Psychiatrie #18 Zwischen den Welten
Einen Fuß vor den anderen.
Schritt für Schritt.
Zwischen die Welten.
„Mondkind, das letzte Mal als Du hier warst, da wusstest Du nicht,
unter welchen Umständen….“
Stopp. Stehen bleiben. Einmal die Hand auf den schmerzenden Magen
legen. Umschauen. In einer Welt, die so vertraut ist und mir gleichzeitig so
seltsam fremd vorkommt. Und… - so einsam.
„Und da drüben, eines der Cafés in denen wir mal saßen…“
Mondkind Stopp… - wenn Du so
weiter machst, schaffst Du den Stadtbesuch nicht. Augen zu und durch – wie eine
Mitpatientin sagte.
Es war nicht die beste Idee in die Stadt zu fahren. Viel zu früh. Aber
das Tempo ist ja auch hoch. Ich muss es irgendwann tun.
Schnell im Schreibwarenladen vorbei. Briefpapier organisieren, damit
wir endlich anfangen können, mit dem Schreiben. Es ist echt hübsches Papier.
Mein Kopf platzt mit allem, das ich gern sagen würde. Es stellt sich nur die „Wo
schreibe ich?“ – Frage. Bei meiner dauerquasselnden Mitpatientin? Oder gibt es
irgendwo auf der Station einen ruhigen Raum, in dem keiner die Tränen sieht?
Oder vielleicht morgens ganz früh, wenn alle noch schlafen?
Wo ist ein Ort, an dem ich die Worte fühlen kann?
Zum Friseur. Immer noch habe ich nicht die Frage geklärt, ob ich das
jetzt echt vor mir selbst vertreten kann, mich um die Haare zu kümmern. Aber
irgendwie kann ich nicht leugnen, mich hinterher trotzdem wohler zu fühlen.
Und dann auch schnell zurück. Zu laut. Zu viel. Zu eng. In der Stadt.
Die doch nur Durchgang war. Und vielleicht doch bald Heimat wird… ? Fragen über
Fragen. Wo gehöre ich denn hin? Zwischen meinen Welten. In den Ort in der
Ferne? Oder doch hierher? Die Stadt gesehen zu haben, lässt auch diese Frage
wieder in den Vordergrund treten. Ich vermisse die Stadt ja doch. Den Fluss.
Die Altstadt. Aber ohne den besten Freund? Geht das noch? Wenn die Erinnerungen
ohne ihn hier leben? Gewöhnt man sich daran?
Das Psychiatriegelände fühlt sich wieder eigenartig sicher an. Und
auch wenn ich mich hier gerade nicht so wohl fühle, merke ich doch gerade, dass
ich dankbar bin, dass mich dieser Ort immer aufgefangen hat, wenn gerade nichts
mehr ging. Und mir Unterschlupf gewährt hat, bis ich zumindest irgendwie weiter
leben konnte. Auch, wenn ich jetzt so weit weg lebe.
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Blumenwiese auf dem Gelände... |
Auf der Station werde ich vom Spätdienst empfangen. Den heute meine
Bezugspflegerin hat. „Wir reden gleich mal miteinander…“, sagt sie sofort. Wow…
- ich bin… - beeindruckt. Entweder jemand hat ihr gesagt, dass ich gerade nicht
fähig bin Hilfe einzufordern, oder sie hat das sehr schnell zwischen den Zeilen
gespürt. Das könnte was werden. Mit uns. Merke ich gerade. Auch wenn ich die
Pflegerin vom letzten Mal noch nicht kenne und erstmal schauen muss, wie das
mit ihr klappt. Aber es ist ein gutes Gespräch.
Abends ein bisschen quer lesen. Im eigenen Blog. Blogeintrag vor genau
einem Monat. Von einem Eintrag, der genau denselben Titel trug.
„Fishing for moments“. Immer die Devise, wenn sonst nichts mehr geht.
Das große Ganze kann nicht mehr okay werden. Aber an den wenigen freien Tagen
morgens mit einem Kaffee barfuß im Wintergarten am offenen Fenster stehen, das
geht noch. Die Tee – Momente zelebrieren und nebenbei erinnern. Die Dankbarkeit
so mancher Patienten zu vernehmen, die einem manchmal tatsächlich suggerieren,
dass man seinen Job ganz gut macht und man vielleicht darin bestehen könnte,
wäre nicht die Angst zu versagen so stark gewesen. Nochmal raus gehen. In den
Park gehen, um die Stadtmauer laufen. Und vielleicht nochmal eine Umarmung
spüren – obwohl das in Corona – Zeiten nicht wahrscheinlich ist; das war schon
vorher selten, aber seit Mitte März gibt es das für mich nicht mehr.
Und nebenbei das Geschreibsel fertig machen in der wenigen freien
Zeit. Um alle, die dann hier bleiben, so weit es mir möglich ist, aus der
Schusslinie zu bringen. Und nebenbei nicht zu sehr verzweifeln. Wir haben es
lange gemacht. Sehr lange. Eigentlich war ich mir schon sehr sicher gewesen,
das Abi nicht mehr zu erleben. Und immerhin haben wir es acht Jahre länger
geschafft.
Wahnsinn. Nächste Woche hätte ich Urlaub gehabt. Und eigentlich hätte
ich das Ende der Woche nicht mehr erleben sollen. Jetzt werde ich es doch
erleben. Womöglich, weil er gestorben ist. Sonst wäre ich jetzt nämlich nicht
hier. Herr Therapeut hat diesen Umstand als Thema auf seiner Tafel
eingeklammert. Weil er das anzweifelt, dass es so gekommen wäre. Zu viel
Spekulation, sagt er. Wenig Spekulation, sagt eine Mondkind.
Im Lauf dieser Woche werde ich jedenfalls bei Herrn Therapeuten im
Büro sitzen, über Verluste sprechen und über eine mögliche Zukunft sinnieren.
Von der ich immer noch nicht weiß, ob es die gibt. Und trotz aller Chancen, die
ich hier nutzen muss, klopft leise die Frage an die Tür, ob ich nicht gerade
das Unvermeidliche nur noch ein bisschen raus zögere. Ob man sich wohl
innerhalb eines Monats für das Leben entscheiden kann? Ob ich das im nächsten
Monat schaffe? Ich weiß es nicht. Und wie gehe ich dann eigentlich damit um,
dass ich zu Hause nur ein paar Schubladen aufziehen müsste und startklar für
die Dunkelheit wäre.
Jetzt wartet erstmal das Bett. Und morgen wird ein ruhiger Tag. Mit
hoffentlich viel Geschreibsel. Viel vermissen. Vielen Erinnerungen.
Mondkind
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