Psychiatrie #35 Letzter Tag


Mondkind sitzt erschöpft auf ihrem Bett.
Das Atmen tut weh. Diesmal nicht, weil der psychische Schmerz zu groß ist, sondern weil die Erkältung sie voll im Griff hat. So etwas hatte sie auch selten mitten im Sommer.

„Mondkind, Dir geht es zu gut für den Entlasstag…“, hatte eine Mitpatientin heute angemerkt. Und auch Mondkind findet es auf rationaler Ebene etwas besorgniserregend, dass das alles nichts mit ihr macht. Dass da keine Wehmut am Ende ist, weil man einige Mitpatienten ja doch ins Herz geschlossen hat. Dass da keine Unsicherheit mehr ist, wie es weiter geht. Dass sie sich nicht fragt, was das morgen mit ihr machen wird, zum letzten Mal die Therapeutin zu sehen.
Es ist nicht so, dass Mondkind darauf erpicht ist, dass es ihr schlecht geht. Ganz und gar nicht. Sie traut nur dem Frieden nicht.
„Mondkind, Dein distanzierter Beschützer ist glaube ich gerade extrem aktiv“, sagte ein Mitpatient dazu treffend.
Und wann wird der distanzierte Beschützer zu müde werden? Und was passiert dann? Und wo wird Mondkind dann sein? Und wer wird dann noch da sein?

Heute.
Das letzte Mal morgens auf der Dachterasse in Frieden Kaffee trinken.
Das letzte Mal runter in die Ergotherapie hüpfen und das Schlüsselkörbchen fertig stellen.
Der letzte Kontakt mit der Ärztin. Sie muss Mondkind ja noch den Kurzbrief aushändigen. Keine Frage mehr, ob sie sich stabil genug für eine Entlassung fühlt. Vermutlich hat jeder Angst, dass Mondkind doch noch irgendetwas sagt, dass das Team zwingt, den Plan zu überdenken. Aber sie legt es nicht mehr darauf an; denkt, dass sie jetzt auch keinen mehr damit nerven kann. „Wenn es hier wirklich ums Überleben geht…“, hatte die Oberärztin am Freitag erwähnt und dazu gesagt, dass Mondkind und sie sich ja am Dienstag nochmal sehen, bevor sie geht. Passiert ist das nicht. Geändert hätte es vermutlich auch nichts.
Mondkind hat sich den Mund fusselig geredet. Wochenlang. Und sie kann ja nicht mehr, als reden. Das war der Nachteil, als sie die Magersucht aufgegeben hat. Wer so funktionierend durch das Leben gleitet – das kann gar keine so große Katastrophe sein.

Ein letztes Mal die Ruhe auf der Dachterasse genießen...


„Mondkind, Du bist morgen ehrlich zu Deiner Therapeutin“, wird Mondkind von einer sehr lieben Freundin ermahnt, die sie sofort nach der Entlassung zu Hause besucht.
Aber was ist ehrlich?
Die schwierigen Themen wurden häufig gekonnt umschifft. Mondkind hat immer noch keine Ahnung, woher eigentlich die Suizidalität kommt. Ist das alles „nur“ Angst vor der Zukunft? Angst vor Veränderung? Ist es ihre eigene Panik? Sagt Mondkind das am Ende nur „so daher“, um die Veränderungen nicht angehen zu müssen?
Oder ist das wirklich eine reale Bedrohung? Ist es umgekehrt – sodass die Kritiker ihr vorwerfen, dass sie bitte nicht kompliziert zu sein hat und das doch alles nicht so schlimm sein kann, sie sich mal nicht so anstellen soll und dieses Thema mal nicht immer und immer wieder bei den Therapeuten ausgraben soll, bis irgendwer mal so nett ist, darauf anzuspringen und das mit Mondkind auseinander zu nehmen?
Und als Konsequenz: Muss man Mondkind vor sich selbst schützen, damit sie keinen Unfug macht, oder muss man sie geradezu in die Ferne schubsen in der Hoffnung, dass die Sicherungen nicht durchknallen?

Mondkind hat in den letzten Wochen gelernt, offener über alles zu reden. Aber wenn sie ihrer Therapeutin das so darlegt… Sie kann sich noch gut an den Satz erinnern: „Wenn Sie sagen, Sie haben irgendwo die Idee oder den Plan, Sie wollen sich umbringen, dann geht das nicht, dass wir Sie einfach so nach Hause gehen lassen…“
Wird sie Mondkind dann gehen lassen? Es bringt ihr absolut nichts, morgen  wieder in der Klinik zu hängen. Zu sehen, wie nur ihre Schwester dieses Leben lebt, das für Mondkind oder zumindest für sie beide bestimmt war.
Der Therapiestunde wird sie aber auf jeden Fall noch eine Chance geben. Und vielleicht hat ja Frau Therapeutin eine schlaue Idee, wie man Mondkind ein bisschen Sicherheit bieten kann.

Jetzt sitzt Mondkind auf ihrem Bett. Mitten im Chaos. Zwischen Umzugskartons. Ein Bild, das sie nicht mehr sehen kann. Weil es immer mit viel Schmerz verbunden war. Neben ihr steht die Trostbox des Therapeuten. Die kommt auf jeden Fall in einen Karton mit der Aufschrift „sehr wichtig“. Und wenn sie die Box aufmacht, dan erinnert sie das an den einen Nachmittag, an dem er das Bild vom Tee trinken an der Heizung hat zur Realität werden lassen.

Ihre Mitbewohnerin hat sie heute in der WG getroffen. Die möchte morgen abreisen. Also so ganz. Morgens um acht ist die Wohnungsübergabe – davor möchte Mondkind noch die Wäsche in die Maschine schmeißen. Keine Ahnung, ob ihr bewusst ist, dass sie noch zu putzen hat. Das gibt vermutlich ein Drama morgen früh. Aber dann hat sie das Problem mit ihrem Dreck, bevor Mondkind es hat. Man muss auch mal Glück haben. So zwischendurch.

Ihr hört morgen von mir.
Mondkind

P.S. Eine ausführliche Reflektion über die Klinik kommt sicher auch noch, wenn ich nach dem Umzug mal wieder ein paar ruhige Minuten habe. Im Moment bin ich dafür noch zu nah dran und zu gestresst. Die nächsten drei Tage sind bis oben hin voll…

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