Psychiatrie #23 Einzelstunde und Oberarztvisite


Montagnachmittags in der Psychiatrie. Mitte August 2019. Fast ein Sommer ist schon wieder vorbei.
Neun Wochen Psychiatrie haben nicht verhindert, dass mir das passiert, das mir letztes Jahr im Dezember zuletzt passiert ist.

„Mondkind, Du siehst aus, als hätten sie Dich auf Drogen gesetzt…“ Den Satz habe ich öfter gehört in den letzten beiden Tagen. „Nein hat keiner, alles gut“, entgegne ich dann.
Langsam verschwinde ich  aber aus meiner Parallelwelt und komme wieder in der Schwere und Verzweiflung der Realität an.

Ich springe rückwärts. Durch die Tage. Wochen. Monate.
Durch Ideen, Wünsche, Hoffnungen und Ideale.

Auf der Funktionsebene habe ich mich ganz gut geschlagen. Alles was Anfang des Jahres noch in der Schwebe war, liegt nun in trockenen Tüchern. Ob der Job nun zwei Wochen früher oder später los geht weiß ich nicht – aber auf lange Sicht ist das vermutlich eher irrelevant.
Nur wenn man ins Innen schaut. Dann wurden da dieses Jahr bisher weniger Bedürfnisse erfüllt.

Einzeltherapiestunde.
„Was sollen wir jetzt noch machen?“, fragt Herr Therapeut. Wenn ich das wüsste, wäre ich auch schlauer. Er soll mir helfen, mich wieder zusammen zu setzen. Die ursprünglich gesteckten Ziele werden wir auf keinen Fall mehr erreichen.
Ein eigenartiges Gefühl von Schwere und Verzweiflung macht sich breit. Wenn Herr Therapeut schon nicht weiter weiß… - was soll das werden? Das ist ungefähr so, wie das von Frau ambulanter Therapeutin formulierte: „Ziel ist nicht, dass Sie die Zeit mit viel Lebensqualität schaffen, sondern, dass sie das überleben…“
Es sind nicht die anderen Leute, die lediglich überleben. Es bin ich. Die jeden Tag um dieses Leben kämpft, ohne zu wissen warum.

„Darf ich mal ehrlich reden…?“, fragt Herr Therapeut.
„Ja“, entgegne ich. Er zückt seine Eddings, deren verschiedene Farben verschiedene Anteile im Selbst repräsentieren.
„Das ist auch sehr schwierig gewesen mit Ihnen…“, erklärt er mir. „Zuerst musste ich am Kritiker und Forderer vorbei.“ Er stellt einen roten Stift auf den Tisch. „Dann musste ich an den Bewältigungsmodi vorbei und wir haben uns hier stundenlang nur um das Thema Suizidalität gedreht“, fährt er fort und stellt den schwarzen Stift hinter den roten Stift. „Und dann kam ich erst bei einem sehr, sehr verletzlichen Kind an. Und das war die einzige Stelle, an der ich bei Ihnen mal Tränen gesehen habe…“, beendet er seine Erläuterungen und stellt den blauen Stift hinter die beiden anderen.
Ich kann mir nicht helfen, aber irgendwie wirkt es – so wie er es sagt – wie eine Kritik. Dass wir im Prinzip immer noch am Anfang sind, liegt an mir.

Naja Herr Therapeut – ist das jetzt ein Wunder? Ich lebe seit frühester Jugend mit diesem Konstrukt. Zwischenzeitlich gab es für Weinen zu Hause sogar Taschengeldabzug – bis meinen Eltern das womöglich selbst zu krass wurde. Irgendwie musste ich doch überleben. Irgendwie musste ich es doch schaffen, jetzt noch stehen zu können. Das geht nur, wenn man das verletzte Kind nach Innen und Außen abschirmt, bis ich es irgendwann nur noch spüre, wenn es wieder rebelliert und unüberlegte Aktionen anstellt – wie am Wochenende.
Dieses Kommentar könnte die perfekte Überleitung sein für die Ereignisse des Wochenendes – aber da ich aus seiner Darstellung eine Kritik über die Dicke meiner Mauern und insbesondere über die Destruktivität gehört habe, beschließe ich das zu lassen. Zwar würde ich mich trauen zu behaupten, dass das am Wochenende keine Suizidalität sondern emotionale Überforderung war, aber nun gut. Nachdem Herr Therapeut und ich da letzte Woche so unser Erlebnis miteinander hatten, ist es vielleicht etwas sinniger, auf seiner Schiene zu bleiben.

Im Lauf der Therapiestunde lerne ich, dass es sich okay und sicher anfühlt, wenn das verletzliche Kind mit dem gesunden Erwachsenen unterwegs ist, der es unterstützt, fördert und fordert. Die Wege mitgeht, aber sie nicht vorgibt. Auffängt, wenn mal etwas schief geht. Der ein bisschen darauf achtet, dass die Grundbedürfnisse des Kindes befriedigt werden.
Und – die Erkenntnis kam sogar von mir – ohne ein zufrieden gestelltes Kind, kann auch keine ausreichende Leistung erbracht werden. Denn Leistung kommt nicht nur mit Druck zu Stande. Deshalb kann der Kritiker ruhig mal ein paar Meter auf Abstand bleiben.
Herr Therapeut nimmt den roten Edding und stellt ihn ein Stück weg von dem blauen und dem grünen Edding.
(Ich hätte ihn ja gern gefragt, ob ich ein Foto von den Eddings für den Blog machen darf, aber ich glaube, das lasse ich mal lieber… ;)  )

„Sie müssen ein Stück Eltern für sich selbst sein…“ Wer kann sich an diese Worte erinnern?
Richtig! Die kamen original so vom Seelsorger. Nur, wie das gehen soll - das hat mir noch keiner gesagt. Ich vermute, es wird ein Lernprozess sein. So, wie vieles andere auch.
Wie bitte sollen zwölf Wochen Klinik etwas bereinigen, was davor über ein Jahrzehnt schief gelaufen ist? Das kann nicht funktionieren. Und auch, wenn ich den Kritiker mittlerweile identifizieren kann, gelingt es mir alleine nicht, ihn in den Hintergrund rücken zu lassen. Ich glaube, ich bräuchte noch eine ganze Weile reale Begleitung, bis ich diesen Schritt schaffe.
Aber ich möchte ihn schaffen. Irgendwann. Denn nur so werde ich eines Tages die Abhängigkeiten besiegen.

Ich weiß zwar noch nicht wo, aber ich hoffe, dass ich immer einen Ort für sie finden werde...


Die Ereignisse des Wochenendes spuken mir dennoch während der Therapie und auch sonst den ganzen Tag im Hinterkopf herum. Entsprechend frustriert bin ich, dass wir nicht darüber geredet haben.
„Es ist Oberarztvisite“, ruft mir eine Mitpatientin entgegen, als ich wieder hoch komme. Na super… da habe ich mich ja jetzt gar nicht drauf vorbereitet. Vor dem Arztzimmer sitzt so gut wie Niemand. Also tue ich wohl gut daran, mich da schnellstmöglich hinzusetzen. Wenn da nämlich Leere herrscht, verschwinden die Oberärzte nicht selten von der Station in der Auffassung, dass die fehlenden Patienten gerade in Therapien sind und dann läuft man die ganze Woche seiner Visite hinterher. Und manchmal bleibt man immer ein paar Sekunden zu spät und muss sich bis zur nächsten Woche gedulden.

Eine Mitpatientin kommt aus dem Raum heraus, ich schlüpfe im Gegenzug hinein. Ich hatte gehofft, dass vielleicht nur Ober- und Assistenzarzt da sind, da die ganze Sache immer noch eine Vertretungssituation ist, aber dem ist leider nicht so. Wie es so läuft, möchte der „alte“ Oberarzt wissen. „Eher nicht so gut… - das Wochenende hängt mir noch ordentlich nach…“, erkläre ich. „Was war denn da…?“, möchte der Oberarzt wissen. Ich erkläre, dass es komplett schief gelaufen ist, ich glücklich war, dass ich Samstagabend wieder einigermaßen zurechnungsfähig dort erschienen bin und im Moment noch nicht so richtig in der Lage bin, darüber zu reden. „Die Stationsärztin ist noch eine Weile krank…“, sinniert der Oberarzt vor sich hin. „Haben Sie hier so etwas wie eine Bezugspflege… ?“, fragt er. „Können Sie mit der darüber reden?“ „Eigentlich gibt es hier so etwas“, antworte ich. „Allerdings ist meine nicht gerade engagiert – ich hatte mit ihr zwei Gespräche in neun Wochen und aktuell hat sie Urlaub…“ „Und [Ihre Therapeutin in der Ambulanz]“, fragt er. „Schreiben Sie ihr doch eine Mail und sie leitet das weiter…“ „Na sie wird sich bedanken“, entgegne ich. „Abgesehen davon hat sie auch Urlaub…“
Ich schweige kurz und denke nochmal über meine Worte nach. Aber irgendwo muss ich das jetzt anbringen, mir platzt der Kopf. „Ihnen würde ich das ja auch erzählen, aber nicht mit dem Aufgebot hier…“ Er überlegt kurz. Nimmt den Telefonhörer zur Hand. „Können Sie mal in meinen Terminkalender schauen, ob da morgen noch eine Lücke ist…?“, fragt er. Nebenbei reißt er einen Zettel vom Notizblock, schreibt einen Termin auf und reicht ihn mir. „Okay Frau Mondkind – dann sehen wir uns morgen“, sagt er, nachdem er aufgelegt hat.
Danke. Dafür würde auch zwanzig Mal „Danke“ nicht ausreichen. Wie oft mich dieser Mensch einfach schon gerettet hat… Er müsste sich da nicht so rein hängen. Es ist immerhin immer noch eine Vertretungssituation. Aber er hilft mir aus der Patsche. Wieder mal. Jetzt hoffen wir mal, dass das Gespräch statt findet (daran hakt es bei ihm manchmal) und dass es gut wird. Hoffen wir auf Ideen. Lösungsmöglichkeiten. Und darauf, dass der Druck dann morgen endlich mal abfällt.

Mondkind

Bildquelle: Pixabay

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