Psychiatrie # 30 Frieden und Trubel
Mittwochabend. Kurz nach 20 Uhr.
Endlich ein paar Minuten Ruhe. So ein Klinikalltag kann auch anstrengend sein.
Man rast von einer Therapie zur nächsten, muss dazwischen noch wichtige Anrufe
und organisatorischen Kram erledigen und von Zeit zu Zeit auch seine
Sozialkontakte pflegen.
Nur ein paar Ausschnitte vom
heutigen Tag.
***
Die ersten Hoffnungen liegen
schon im frühen Morgen. Einzelvisite beim Chef – Psychologen. Er nimmt den
Punkt mit der Suizidalität normalerweise sehr ernst und nachdem Mondkind das in
den letzten Tagen nirgendwo so richtig los werden konnte, ohne Beziehungen zu
belasten oder von vornherein zu wissen, dass die Ursache in der Entlassung
gesehen wird, spekuliert Mondkind darauf, dass die Einzelvisite ein bisschen von
dem Druck nehmen kann.
Zuerst sind die neuesten
Entwicklungen in der Familie Thema, ehe Mondkind versucht, das Gespräch doch
noch ein bisschen umzulenken. Und dann kommen sie an. „Ich weiß ja nicht, ob
mein Kopf jetzt einfach nur herum spinnt, weil ich so verzweifelt und
überfordert mit der Gesamtsituation bin, aber im Moment bin ich der Überzeugung
die nächsten drei Wochen nicht zu überleben“, erklärt Mondkind. Mondkind ist nicht
mal überzeugt davon, dass eine Übernachtung zu Hause aktuell klappen würde.
Der Chef – Psychologe ist auch
ein bisschen überfragt - was die Klinik da noch konkret anbieten kann, ist
allerdings auch nicht wirklich aus ihm heraus zu bekommen. Auf der einen Seite
befürwortet er eine Entlassung nächste Woche nicht unbedingt und meint, dass
Mondkind sicher auch noch bleiben kann. Auf der anderen Seite meint er, dass
eine Woche mehr es sicher auch nicht bringt, als Mondkind laut darüber
sinniert, ob sie noch ein bisschen Zeit raus schlagen kann für den Fall, dass
der Arbeitsvertrag Mitte September nicht genehmigt wird.
***
Mondkind hat diese Woche den
Wasserdienst und ist gerade damit beschäftigt die Wasserkästen auszutauschen,
als Herr Therapeut um die Ecke kommt. „Haben Sie gleich nochmal ein paar Minuten
Zeit?“, fragt er. „Ja“, erwidert Mondkind.
Er kommt in Mondkinds Zimmer, als
sie gerade die Briefe sortiert, die noch Rückrufe erfordern.
Und dann klären Sie alles. Viel
zu spät, aber bevor er in den Urlaub geht und Mondkind die Klinik verlässt. Sie
räumen die Missverständnisse der letzten Sitzungen aus dem Weg. Vermutlich ist
es für beide Seiten sehr wichtig. Mondkind hört ein Wort der Entschuldigung
über die Worte, die so falsch bei ihr angekommen sind. Und nachdem Mondkind
gestern schon das Gefühl hatte, dass die beiden ihren Frieden miteinander
gefunden haben, wird das nun noch mal deutlicher. Und auch, wenn die Themen
nicht alle abgearbeitet sind und daran beide Seiten nichts mehr ändern können,
weil dazu einfach die Zeit fehlt, fühlt es sich dennoch auf einer bestimmten
Ebene okay an.
„Wenn Sie im Studienort geblieben
wären und ich einen Platz frei hätte, dann hätte ich Ihnen sofort angeboten bei
mir weiterhin in der Einzeltherapie zu bleiben. Es ist mir nach wie vor
wichtig, dass es Ihnen besser geht.“
Es ist zu viel Konjunktiv, um das
zu realisieren. Leider. Es bewegt Mondkind trotzdem. Dass selbst Therapeuten
bleiben würden, wenn sie die Geschichte kennen. Wenn sie wissen, wie nah der
Abgrund ist. Wenn klar ist, dass einfach keiner weiß, ob Mondkind das überlebt.
Das muss man mittragen können, ohne daran zu verzweifeln.
Als er das Zimmer verlässt fühlt
Mondkind ein seltsames Stechen in ihrem Herz. Ganz am Ende doch noch.
Herr Therapeut sagt, dass er sich
über einen Besuch freuen würde, wenn Mondkind mal wieder in der Gegend ist.
Sehr gern, Herr Therapeut…
***
Abends. Kurz nach 20 Uhr.
Abends. Kurz nach 20 Uhr.
Ich sinniere. Die Bedingungen
haben sich geändert in den letzten beiden Tagen. Ich werde nicht alleine
umziehen. Ein Schwesterherz und zwei quickende Mitbewohner werden vorerst mit
einziehen. Und hätte ich das vorher gewusst, hätte man Vieles anders planen
können. Die Kosten können viel einfacher gedeckt werden, wenn zwei sie tragen.
Ich hätte mehr Zeit zum Gesund werden gehabt. Wenn zumindest einer schon die
Zeit zum Umziehen hat, hätten wir auch vereinbaren können, dass die Schwester
sich um die nötigsten Dinge wie Kühlschrank und Waschmaschine kümmert und ich
dann hinterher komme.
Wenn es hier wirklich ums
Überleben geht, dann hätte ich eventuell drei Wochen mehr raus hauen können und
wäre vielleicht zumindest nicht mehr ganz so suizidal in den Ort in der Ferne
gegangen. Ob es irgendetwas gebracht hätte, weiß man jetzt natürlich nicht.
Aber ein Versuch wäre es vielleicht wert gewesen.
Nachdem die Oberärztin mir
allerdings beim ersten Gespräch schon erläutert hat, dass ich hier ja
schließlich nicht hospitalisieren soll und hinter meinem Namen an der Tafel im
Stationszimmer schon ein neuer Name steht, wird das kaum noch umsetzbar sein.
Ich wüsste auch nicht, wenn ich fragen sollte. Die Oberärztin wird es nicht
unterstützen, die Stationsärztin ist nicht da, das Pflegepersonal schiebt den
aktuellen Zustand auf die baldige Entlassung…
Und jetzt… - jetzt reicht es mir
für den Abend… - nachdem die Akupunktur nach dem Abendessen noch etwas ganz
Neues hervor geholt hat. Eine Welle von Traurigkeit mit einigen Tränen. Und
aktuell ist es ein kleines bisschen leichter.
Mondkind
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