Lerntag 1 - Bilanz und Psychosomatik



Ich hoffe, dass ich in 120 Tagen nach einer sehr langen Nacht, die der Rest meiner Studiengruppe und ich in der Stadt verbracht haben, mittags aufwache und mit einem Lächeln auf diesen ersten Tagebucheintrag der „Maulwurfphase“ zurückblicken kann. 

Ich hoffe, dass ich denken kann: Siehst Du, am Ende ist es doch alles irgendwie gut geworden. So, wie es am Ende immer irgendwie wird. 

Tja… - wie lernt man eigentlich für das Examen? Ich habe noch nie so viel binnen so kurzer Zeit auswendig lernen müssen. Kann man überhaupt alles lernen? Oder kann man nur alles gründlich lesen und die wichtigsten Klassifikationen lernen?
Und wie organisiert man es, dass einem nicht zwischendurch die Puste ausgeht? Muss man dann doch in weiser Vorraussicht das über 100 Tage machen zu müssen, sich jeden Abend zu christlichen Zeiten vom Schreibtisch entfernen?

Heute hat mich die Menge des Stoffes erstmal ein wenig überfordert – und das obwohl ich schon unfassbar viel Zeit damit verbracht habe, die Scripte zusammen zu fassen.
Heute morgen hatte ich allerdings auch das Problem gar nicht so richtig wach zu werden. Ich glaube, im Moment ist auch einfach viel los. Das PJ hat mich diese Woche sehr beschäftigt, der Termin gestern in der Psychsomatik. Ein Freund, der gestern Abend noch eine Weile bei mir war - und langsam, so fürchte ich - ein Aussage über eine mögliche gemeinsame Zukunft haben möchte, die ich ihm aber im Moment nicht geben kann. Weihnachten ist ein riesen großes Thema. Es sind nur noch 10 Tage und es gibt gerade so viel verdeckt schwelende Konflikte darüber wer Weihnachten wo ist. In einer Woche muss der Plan stehen und ich habe überhaupt keine Kapazitäten mich da hinein zu hängen. Und so im Allgemeinen sind die Schlafstörungen auch gerade wieder ausgeprägter. 

Gegen Nachmittag wurde es dann besser mit der Konzentration und es kamen auch Themen vor, die ich teilweise schon ganz gut konnte, deswegen hat sich meine Laune heute Nachmittag auch ein wenig gebessert. 

Das Script ist jetzt immerhin komplett angestrichen und gelesen und eventuell auch gelernt… Eventuell, weil ich es nicht weiß. Bisher habe ich immer so gelernt, dass ich alle meine Lernzettel auswendig herunter beten kann. Das kann ich mit meiner 25 – seitigen Zusammenfassung nicht. Aber eventuell reicht ja Wiedererkennen. Ich werde mir heute Abend noch den Kreuz – Zugang organisieren und werde dann morgen mal den Tag kreuzen.
Der Plan ist zwar eigentlich immer eine Woche versetzt zu kreuzen, aber ich möchte es morgen mal ausprobieren, ob die Verankerung im Kopf reicht oder nicht. 

Was schon ganz gut funktioniert hat ist, sich wenig abzulenken. Zwar hatte ich das Handy hier liegen, weil ich noch auf einen Anruf gewartet habe, aber damit ist es mir zu umständlich mich im Internet herum zu treiben. Dennoch sollte ich das Internet vielleicht ausschalten, um auch nicht von whatsApp unterbrochen zu werden. Und Anrufe… man kann sich halt nicht komplett abschotten, aber vielleicht sollte ich Telefonzeiten ausmachen mit den Menschen, denn irgendwie nervt es doch heraus gerissen zu werden.
Aber der PC stand den ganzen Tag zugeklappt außerhalb meiner Reichweite. Sehr gut!

Ein Punkt an dem ich definitiv noch arbeiten muss, sind die Pausen. Das hat gar nicht gut geklappt.

Ich überlege, mir vor dem zu Bett gehen anzugewöhnen nochmal die wichtigsten Dinge zu lesen. Das sind im Script gelbe Kästen, die sind nicht schwer auffindbar. Ich glaube, das mache ich noch...


***
Was ich gestern gar nicht mehr geschafft habe, ist der Eintrag zu meinem Termin in der Psychosomatik - deswegen kommt der jetzt...


„Doch zwischen schwarzen Wolken
Seh' ich ein kleines bisschen blau
Ich halt die Luft an, lauf über die Glut
Alles wird gut“

(Johannes Oerding – Alles brennt)



Altbekannte Straßen.
Einmal quer durch die Stadt.
Mit jeder Haltestelle die ich passiere, schlägt mein Herz ein bisschen schneller.
Herzrasen. Ich habe das ein bisschen unterschätzt wie es ist, wieder hier hoch zu fahren.
Der Ort, an dem ich die heißesten Tage des Sommers verbracht habe und an dem nun in Grau die letzten Reste des Schnees liegen, der am Wochenende gefallen ist.
Der Ort, an dem ich einige der schlimmsten und besten Momente meines Lebens verbracht habe.
Auf dem Weg über das Gelände treffe ich einen ehemaligen Mitpatienten. Er war einer der sehr Stillen gewesen, deshalb beschränkt sich unser Gruß auf ein Nicken. Wieder mal einer, der immer noch oder schon wieder hier oben ist. Und im Stillen frage ich mich, ob ich es irgendwann schaffen werde. Ich kenne viel mehr Negativ- , als Positiv – Beispiele.

Ich betrete ein Gebäude, in dem ich auch schon mal Praktikum gemacht habe. An der Anmeldung ist man verwirrt über die Tatsache, dass die Karte schon eingelesen ist – nur halt nicht für die Psychosomatik, sondern für die Psychiatrie. Es dauert eine Weile, bis alles geklärt ist und ich habe keine Zeit mehr den Fragebogen auszufüllen, den ich vor dem Termin noch bearbeiten sollte. Ich bin aber auch nicht böse darüber. Von der Ferne sehe ich die üblichen Fragen, die ich alle durchgängig mit „ja“ ankreuzen könnte – das muss jetzt nicht sein.

Wartezimmer. Draußen rinnt der Regen die Fensterscheiben hinab. Ich frage mich, was ich hier eigentlich mache. Habe ich mir das gut überlegt?
Viel Zeit alles in Frage zu stellen habe ich nicht, ehe ein „Frau Mondkind?“ an meine Ohren dringt.
Da steht er nun – der Arzt mit dem ich gleich reden soll. Mir fällt auf, dass er gar keinen Kittel trägt – das macht die Situation gleich angenehmer.

Wir wechseln das Gebäude und betreten mir ebenfalls schon bekannte Gefilde.  Auch hier habe ich ein Praktikum gemacht – allerdings nur zwei Tage und ich kenne hier wahrscheinlich Keinen mehr.

Einstieg.
„Haben Sie gut hergefunden?“ „Ja… - auch wenn es sehr merkwürdig ist, wieder hier hoch zu fahren…“  „Das glaube ich…“
Und dann geht die übliche Fragerei los. Wir fangen oberflächlich an und gehen dann immer weiter in die Tiefe. Für einen Psychosomatiker gräbt er allerdings erstaunlich wenig in der fernen Vergangenheit. Wir hatten in der Uni mal einen Beispiel – Erstkontakt. Vielleicht war das auch etwas überspitzt, aber seitdem ist mir die Psychosomatik nicht in guter Erinnerung geblieben.

Er hat heute nicht meinen besten Tag erwischt. Während ich schon so oft über die Vergangenheit geredet habe, dass es mittlerweile einigermaßen lässig funktioniert, macht mir die Gegenwart aktuell Probleme. Und irgendwann merke ich, wie mir die Tränen in die Augen steigen. „Jetzt bitte kein Desaster“, denke ich mir.
Ich weiß nicht, wann ich mich das letzte Mal emotional so angreifbar gemacht habe. Ein einziges falsches Wort hätte mich in dem Moment zusammen brechen lassen können. Ich fühle, wie die Fassade viel kleiner wird und wie meine Antworten mehr zu derjenigen werden, die ich bin. Da ist kein Automatismus mehr dahinter, der die Antworten gibt, bevor der Kopf gedacht hat. Ich habe selten eine so ruhige und beruhigende Persönlichkeit erlebt und ohne, dass es eine aktive Entscheidung gewesen wäre, vertraue ich ihm.

Ich brauche lange, um die Dinge zu sagen.
Um zu erklären, dass die Uni zwar irgendwie funktioniert und dass man davon halten kann, was man will, aber dass ich trotzdem mit dem Rücken zur Wand stehe. Dass mein Denken im Moment nur bis nach dem Examen geht. Ich berichte, dass eine meiner größten Ängste im Moment mein Leben in 5 Monaten ist. Dann bricht alles, das mich bisher gehalten hat, weg. Selbst wenn ich im PJ hier bleibe – Ambulanztermine einbauen wird schwierig und wenn ich gar nicht erst hier bin, geht es überhaupt nicht mehr.
Auf die Frage, was die Ambulanztermine für mich bedeuten, könnte ich irgendetwas von „sie bringen mich vorwärts“ erzählen. Stattdessen berichte ich, dass ich sie als Ankerpunkte auf meinem Weg betrachte, der ihn in erträgliche Etappen aufteilt, weil es die Endlosigkeit der Zeit wegnimmt. Es gibt ab und an diesen Punkt auf dem Weg, an dem das einfach mal jemand eine Stunde mit mir aushält. In der nichts passieren kann, weil alles aufgefangen wird. Ich berichte, dass mir bewusst ist, mich total abhängig von der Ambulanz gemacht zu haben, aber dass es für mich gerade nicht anders geht.
Und er versteht das. Sagt, dass jeder Mensch von anderen Dingen abhängig ist und dass es überhaupt nicht schlimm ist. Ich bin beruhigt, dass kein „Frau Mondkind, das ist aber zu wenig für eine Therapie“ kommt.

Wir reden über Fassaden. Dass es okay ist, dass sie fällt. Auch, dass es jetzt in dem Moment für ihn okay ist. Das bringt die Situation doch noch fast zum Kippen, aber nein… - ich weiß, wenn ich jetzt zulasse, dass ich völlig zusammen falle, ist er noch 2 Stunden mit mir beschäftigt und er will sicher auch irgendwann nach Hause.
Aber man muss nicht perfekt sein sagt er. Das mache einen unnahbar, wenn man anderen vermittelt, dass man das Studium mit links macht. Denn das mache keiner. Insbesondere nicht vor dem Examen. Selbstzweifel seien gerade in der jetzigen Phase normal und das dürfe man auch unter Studienkollegen thematisieren. Das würde jeder verstehen und er rät mir, offener damit umzugehen.

„Ich weiß, das ist gerade alles schwer auszuhalten.“ „Sehr schwer, ja.“
Er hat die Lautstärke seiner Stimme der meinen angepasst und manchmal verstehen wir uns kaum durch das im Hintergrund klopfende Geräusch der Regentropfen gegen die Fensterscheiben.
„Und sie würden im Moment alles am liebsten hinschmeißen...“
„Schon irgendwie ja. Wenn ich das Examen nicht im Rücken hätte, dann wäre es mir so egal, was hier passiert – Hauptsache dieser Wahnsinn hört auf. Aber ich habe das Examen. Und dadurch keine Wahl.“
Und nach einem kurzen Schweigen -
„Es tut mir auch wirklich leid, aber ich weiß gar nicht so richtig, mit was für Erwartungen ich hier heute hergekommen bin. Mir ist klar, dass ich es allein nicht schaffe, aber es fällt mir auch schwer Hilfe anzunehmen, weil ich eigentlich keine Zeit dafür habe. Ich kann es auch für mich selbst schwer akzeptieren, dass das hier alles ein Teil von mir ist und dass es okay ist, wenn es mir hilft.“
Und… - wow, er versteht das. Normalerweise kommt an der Stelle „gesund werden oder Examen, aber nicht beides“. Um der Sache die Krönung aufzusetzen, fügen manche noch hinzu: „Naja, wenn Sie jetzt Examen machen wollen, kann es nicht so schlimm sein.“
Wieso spricht der Wunsch das Einzige, das im Moment scheinbar funktioniert, fortzusetzen – also in meinem Fall die Uni – einem das Recht ab, dass es einem trotzdem nicht gut geht? Verstehen werde ich das nie.

Im Prinzip sei ein stationärer Aufenthalt keine schlechte Idee sagt er, aber nicht mit dem Examen vor der Nase. Und wenn es so akut werden sollte, dass es nicht mehr geht, ist ohnehin die Psychiatrie zuständig. Gruppen seien auch eine sinnvolle Maßnahme - aber auch das ist aktuell schwierig. Denn das sei etwas Längerfristiges und da ich ja noch gar nicht weiß, wie es nach dem Examen für mich weiter geht, möchte er mich da jetzt auch nicht hinein stecken. Also bleibt nur die Möglichkeit, dass - solange er noch Kapazitäten dafür hat, was definitiv noch bis in den Januar hinein der Fall ist -  er höchstpersönlich sich der Sache annimmt.
In dem Fall gäbe es in dem Sinn derzeit auch gar keine therapeutische Aufgabe, weil mich das nur noch weiter überfordern würde. Es gehe darum – quasi als Akutlösung - einfach da zu sein, bis die äußeren Umstände sich wieder ändern und man den Fokus auf andere Dinge legen kann. Und (so habe ich das auch noch niemanden sagen gehört) wenn da familiär halt so wenig Unterstützung kommt, dann übernimmt eben die Ambulanz erstmal die Aufgabe, die sonst das private Umfeld leisten würde.
Und das ist am Ende auch das, was er mir anbietet. Wenn ich noch mal das Bedürfnis habe mich mit ihm zusammen zu setzen, soll ich ihm einfach eine Mail schreiben. Und es ist ihm auch völlig egal, ob das schon nächste Woche, zwischen den Feiertagen oder im neuen Jahr ist.
Wir sitzen noch kurz in seinem Büro. Er schreibt und ich bastele meine Fassade wieder zusammen.

Wow… Es ist ein Anker… ich habe so Angst, dass das wieder in der Klinik endet, wenn ich nicht bald alles etwas besser in den Griff bekomme. Aber… - es gibt Ausfahrten vorher, so mir das rechtzeitig auffällt. Und vielleicht kann man das dann vorher abfangen.
Ich habe gar nicht den Anspruch für die nächsten vier Monate, dass sie gut werden. Die Examenszeit bleibt einem sicherlich nicht als Sternstunde des Seins in Erinnerung. Aber funktionieren sollte es.
Und ja… - zwischen all dem Chaos im Moment und all den schwarzen Wolken ist es tatsächlich ein kleines Stückchen blau. Und auf dem Heimweg nehme ich vor allen Dingen Dankbarkeit wahr. Mir ist bewusst, was für ein Privileg ich da gerade habe.

Ich weiß nicht, wer am Ende die Geschichten unseres Lebens schreibt. So richtig bewusst ist die Entscheidung für das Medizinstudium nie gewesen. Mittlerweile habe ich meine Nische gefunden und möchte das selbst alles gern machen. Aber auch wenn es nur dazu dient, dass mir vielleicht doch noch im rechten Augenblick die Flügel wachsen bevor ich abstürze, dann hat es seinen Sinn vielleicht schon erfüllt. Jedenfalls – und das meine ich jetzt so generell – wäre ohne viel Vitamin B glaube ich eine Menge anders gekommen und ich weiß das wirklich sehr zu schätzen.

Alles Liebe
Mondkind

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