Ein letzter Brief an den besten Freund


Wenn Liebe einen Weg zum Himmel fände
und Erinnerung zu Stufen würden,
dann würde ich hinaufsteigen und dich zurückholen.

(unbekannter Verfasser)





Hey mein lieber bester Freund,
Deine Mum hat mir ein Bild geschickt. Darauf zu sehen ist ein Foto von Dir, das auf einer Kommode steht. Dahinter steht eine Orchidee, links und rechts davon zwei Engel und vor Deinem Bild liegen die Ringe, die Du immer getragen hast. Daneben liegt ein Stein, auf dem steht: „Liebe ist das Einzige, das mehr wird, indem wir sie verschwenden.“

Unter dem Bild auf meinem Handy stehen ein paar liebe Worte Deiner Mutter, die meine Nummer irgendwo zwischen Deinen Unterlagen gefunden hat.
Irgendwie habe ich es geahnt. Nachdem ich Dich wochenlang versucht habe anzurufen und diese Stimme, die so sehr Alltag meines Lebens geworden ist, nur noch in Form eines Anrufbeantworters am Ohr hatte. Nachdem die whatsApp – Nachrichten ungelesen blieben. Und Du auch auf eine Mail nicht geantwortet hast.
Ich habe mir Sorgen gemacht. Mich gefragt, was ich tun soll. Aber ich hatte ja nichts. Du wolltest nie, dass ich Dich in Deiner kleinen Wohnung am Stadtrand besuche, obwohl ich Dich für nichts verurteilt hätte. Aber dadurch hatte ich Deine Adresse nicht. Ich konnte niemanden vorbei schicken. Und niemandem sagen, wo er nach Dir suchen soll. Ich hatte keine Kontaktdaten zu Deinen Eltern, Deinen restlichen Freunden und irgendwann ist mir mal aufgefallen, dass wir erstaunlich schlecht für Situationen wie diese vorgesorgt hatten.

Jetzt habe ich die Gewissheit. Du bist nicht mehr hier.
Nie wieder werde ich aus dem Zug purzeln und meinen Blick suchend nach dem Typen mit dem Rucksack auf dem Rücken, der mir mit einem breiten Lächeln entgegen geht, über den Bahnsteig schweifen lassen. Und nie wieder wird es umgekehrt sein, dass Du mich auf dem Bahnsteig suchst.
Nie wieder werden wir im Sommer durch die Cafés der Stadt ziehen und bei einem Kaffee und über Gott und die Welt reden.
Nie wieder werde ich Deine Stimme hören, nie wieder werde ich Deine Arme auf meinem Rücken spüren. Nie wieder werden wir Pläne für ein gemeinsames Treffen machen.
Nicht mehr auf dieser Welt. Ich glaube, das wird lange dauern, bis ich das realisiere, dass es das war. Dass ich Dich nie wieder sehen werde.

Ich kenne keinen Menschen, mit dem ich ehrlichere und tiefgründigere Gespräche hatte, als mit Dir. Wir waren auf einer Wellenlänge, haben uns blind verstanden.  
Und wenn ich von einem Menschen wusste, dass 400 Kilometer Distanz der Freundschaft keinen Abbruch tun, dann warst Du es. Du warst die treuste Seele, die ich kannte.

Ich kann mich noch gut an unser letztes Gespräch erinnern. Es ging Dir nicht so gut; das habe ich gemerkt. Ob man sich Sorgen machen muss, habe ich gefragt. „Nein“, hast Du gesagt. Ich habe Dir eingeschärft, dass Du mich anrufen sollst, bevor Du irgendetwas veranstaltest, das unklug wäre. Und dann, irgendwann hast Du gesagt, dass ich mir keine Sorgen machen soll, wenn ich ein paar Wochen nichts höre von Dir.
Da hätte ich hellhörig werden müssen. Nachfragen müssen. Darauf bestehen müssen zu erfahren, wo Du bist.

Wir haben uns nicht gesehen, als ich das letzte Mal in der Studienstadt war. Du hattest keine Zeit und das war okay für mich, aber ich war dennoch traurig darüber. Du warst – auch wenn Du das nie geglaubt hast – immer der erste Programmpunkt, der eingeplant war. Du warst – neben den Therapieterminen – die wichtigste Person vor Ort. Den Menschen, den ich unbedingt sehen, hören und fühlen wollte. Der Mensch, mit dem ich stundenlang im Café sitzen wollte. „Wir holen es nach, wenn Du das nächste Mal in der Stadt bist“, hast Du beschlossen. Und ich wusste nicht, dass es dazu nie kommen sollte.

Ich weiß, ich hatte immer viel zu tun. Und habe ein Treffen am Wochenende irgendwo in einer Stadt, die ungefähr in der Mitte zwischen uns beiden liegt, abgelehnt. Ich musste Kraft tanken am Wochenende. Für den Job.
Ich kann nicht sagen, wie leid es mir tut und wie viele Vorwürfe ich mir mache, dass der Job mich so blind gemacht hat. Für die Menschen um mich herum. Für deren Bedürfnisse. Für deren Not.  Die ich versäumt habe, zu sehen. 
"Er hat Sie sehr lieb gehabt", schreibt Deine Mutter über unsere Beziehung. Es tut mir wahnsinnig leid, dass ich Dich so verletzt haben muss. Dadurch, dass ich für die Patienten da war, die ich gar nicht kannte. Die nur mein Job waren. Und Dich nicht ausreichend gesehen habe.

Ich vermisse unsere Wochenendtelefonate seit Wochen. Es ist so viel passiert seitdem wir uns nicht mehr gehört haben. Und das sind nur ein paar Wochen. So oft wäre ich dankbar für Deinen Rat gewesen. Die Chancen, dass ich zurückkomme, stehen aktuell nicht so schlecht. Das wolltest Du so sehr, dass weiß ich. Aber die Stadt wird ohne Dich nicht mehr dieselbe sein.

Wenn der Suizid uns ein was lehrt, dann ist es, dass so Vieles im Leben nur unsere Wahrnehmung ist. Dass wir glauben, nichts mehr wert zu sein. Dass wir anderen Menschen nichts mehr bedeuten. Dass es keine Lösung gibt.
Dein Tod hinterlässt Lücken in so einigen Herzen. Und wie sagt man das: Menschen sterben erst so ganz, wenn sie vergessen werden. Also wird ein Teil von Dir hier bleiben, solange wie ich lebe. Und solange andere Menschen leben, die Dich gern noch hier gehabt hätten.

Ich hoffe, es geht Dir besser dort, wo Du jetzt bist. Ich will nicht darüber nachdenken, wie Du Dich gefühlt haben musst, in Deinen letzten Stunden.

Ganz viel Liebe
Mondkind


Eines dieser Cafè - Dates. In der Bäckerei gegenüber der Uni.
***


„Mondkind, Du siehst komatös aus“, sagte einer meiner Oberärzte heute morgen zu mir. Vielleicht war das heute nicht meine beste Idee, arbeiten zu gehen. Aber ich hatte viele Entlassungen. Die alle nur so halb vorbereitet waren. Und wer hätte die machen sollen? Und wie meldet man sich überhaupt krank? Und wie bekommt man eine Krankmeldung ohne Hausarzt?
Dass der Chef ausgerechnet heute in der Frühbesprechung auf die Idee kam nachzufragen, was ich im Lauf der Woche für interessante Fälle hatte, war natürlich ungünstig.

Bis zum Nachmittag habe ich es irgendwie ausgehalten mit durchgehend roten Augen, dann habe ich Herrn Therapeuten geschrieben. Der postwendend zurück gerufen hat. Mitten in der Arbeitszeit. „Ich konnte nicht anders“, sagte er.

Ich habe zu viel verloren in den letzten Wochen. Erst die Idee mit dem wichtigsten Menschen hier, dann den wichtigsten Menschen dort. Vielleicht muss man das nicht immer aushalten. Und vielleicht muss ich nicht denselben Weg gehen, wie der beste Freund. Vielleicht kann ich mich darauf verlassen, dass diese Krankheit die Wahrnehmung völlig kaputt macht. Vielleicht fahre ich einfach Ende Juli in die Studienstadt und frage den Herrn Therapeuten, ob er mich in die Notaufnahme begleitet. Damit ich  nicht alleine dahin muss.
Ich möchte dieses Leid, diese Vorwürfe und Schuldgefühle mit denen ich jetzt lernen muss zu leben, nicht für meine Freunde und Angehörigen. Vielleicht bin ich dann doch lieber diejenige, die ihr Leben nicht auf die Kette bekommt.

Der Herr Therapeut sagt, ich hätte nichts ändern können. Und wahrscheinlich ist es ganz normal, dass ich denke, dass ich doch hätte etwas ändern können. Neben der Trauer wird da erstmal die Schuld sein.

Es muss sich jetzt niemand Sorgen machen um mich. Der Herr Therapeut hat gut aufgefangen. Gesagt, dass ich mich Anfang der Woche melden soll, sonst könne ich mich darauf verlassen, dass er sich meldet. Und auch melden soll, wenn es akut schlechter wird.

Es wird lange dauern und dieser Tag heute, wird für den Rest meines Lebens einen schwarzen Stempel tragen. Ich hoffe, ich habe heute auf der Arbeit nichts Gravierendes vergessen. Mehr als physische Anwesenheit war es nicht. Ich dachte, man kann das schaffen. Aber man schafft es eben doch nicht immer. Und vielleicht ist das auch okay so. Reicht schon, dass ich Sonntag – na was wohl – Dienst habe. (Und gerade fällt mir ein, dass ich Dir nie erzählen werde, wie der erste „erste Dienst“ war…).

Mondkind 


Bildquelle erstes Bild: Pixabay

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