicht, wie sie weiter machen soll.
Sie schaut sich noch ein paar Präparate an und dokumentiert ein wenig,
ehe sie nach Hause fährt und das Pharma – Skript zusammen fasst.
Sie ist ganz gut in der Zeit, bevor sie so starke Kopf- und Ohrenschmerzen
überfallen, dass sie sich hinlegen muss. Den Tag abzubrechen – das passiert
wirklich selten.
Aber vielleicht stresst sie die Stundenplansache auch zu sehr.
Zumindest hat sie heute noch in Erfahrung gebracht, dass Tauschen im Prinzip
möglich ist. Nur mit ihrer Schwester, die Sache ist schwer und es ist wirklich
zu kompliziert es zu erklären, aber Mondkind fällt es schwer die Intentionen ihre Schwester nachzuvollziehen.
Sie geht jetzt ins Bett und macht morgen weiter…
Alles Liebe
Mondkind
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