Tag 69 / 116 Neuro IV und ein bisschen Ruhe



Der Wecker sollte heute eigentlich schon um kurz vor 6 Uhr klingeln. Aber da ich ohnehin eher wach war, habe ich ihn vorher ausgeschaltet und mich mit dem ersten Kaffee in der Dunkelheit an den Schreibtisch gesetzt.
Der Plan war bis zum Mittag die ersten 15 – 20 Seiten durchgearbeitet zu haben, sodass ich mich mit einem guten Gefühl vom Schreibtisch entfernen kann. Das hat auch zu meinem eigenen Erstaunen wirklich gut geklappt.

Mein erster Weg führt mich im Labor vorbei. Wie (fast) immer wenn ich auf dem Weg in die Uni bin, quatschen wir eine Runde und ich drucke die Zusammenfassungen, die in den letzten Tagen während des Kreuzens der Altfragen entstanden sind.
„Weißt Du schon etwas wegen des PJs?“, fragt der MTA. „Ja“, erwidere ich und zögere kurz, „also theoretisch habe ich den Platz.“ „Glückwunsch…“sagt er. „Naja, ich weiß noch nicht, ob ich das wirklich acht Monate möchte…“, gebe ich zu bedenken. „Aber das wolltest Du doch?“, hakt er nach. „Ja, aber es gibt da ein paar Dinge zu beachten“, erkläre ich, „und wahrscheinlich bekomme ich auch langsam ein bisschen kalte Füße, weil mir langsam klar wird, wie verdammt lang acht Monate sein können…“
Ehe wir uns versehen, sitzen wir vor seinem Laptop. Er gibt den Ortsnamen bei google maps ein und schon schauen wir uns mir sehr vertraute Straßen von oben an.
Ich erkläre ihm kurz die wichtigsten Dinge. 
„Das ist der Marktplatz… - da habe ich oft im Sommer gesessen und ein Eis gesessen…“ 
„Und dort ist die Straße, die vom Berg hinab durch die Felder führt, die ich immer mit dem Fahrrad entlang fahren muss, wenn ich einkaufen fahre…“ 
„Und das ist die ehemalige Stadtmauer, die kann man einmal umrunden – das ist ein wirklich schöner Spaziergang…“
„Und das dort“, erkläre ich, nehme ihm die Maus aus der Hand und scrolle ein wenig weiter rüber, „ist die Klinik“. „Die sieht aber echt modern aus von oben“, merkt er an. „Ja, und das ist noch der Altbau“, sage ich. „Die wird gerade komplett neu gebaut.“
„Aber die Neuro“, erkläre ich weiter und scrolle noch ein wenig weiter rüber, „ist hier drüben.“ Von oben sieht die Architektur des Gebäudes noch eindrucksvoller aus, als wenn man davor steht.  
„Mondkind, wenn man Dich so erzählen hört: Mach das, wirklich. Und die Doktorarbeit läuft Dir hier nicht weg. Vielleicht kann man auch etwas über Mails regeln. Ich glaube, wenn das PJ hier nicht gut wird und Du nicht gegangen bist, wirst Du Dir Vorwürfe machen…“
Letzteres Argument habe ich jetzt schon mehrfach gehört. Und wenn ich mir die Bilder von der Klinik so anschaue, die Stadt von oben, wenn ich mich erinnere an das, was war – irgendwie habe ich tatsächlich ein bisschen Sehnsucht nach diesem Ort.
Wenn ich für einen Augenblick nicht die gefühlten Millionen Unwegsamkeiten bedenke die das mit sich bringt, dann kommt es mir vor, als sei das der Ort, an dem ich acht Monate dieses Jahres verbringen sollte.
Aber das ist alles nicht rational durchdacht. Vielleicht ist es das, was man Bauchgefühl nennt…

Kurze Zeit später sitze ich in der Ambulanz und warte – heute mit einer gewissen Unruhe – auf meine Therapeutin.
Es kostet mich ein wenig Überwindung, ich muss mich erst ein paar Sekunden sortieren, ehe ich das erzähle, was mir am Wochenende unzählige Male durch den Kopf gegangen ist. Wie immer, wenn ich über schwierige Themen rede, schaue ich an ihr vorbei an die Wand, während die Worte mühsam den Weg in den Raum finden. Schließlich kommen wir zum Punkt, nachdem ich schon erklärt habe, dass es für mich Aufgabe ist, die Hoffnung von der Ambulanz zu entkoppeln.
„Und dann habe ich mal meinen Blick ein wenig in die Ferne – sozusagen an der Ambulanz vorbei gerichtet… und das war dann das Problem… Da ist nämlich absolut überhaupt gar nichts. Und das hat dann – wenn wir mal bei „Den drei Teilen“ (ja, den Text kennt sie auch…) bleiben, wieder das „es“ auf den Plan gerufen, das dann vehement gefragt hat, warum wir uns das Examen noch antun, wenn das alles ohnehin keinen Sinn mehr hat, weil es keine Zukunft gibt."
„Sie waren also suizidal am Wochenende…“
„Naja… wenn man das so nennen will…“
„Da müssen wir doch jetzt nicht drum herum reden…“
Oh shit… - es driftet in die falsche Richtung… Ich weiß nicht mehr wie, aber ich habe das Ding dann irgendwie doch noch zurück auf meine eigentlich intendierte Schiene geholt. Aber das mag ich so an ihr. Wir wissen beide, dass das bei mir nun mal immer wieder Thema ist - aber auch, dass ich mittlerweile gelernt habe, damit umzugehen. Und allein das ansprechen zu dürfen und zu hören, dass es okay ist, hilft.

Was fehlt, sind die Lösungen.
Ich habe es geschafft anzusprechen, dass ich einfach absolut keine Ahnung habe was passieren wird, wenn der tägliche Zwang lernen zu müssen und die Abmachung mit mir selbst das bis nach dem Examen durchzuziehen, wegfällt.
Ich habe über das PJ geredet; darüber, dass die Mail jetzt da ist. Darüber, dass das doch für „normale“ Menschen gar kein Thema wäre, da jetzt hinunter zu gehen.
Ich habe erklärt, dass es mir so viel lieber wäre, wenn das alles nicht da wäre. Wenn zwischendurch die Verzweiflung nicht so groß wäre, wenn das „es“ nicht so stark wäre, wenn ich nicht meine kostbare Zeit der Examensvorbereitung in die Ambulanz stecken müsste.
Ich habe darüber geredet, dass hier auch so viel Lebenszeit verloren geht. Dass es der 12. Sommer ist, dass es jetzt schon wieder los geht. Dass die Tage länger werden, man die Vögel wieder morgens hört, die Menschen mehr nach draußen gehen und dass es so wie jedes Jahr in mir nur Schwere hinterlässt. Und – das habe ich auch erläutert – das zieht sich jetzt, bis endlich Sommer ist.

Irgendwie weiß ich, was ich möchte… - einfach ein ganz normales Studium. Jetzt Examen machen, dann ins PJ gehen und mal endlich irgendwann den Abschluss haben.
Und trotzdem nebenbei ein Leben haben, das nicht zum Großteil aus Negativität besteht. Ein Leben, das keine Wegpunkte von außen mehr braucht. Ein Leben, in dem ich irgendwann zu mir selbst gefunden habe, in dem ich auch auf mich und meine Bedürfnisse Rücksicht nehmen kann und vielleicht lerne, wer ich eigentlich bin und was ich möchte.

Das Problem ist nur: So läuft das nicht.

Wir haben heute nicht darüber gesprochen, wie es mit den Terminen weiter geht ab Mitte März (ich war froh, dass es einigermaßen lief und wollte das nicht doch noch zum Kippen bringen), aber sie meinte, dass mich die Ambulanz in allem was ich tun möchte unterstützen wird (was ja mal ein krasses Gegenteil zu der Ansage von letzter Woche ist… - also manchmal ist mir das alles echt schleierhaft…). Wenn ich es ab und an einrichten kann vorbei zu kommen (was im Moment halt eher nicht danach aussieht), dann ist das okay. Wenn ich nochmal in die Klinik möchte, ist das auch okay – eine Indikation gibt es definitiv. Dann muss man sich nur Gedanken machen, ob Psychiatrie oder Psychosomatik – sie meinte, dass mir dieses streng verhaltenstherapeutische Konzept der Station auf der ich war, vielleicht eher nicht so gut tut, weil ich eher ein Kopfmensch bin.

Die Einzige, die sich hier im Weg steht, bin ich selbst. Die Therapeutin versteht die Ohnmacht. Versteht, dass ich mit dem Rücken zur Wand stehe, weil die eine Seite in mir nur noch schreit und zickt und das alles überhaupt nicht möchte und die andere Seite versucht den Anforderungen gerecht zu werden und ich quasi in der Mitte stehe und nur zuschauen kann, was die Beiden da machen.

Und letzten Endes geht es dabei glaube ich gar nicht mal darum, dass ich das Studium nicht möchte oder so etwas. Ich habe lange gehadert, aber nachdem ich die Neuro für mich entdeckt habe, möchte ich Ärztin werden. Worum es geht ist die Schwere auf den Tagen und die Leere in mir. Ich kann mir das nicht vorstellen, mein ganzes Leben mit dieser gefühlten Wand zwischen der Welt und mir zu verbringen.

Aber irgendwie – auch wenn ich von einer Lösung genauso weit entfernt bin wie vorher – hat es gut getan, das heute alles erzählen zu dürfen. Und auch wenn ich es derzeit nicht glauben kann, so ist doch irgendwie beruhigend zu hören, dass es alles nicht so ausweglos ist, wie es mir derzeit erscheint. Ich kenne solche Phasen ja. Zwar waren die bisher eher nicht so heftig und nicht so lang, aber in Anbetracht der nahenden Umbrüche ist es vielleicht doch nachvollziehbar.
Ich weiß, dass mir der Sinn für Realität in solchen Phasen oft verloren geht. Sie sagt, es gibt Lösungen. Und auch wenn die im ersten Moment nicht als solche erscheinen, so finden wir immer Möglichkeiten, Erlebtes in unser Selbstbild zu integrieren. Vielleicht wäre ein weiterer Klinikaufenthalt zunächst Ausdruck eines Versagens. Vielleicht würde ich wirklich ziemlich durchdrehen, vielleicht wäre der Anfang unglaublich hart, aber wenn all die Verzweiflung sich dann doch am Ende lohnt, weil all das Kämpfen mal irgendwann Früchte trägt, dann wird es okay sein.
Und genauso muss man die Entscheidung mit dem PJ nicht so absolutistisch sehen. Es ist keine Entscheidung für immer. Klar sind 450 Kilometer eine Entfernung, die man nicht mal schnell überwinden kann. Aber wenn es gar nicht geht, dann komme ich halt wieder hoch. Allerdings hätte ich es dann zumindest versucht. Und wie sie immer sagt: „Es kann doch auch alles positiv werden. Das wissen Sie doch noch gar nicht.“
Und vielleicht lebt es sich auch hier leichter, wenn man sich klar macht, dass es keine Garantien gibt. Weg zu gehen muss nicht richtig sein, hier zu bleiben aber auch nicht. Man kann es vorher nicht wissen, aber wenn man dem Lauf der Dinge erlaubt im Fluss zu bleiben und nicht alles so absolutistisch sieht, dann wird es vielleicht einfacher. Und auch wenn Dinge am Ende schief gehen – eine Erfahrung ist es immer.

Ich war wirklich ruhiger, als ich heute wieder am Schreibtisch saß, habe konzentriert mein Kapitel durchgearbeitet und bin jetzt genauso weit, wie ich sein muss – trotz Labor und Termin. Und das ist der Grund, weshalb sich der Aufwand mit den Terminen derzeit doch lohnt.
Solange sie noch da ist, darf ich sie vielleicht auch noch nutzen. Denn wenn ich vom Horizont weg blicke, dann sehe ich immer noch die Wegpunkte, die immer noch ein bisschen Hoffnung tragen. 



Es geht in den Endspurt der Wiederholung und dann habe ich es wieder geschafft für heute.

Mondkind

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