Hoffnung...


Ich habe eine Menge nachgedacht heute Nacht und glaube, dass mir manche Dinge ein wenig klarer geworden sind. Es ist halt gestern wirklich hundert prozentig genau das passiert, was ich befürchtet hatte und ich hätte mir einfach so gewünscht, dass sie anders reagiert hätte...

Ich glaube, es geht bei der ganzen Sache mit der Ambulanz vielleicht gar nicht so sehr um Abhängigkeit. Natürlich ist es ein Stück Sicherheit und natürlich sind die Wegposten eine angenehme Angelegenheit. Aber nach den letzten Jahren habe ich auch verstanden dass – was immer auch passiert – ich es irgendwie schaffen kann. So sehr ich mich auch dagegen sträube, so viel Angst wie ich auch haben mag, aber jeden Morgen schwingen sich die Beine wie automatisiert aus dem Bett und starten in den Tag.
„Mondkind, was machst Du in Deiner Situation überhaupt am Schreibtisch?“, fragte mich gestern Abend ein Freund, mit dem ich noch telefoniert habe. Eine berechtigte Frage.
Aber es ist einfach ein Automatismus. Ich denke darüber nicht mehr nach. Ich weiß, was zu tun ist und reagiere entsprechend. Ich kann über all das nicht nachdenken, ohne komplett die Orientierung zu verlieren. Ich wusste, dass ich heute mal anfangen muss das Chaos der letzten Tage zu beseitigen. Also wurde der Wecker eben auf um 6 statt um 7 gestellt und ich denke darüber nicht nach, ob es mich ärgert oder nicht.
Was ich sagen will: Egal wo ich mein PJ machen werde – wenn ich das wirklich möchte, dann schaffe ich das. Ich sage nicht, dass es angenehm wird. Aber ich muss ja nur jeden Morgen die Beine aus dem Bett schwingen, meinen Kittel überstreifen und auf die Station laufen. Das ist nicht so schwer, wenn man sein ganzes Leben eingetrichtert bekommen hat, unter allen Umständen zu funktionieren.
Ich glaube, worum es bei der Ambulanzsache auch sehr stark geht, ist die Hoffnung. Und damit ist es am Ende genau die gleiche Sache wie in der Klinik – nur dass es jetzt vielleicht ein bisschen komplizierter ist, weil ich so lange in der Ambulanz war und in der Klinik „nur“ 12 Wochen.
Zwischenzeitlich konnte ich mir nicht vorstellen, die Klinik loszulassen. Irgendwie konnte es das doch noch nicht gewesen sein. Irgendwie hätte ich doch zumindest die grundsätzlichen Fragen klären müssen. Es hätte mir doch besser gehen sollen. Ich war mit so viel Hoffnung gekommen, dass das endlich nach so langer Zeit der Wendepunkt wird. Ich habe es nur nicht hinbekommen und wie schon gesagt… - vielleicht ist ein halbes Leben zu lang dafür, um irgendetwas zu reißen. Das war tatsächlich öfter auch mal in der Visite Thema.
Und irgendwann kam der Moment, in dem ich mit dem Stationsarzt in seinem Zimmer saß und wir darüber geredet haben, wie es weiter geht. Es war der Moment, in dem ich erklärt habe, dass ich das Gefühl habe, dass wir uns nur noch im Kreis drehen, weil ich nicht mehr weiter komme. Ich weiß nicht, warum es mir geht, wie es mir geht. Wie ich es erreichen kann, dass die Tage weniger schwer werden, wenn jeder Versuch die Dinge die mir gesagt werden umzusetzen scheitert, weil mich einfach nichts erreicht. Und ich weiß nicht, wie ich es schaffen kann, dass die Mauer zwischen der Welt und mir etwas kleiner wird. Wie ich mich mehr als Teil dieser Welt fühlen kann, in der die Einzelteile ein Gesamtbild ergeben.
Es war nicht unbedingt die Antwort, mit der ich gerechnet hatte und ich weiß nicht, ob er das so durchdacht hat, aber er sagte dann: „Frau Mondkind, ich weiß auch nicht mehr was ich mit Ihnen machen soll.“
Und so hart wie sich das auch erstmal angehört hat: Das war der Moment, in dem ich losgelassen habe. Und in den Tagen danach hat sich meine Einstellung gegenüber der Klinik komplett gedreht. Es war mir nicht mehr wichtig, nach der Uni noch irgendwen anzutreffen, um irgendetwas nachzubesprechen. Natürlich hätte ich mir das anders gewünscht. Ich war traurig und wütend und enttäuscht von mir selbst, aber es hatte objektiv gesehen keinen Sinn mehr an der Klinik festzuhalten und ab dem Moment war dann für mich die Frage, ob ich noch länger bleibe oder nicht – was die auch unterstützt hätten – irgendwie vom Tisch. Und manchmal war ich sogar genervt mich nach den Vorgaben der Klinik richten zu müssen, wo ich doch auch noch an erster Stelle die Uni zu erledigen hatte.

Und dahin muss ich jetzt auch mit der Ambulanz kommen. Loslassen. Einsehen, dass ich dort auch nicht mehr weiter komme.
Und dann sind all die Momente, die ich im Zusammenhang mit der Ambulanz hatte nur noch Erinnerungen, durch die ich dank meines Tagebuchs quer hüpfen kann. Momente, in denen ich – wenn die Stunden gut liefen – die Stimmung zwischen den Zeilen festgehalten habe, der Hoffnung einen Halt gegeben habe. Momente, die ich heute nochmal nachfühlen kann, die manchmal weh tun und manchmal aber auch wirklich bewegen.
Ich weiß noch – es war einer meiner ersten Besuche in der Ambulanz – in der mir der Arzt erklärt hat, dass das alles gar kein Problem sei und ich in ein paar Monaten wieder auf dem Pferd sitzen werde und auch Spaß daran haben werde. Ich konnte es mir absolut nicht vorstellen, aber irgendwie habe ich ihm das echt abgenommen und obwohl alles anders gekommen ist: Wenn ich das heute lese, dann ist es ein Eintrag, der so viel Hoffnung wieder spiegelt, dass es mich heute noch mitreißt.



Es wird nicht einfach werden. Ich habe immer gehofft, dass wenn ich der Ambulanz eines Tages den Rücken zukehre, ich stark genug bin die Flügel aufzuspannen, um wirklich zu fliegen.
Und insofern hat das wenig mit Abhängigkeit zu tun. Ich muss eben „nur“ einsehen und akzeptieren, dass sich hier erstmal nichts ändern wird. Und im Endeffekt ging das mit der Ambulanz rund 2,5 Jahre. Davor musste es auch irgendwie so gehen.
Und wenn ich das möchte, dann wird es auch danach gehen. Und ob ich das möchte oder nicht ist eine Frage, um die ich mich dann nach dem Examen kümmere. Keine Dummheiten bis zum Examen. Erstmal die Anforderungen des Außen erfüllen. Das ist eine Abmachung, die ich mit mir selbst getroffen habe, sonst würde ich hier verrückt werden.
Und danach stellt sich nicht die Frage, ob es alleine geht. Sondern einzig und allein die Frage, ob es ohne Licht am Ende des Tunnels geht. Aber das gab es eben auch mit der Ambulanz am Ende nicht mehr. Es gab nur Streckenposten – aber wenn man genau drüber nachdenkt, nützt das eben auch relativ wenig, wenn das Licht fehlt. Es war immer die Frage, ob es das so bringt, sich an diesen Streckenposten aufzuhängen. Die überspringen wir dann eben einfach und stellen uns mal gleich der Realität. Das wird – langfristig betrachtet – ohnehin sinnvoller sein.

Ich frage mich manchmal, was passiert wäre, wenn damals ein anderer Weg eingeschlagen worden wäre. Damals, als ich gerade noch 13 Jahre alt war und das alles angefangen hat. Als ich noch nicht wusste, was gerade mit mir passiert, warum es passiert. Warum ich so weit weg von den anderen bin. Der erste Frühling, in dem alles anders war. In dem quasi – von heute auf morgen – nichts mehr war, wie es mal gewesen ist.
Am Anfang hat man mir das einfach angesehen. Ich war vollkommen überfordert mit der Situation. Unsere Klassenlehrerin hat dann mal bei meiner Mutter angerufen und sich erkundigt, was denn da los ist und ob es einen Auslöser gibt. Das gab so viel Stress hinterher zu Hause. Es ging nicht darum, wie es dem Kind ging, sondern darum, dass ich es nicht geschafft hatte die „perfekte Familie“ nach außen hin zu demonstrieren.
Und einige Monate später sprach mich noch ein Lehrer an. Es war eigentlich super praktisch. Jeder der psychisch irgendwie neben der Spur war, ist zu ihm gegangen. Ich kenne die Hintergründe nicht genau, aber er hatte mal eine Zeit lang in der Psychiatrie gearbeitet, daher ein ganz anderes Veständnis und auch noch Kontakte, um bei Bedarf die Schüler ins System einzuschleusen.
Ich wusste nur schon damals: Wenn ich wirklich ehrlich bin, dann muss der meine Eltern anrufen und dann muss irgendetwas passieren. Ich habe immer gehofft, dass er mich eines Tages einfach mal mit in sein Büro nimmt und ein bisschen Druck macht, denn dann hätte ich die Verantwortung abgeben können. Aber das hat er nicht gemacht.
Er sagte nur mal irgendwann – und der Satz wird sich wohl ewig in meinem Gehirn eingebrannt haben: „Wenn das zu Deiner Lebenseintellung wird, bekommst Du später mal ein gewaltiges Problem.“
Mir waren die Dimensionen von einem „gewaltigen Problem“ damals nicht bewusst. Und aus heutiger Sicht… - wenn meine Eltern komplett überragiert hätten, hätte man mich da auch raus holen können. Es hätte Wege gegeben. Ich hätte das nicht aushalten müssen. Aber das wusste ich damals nicht.
Im Prinzip ist es wirklich müßig darüber nachzudenken, aber ich frage mich einfach gar nicht so selten, wie mein Leben verlaufen wäre. Wer ich heute wäre. Was ich tun würde. Woran ich Spaß hätte. Was meine Hobbies wären. Was ich tun würde, wenn ich nicht am Schreibtisch sitzen würde. Und ob ich wohl mal einen Freund gefunden hätte.
Fragen, auf die ich eventuell niemals eine Antwort finden werde…

Mondkind

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