Psychiatrie # 30 Frieden und Trubel

Mittwochabend. Kurz nach 20 Uhr. Endlich ein paar Minuten Ruhe. So ein Klinikalltag kann auch anstrengend sein. Man rast von einer Therapie zur nächsten, muss dazwischen noch wichtige Anrufe und organisatorischen Kram erledigen und von Zeit zu Zeit auch seine Sozialkontakte pflegen.

Nur ein paar Ausschnitte vom heutigen Tag.
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Die ersten Hoffnungen liegen schon im frühen Morgen. Einzelvisite beim Chef – Psychologen. Er nimmt den Punkt mit der Suizidalität normalerweise sehr ernst und nachdem Mondkind das in den letzten Tagen nirgendwo so richtig los werden konnte, ohne Beziehungen zu belasten oder von vornherein zu wissen, dass die Ursache in der Entlassung gesehen wird, spekuliert Mondkind darauf, dass die Einzelvisite ein bisschen von dem Druck nehmen kann.
Zuerst sind die neuesten Entwicklungen in der Familie Thema, ehe Mondkind versucht, das Gespräch doch noch ein bisschen umzulenken. Und dann kommen sie an. „Ich weiß ja nicht, ob mein Kopf jetzt einfach nur herum spinnt, weil ich so verzweifelt und überfordert mit der Gesamtsituation bin, aber im Moment bin ich der Überzeugung die nächsten drei Wochen nicht zu überleben“, erklärt Mondkind. Mondkind ist nicht mal überzeugt davon, dass eine Übernachtung zu Hause aktuell klappen würde.
Der Chef – Psychologe ist auch ein bisschen überfragt - was die Klinik da noch konkret anbieten kann, ist allerdings auch nicht wirklich aus ihm heraus zu bekommen. Auf der einen Seite befürwortet er eine Entlassung nächste Woche nicht unbedingt und meint, dass Mondkind sicher auch noch bleiben kann. Auf der anderen Seite meint er, dass eine Woche mehr es sicher auch nicht bringt, als Mondkind laut darüber sinniert, ob sie noch ein bisschen Zeit raus schlagen kann für den Fall, dass der Arbeitsvertrag Mitte September nicht genehmigt wird.

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Mondkind hat diese Woche den Wasserdienst und ist gerade damit beschäftigt die Wasserkästen auszutauschen, als Herr Therapeut um die Ecke kommt. „Haben Sie gleich nochmal ein paar Minuten Zeit?“, fragt er. „Ja“, erwidert Mondkind.

Er kommt in Mondkinds Zimmer, als sie gerade die Briefe sortiert, die noch Rückrufe erfordern.
Und dann klären Sie alles. Viel zu spät, aber bevor er in den Urlaub geht und Mondkind die Klinik verlässt. Sie räumen die Missverständnisse der letzten Sitzungen aus dem Weg. Vermutlich ist es für beide Seiten sehr wichtig. Mondkind hört ein Wort der Entschuldigung über die Worte, die so falsch bei ihr angekommen sind. Und nachdem Mondkind gestern schon das Gefühl hatte, dass die beiden ihren Frieden miteinander gefunden haben, wird das nun noch mal deutlicher. Und auch, wenn die Themen nicht alle abgearbeitet sind und daran beide Seiten nichts mehr ändern können, weil dazu einfach die Zeit fehlt, fühlt es sich dennoch auf einer bestimmten Ebene okay an.
„Wenn Sie im Studienort geblieben wären und ich einen Platz frei hätte, dann hätte ich Ihnen sofort angeboten bei mir weiterhin in der Einzeltherapie zu bleiben. Es ist mir nach wie vor wichtig, dass es Ihnen besser geht.“
Es ist zu viel Konjunktiv, um das zu realisieren. Leider. Es bewegt Mondkind trotzdem. Dass selbst Therapeuten bleiben würden, wenn sie die Geschichte kennen. Wenn sie wissen, wie nah der Abgrund ist. Wenn klar ist, dass einfach keiner weiß, ob Mondkind das überlebt. Das muss man mittragen können, ohne daran zu verzweifeln.
Als er das Zimmer verlässt fühlt Mondkind ein seltsames Stechen in ihrem Herz. Ganz am Ende doch noch.

Herr Therapeut sagt, dass er sich über einen Besuch freuen würde, wenn Mondkind mal wieder in der Gegend ist. Sehr gern, Herr Therapeut… 



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Abends. Kurz nach 20 Uhr.
Ich sinniere. Die Bedingungen haben sich geändert in den letzten beiden Tagen. Ich werde nicht alleine umziehen. Ein Schwesterherz und zwei quickende Mitbewohner werden vorerst mit einziehen. Und hätte ich das vorher gewusst, hätte man Vieles anders planen können. Die Kosten können viel einfacher gedeckt werden, wenn zwei sie tragen. Ich hätte mehr Zeit zum Gesund werden gehabt. Wenn zumindest einer schon die Zeit zum Umziehen hat, hätten wir auch vereinbaren können, dass die Schwester sich um die nötigsten Dinge wie Kühlschrank und Waschmaschine kümmert und ich dann hinterher komme.
Wenn es hier wirklich ums Überleben geht, dann hätte ich eventuell drei Wochen mehr raus hauen können und wäre vielleicht zumindest nicht mehr ganz so suizidal in den Ort in der Ferne gegangen. Ob es irgendetwas gebracht hätte, weiß man jetzt natürlich nicht. Aber ein Versuch wäre es vielleicht wert gewesen.

Nachdem die Oberärztin mir allerdings beim ersten Gespräch schon erläutert hat, dass ich hier ja schließlich nicht hospitalisieren soll und hinter meinem Namen an der Tafel im Stationszimmer schon ein neuer Name steht, wird das kaum noch umsetzbar sein. Ich wüsste auch nicht, wenn ich fragen sollte. Die Oberärztin wird es nicht unterstützen, die Stationsärztin ist nicht da, das Pflegepersonal schiebt den aktuellen Zustand auf die baldige Entlassung…

Und jetzt… - jetzt reicht es mir für den Abend… - nachdem die Akupunktur nach dem Abendessen noch etwas ganz Neues hervor geholt hat. Eine Welle von Traurigkeit mit einigen Tränen. Und aktuell ist es ein kleines bisschen leichter.

Mondkind

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