Erinnererungen an ein "zu Hause"



Es war eine whatsApp – Konversation mit der Freundin meines Vaters gestern Abend, die nicht mal zwei Minuten dauerte.
Die mit: „Hallo Mondkind“ begann und wenige Zeilen später mit „Ich wünsche Dir alles Gute; Tschüss Mondkind“, endete.
Auf meine verwirrte Zwischenfrage was überhaupt los sei sagte sie, ich solle meinen Vater fragen, der sie schwer enttäuscht habe, aber sie sei nicht mehr erreichbar.

Nicht mal eine Minute später hatte sie meine Nummer gelöscht.

Ich habe in den vergangenen Jahren nicht mehr darüber nachgedacht, dass das passieren könnte, aber es hat mich völlig aus der Bahn geworfen.
Es war nie einfach mit den beiden gewesen.
Am Anfang kam ich mit Papas Freundin überhaupt nicht zurecht. Zudem haben die beiden sich wirklich ständig gestritten. Nachdem sich unsere Eltern getrennt hatten, unser Vater von heute auf morgen weg war und meine Schwester und ich ausgehend von unserer Mama ein halbes Jahr Besuchsverbot bei Papa hatten, war viel kaputt gegangen zwischen uns.
Mein Papa hat mich damals angehalten seine neue Freundin und ihre Kinder als Teil meiner Familie anzusehen und die Wohnung in der sie gelebt haben, als Teil eines zu Hauses.
Aber das wollte ich nicht. Zu unsicher schien mir die Beziehung der beiden, zu unberechenbar Papas Freundin. Es barg die große Gefahr, wieder plötzlich etwas zu verlieren.

Zu Beginn waren wir relativ regelmäßig dort. Irgendwann wurden die Besuche seltener, waren eher Pflichtbesuche. Teilweise haben seine Freundin und ich über das ganze Wochenende nicht ein Wort miteinander gewechselt und ich hatte mich damit abgefunden, meinen Vater zu verlieren.
Er hatte ein völlig anderes Leben an einem neuen Ort und da passte ich einfach nicht mehr hinein.

Das änderte sich alles, als ich bei meiner Mama auszog.
Papa und seine Freundin hatten mittlerweile ein Haus gekauft und ich befand, dass das eine wohlüberlegte Entscheidung sein muss und anscheinend sind sie sich doch sicher, die nächsten Jahre gemeinsam zu verbringen.
Nachdem ich von meiner Mutter weg war, wurde der Ort dort wirklich ein bisschen ein „zweites zu Hause“, obwohl ich damals lange überlegt hatte, ob ich das zulassen wollte. Zu schmerzhaft war die Erkenntnis gewesen, dass Papa so gut wie keine Rolle in meinem Leben mehr spielt. 
Seine Freundin wurde viel umgänglicher, hat sich viel für mich eingesetzt, wir haben viele Gespräche geführt und sie hat mir über die schwere Anfangszeit hinweg geholfen.
Im Jahr meines Auszugs habe ich dort zum ersten Mal Weihnachten gefeiert und festgestellt, dass das auch schön sein kann.
Ich war zwar nicht oft dort, weil der Weg schon weit war und das Studium kaum Platz dafür bot, aber ich bin gern hingekommen. Ich habe das Stück Familienleben dort genossen, das Gefühl irgendwie dazu zu gehören.
Dass ich das „Papa – Kind“ und meine Schwester das „Mama – Kind“ geworden war, war eine Situation, die nicht einfach war, aber wenn ich dort war, habe ich das meist ausgeblendet.

Im letzten Jahr mit dem Klinikaufenthalt sind wir nochmal ein bisschen enger zusammen gerückt. Papa und sie haben das sofort akzeptiert, ihre Hilfe angeboten. Sie sind jede Woche den weiten Weg gefahren, um mich zu besuchen und auch wenn mir das manchmal alles ein wenig viel war, habe ich es sehr geschätzt.
Meine beurlaubten Wochenenden habe ich ausschließlich dort verbracht. Das lag natürlich auch am Mangel an Alternativen, aber sie haben sich jedes Mal wenn ich kam Mühe gegeben und ich konnte das wirklich nach so langer Zeit ein bisschen genießen in der Sonne im Garten zu liegen und anschließend gemeinsam zu grillen.

Weihnachten war ich das letzte Mal dort. Fünf Tage am Stück – das hatte ich fast noch nie gemacht. Es gab viele gute Momente und das Lernen hat besser funktioniert, als ich mir das am Anfang gedacht hatte.
„Wir sehen uns auf jeden Fall nach dem Examen“, sagte sie, als ich schon im Türrahmen stand. „Und vielleicht bist Du ja dem Lernplan etwas voraus und kannst schon ein wenig eher mal vorbei schauen“, fügte sie hinzu.
„Das glaube ich eher nicht“, erwiderte ich, „Aber wenn mir die Decke auf den Kopf fällt, ist es wirklich eine gute Idee mal für ein Wochenende raus zu kommen."

Aber ganz am Ende bin ich natürlich nur Anhängsel meines Vaters gewesen und mit ihm gehe logischerweise auch ich.

Es ist eine Erfahrung, die ich schon so oft gemacht habe. Viel zu oft.
Dass von heute auf morgen alles anders war.
Dass Dinge, von denen ich dachte, dass sie sicher sind, einfach nicht mehr da sind.
Ich bin mittlerweile schon vorsichtig geworden, lasse mich teilweise erst nach Jahren auf Beziehungen ein, weil genau das meine größte Angst ist.
Ich habe noch so viele Sachen von den beiden hier. Das Keyboard, das eigentlich seiner Freundin gehört, die extrem guten Kopfhörer dazu. Die lila Stehlampe in meiner Ecke neben dem Bett, die Lichterkette, die in der Weihnachtszeit in meiner Palme hing, das Weihnachtsgesteck. Fast meine komplette Deko, weil sie da wirklich ein Händchen für hat. Mit Geschirr haben sie mich damals bei meinem Einzug hier eingedeckt und ein paar Stoffbeutel und Dosen fliegen hier sicher auch noch herum. Und der Schal, den ich gerade um den Hals trage, der ist auch von ihr.
Mein halber Hausrat ist irgendwie ein Teil von dort habe ich das Gefühl und ich habe das immer genossen, an jeder Ecke erinnert zu werden.
Ich war viel zu selten dort glaube ich - immer gab es etwas wichtiges an der Uni oder mit der Doktorarbeit zu erledigen und ich dachte immer, dass es ja in ein paar Wochen auch noch da ist.
Aber manche Dinge sollte man wohl nutzen, solange wie sie noch da sind. Trotz Examen. Denn was kann schon wichtiger sein, als die Menschen um einen herum? Zwischenmenschliche Dinge durften - als ich noch bei meiner Mama gewohnt habe - kaum eine Rolle spielen, aber ich glaube, dass ich ein Mensch bin, der das in Wirklichkeit ziemlich intensiv braucht.

Ich habe meinen Vater noch nicht dazu befragt. Was auch immer da vorgefallen ist – er braucht mit Sicherheit nicht noch ein Töchterchen, dass jetzt auch noch Fragen stellt.
Ich denke, wenn er soweit ist, dann wird er von alleine auf mich zukommen.
Es steht mir einfach nicht zu, mich da jetzt hinein zu hängen.
Auch, wenn ich es ein wenig unfair von seiner Freundin finde, mich so im Dunklen tappen zu lassen. Wo sie doch genau weiß, dass ich für das Examen lerne und jeder Tag Ausfall einer zu viel ist.

Ich habe einen Abschnitt in einem Tagebucheintrag vom August 2012 gefunden, der es besser kaum ausdrücken könnte.
"Es gibt so Sachen, die enden traurig, aber in der Bilanz sind sie doch so gut, so erhebend, so wärmend, dass selbst ein blödes Ende und ein Verlust den Wert kaum schmälern kann.
Ich glaube, wenn man lernt zu akzeptieren, dass es keine Garantien gibt (schon gar nicht im zwischenmenschlichen Bereich), dann lebt es sich bewusster.
Der Lernprozess dauert aber -zumindest befürchte ich das- ein ganzes Leben. Und wie das beim Lernen so ist: Es gibt so Tage, da hat man alle natürlichen Gesetze, die man gelernt hat vergessen und hofft, dass wider aller Erfahrung doch einmal der Ausnahmezustand eintritt.
Oder noch kürzer gefasst: Man lernt mit Abschieden zu leben. Und trotzdem hofft man jedes Mal, dass es diesmal anders sein wird“.

Das ist eine schöne Theorie, aber da habe ich noch ganz viel zu lernen...
Und manchmal… - ja manchmal hoffe ich, dass Dinge einfach nicht passieren, wenn man sich das nicht vorstellen kann.
Ich kann mir das nicht vorstellen, dass wieder etwas wegbricht von dem ich zugelassen habe, dass es mir so wichtig geworden ist und von dem selbst ich – die mit dem Begriff sehr sparsam umgeht – behaupten würde, dass es ein Stück „zu Hause“ ist.

Ich habe gestern den Lerntag nicht geschafft und heute Nacht wenig geschlafen, aber vielleicht ist Lernen die beste Ablenkung. Ich werde es jetzt versuchen.
Blöd ist, dass das natürlich jetzt am Anfang das Karnevalswochenendes passieren musste und jetzt absolut keiner da ist, der es irgendwie schaffen kann, mich ein bisschen aufzurichten…
Ich muss es jetzt selbst schaffen, einfach nur weiter zu gehen. Einfach nur aufstehen und tun, was zu tun ist. Und abzuwarten, was passiert.
Vielleicht klärt es sich. Auch, wenn es absolut nicht danach klingt. 
Das Handy bleibt jedenfalls bis heute Abend aus. Auf Flugmodus (meine Lieblingsfunktion...) und ohne Internet.

Alles Liebe
Mondkind

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