Begegnungen #2



Mondkind ist auf dem Sprung.



Sie rast durch die Stadt, vom Krankenhaus zur Bahn.

Eine Glühbirne für ihr Rücklicht am Fahrrad muss sie heute noch kaufen, in der Bibliothek müssen Seminarunterlagen für die nächste Woche gedruckt werden und bis Freitag muss der Vortrag über das Thema Schlaganfall fertig sein. Den möchte sie gut machen. Es wäre peinlich hier Dinge nicht zu wissen oder Fehler einzubauen. Die Oberärztin, die ihr den Vortrag abnehmen wird, ist selbst Neurologin – also sollte Mondkind besonders wachsam sein mit dem, was sie sagt.



Als sie aus der Bahn springt und in Richtung Ampel rast, läuft ein grau melierter Herr, dessen Jacke Mondkind kennt und der einen Schal lässig um seinen Nacken geschwungen hat, ein paar Meter vor ihr her. Ein Typ, den Mondkind auch von hinten und zwanzig Meter gegen den Wind erkennt: Ihr Ergotherapeut aus der Klinik. Was ist nur los in letzter Zeit?

Er hat sie wahrscheinlich gar nicht gesehen und Mondkind verlangsamt ihre Schritte, um ihn nicht überholen zu müssen, denn er hat es scheinbar nicht so eilig wie sie.

Ein Mensch, mit dem Mondkind viel verbindet – wenn auch emotional nicht so viel wie mit dem Stationsarzt – jedenfalls haut das sie heute nicht so raus.

Am Anfang war er ihr sehr unsympathisch. Zu distanzlos, zu direkt, zu anmaßend. Sie hat nach den ersten Gesprächen geflucht und wusste dabei gar nicht so genau, ob sie sauer auf ihn oder auf sich selbst war. Sie hat versucht ihn zu meiden, aber er ließ sie nicht aus seinen Fängen. Der Weg bis zu ruhigen Gesprächen auf der Dachterrasse des Hauses war weit. Dieser Mensch mag so manche Macken haben – das fand Mondkind auch am Ende ihrer Zeit noch, aber er ist so maßgeblich gewesen für die Wende in Mondkinds Leben, weil er sich über ihr Abblocken hinweg gesetzt hat, weil er weiter gebohrt und weiter gefragt hat, wenn Mondkind nicht mehr reden wollte, weil er gewartet hat, bis Mondkind die Argumente ausgingen und weil er ihre Tränen ausgehalten hat.



Mondkind kann sich an das erste Gespräch nur noch vage erinnern. Darüber gibt es nicht mal einen Tagebucheintrag, weil sie für den Rest des Tages zu fertig gewesen war und am nächsten Morgen den Gesprächsverlauf nicht mehr so richtig zusammen bekommen hat.

Es war das erste längere Einzelgespräch überhaupt gewesen, in einer von Mondkinds ersten Therapieveranstaltungen. Mondkind musste an einem Montag das erste Mal zur Ergotherapie gehen. Vorstellen konnte sie sich nicht viel darunter aber vielleicht – so hoffte sie – könnte sie sich ja erst mal hinter den anderen verstecken und schauen, was die alle so machen.

Sie hatte an diesem Montag kaum einen Fuß in die Räumlichkeiten gesetzt, als der Ergotherapeut sie abfing und mit in sein Büro nahm.

Auch hier kam wieder die Frage, warum Mondkind eigentlich da war. Und das Thema „schwierige Wohnsituation“ ließ er nicht durchgehen. Keiner sei aufgrund einer schwierigen Wohnsituation in der Psychiatrie. Er hatte sich außerdem sehr darüber aufgeregt, dass Mondkind ihre Eltern als „Mama“ und „Papa“ bezeichnete und nicht als „Mutter“ und „Vater“. Das sei viel zu kindlich und Mondkind verstand den Kern dahinter nicht, denn für sie spielte das keine große Rolle und sie wechselt auch ab und an die Begrifflichkeiten.

Es ging viel um ein Thema, das Mondkind unglaublich hasst. Ihre vermeintliche Unselbstständigkeit. Immerhin war sie ja schon einen weiten Weg gegangen. Sie war zu Hause ausgezogen, hatte es geschafft endlich die Zugangsdaten zu ihrem eigenen Konto zu erlangen, stemmte seit fast zwei Jahren ihr Leben im Wesentlichen alleine. Sie hatte kaum noch Kontakt zu ihrer Familie, an ihrem Wohnort funktionierte es auch nicht so, wie sie sich das anfangs mal vorgestellt hatte. Sie war sehr auf sich allein gestellt und nur, weil sie ein wenig unsicher war, weil sie vielleicht ein wenig zu „brav“ aussah und überaus schüchtern war, weil die Welt da draußen ihr ganz viel Angst machte und ihre Füße sie aber trotzdem jeden Tag hinaus in eben sie die Welt trugen, hieß das ja nicht gleich, dass sie unselbstständig war.



Rückblickend betrachtet gab es einen sehr interessanten Aspekt bei dem Gespräch. Es ging darum, was man in der Klinik für Mondkind denn tun könne.

Mondkind kann sich an den genauen Verlauf des Gesprächs nicht mehr erinnern – auch, weil es sie alles fürchterlich aufgeregt hatte, aber letzten Endes kamen sie dabei raus, dass der Ergotherapeut der Meinung war, dass der Aufenthalt Mondkind unter den gegeben Umständen mit Sicherheit nicht sehr viel weiter bringen werde. Eine Prognose, die Mondkind gar nicht gefiel.

Auf die psychische Situation bezogen sollte er an der Stelle leider Recht behalten.



Er war auch einer der Menschen, der es scheinbar zumindest im Team kommuniziert hat, dass er Mondkinds Entlassung für viel zu früh hält. Ihr Stationsarzt sagte ihr kurz bevor sie ging, dass der Ergotherapeut überhaupt nicht wisse, warum Mondkind jetzt gehe.



Wie gesagt – der Typ hat eindeutig auch seine Macken – aber Mondkind hat ihn zu schätzen gelernt, da oben auf der Dachterasse, auf der sie so viele Gespräche geführt haben, in denen er sich eine Zigarette nach der anderen gedreht hatte. Der Mann hatte ein Talent dafür einen innerhalb von einer Stunde einmal völlig auseinander zu nehmen, aber im Gegensatz zu vielen anderen auch wieder einigermaßen zusammen zu setzen, bevor er die Menschen hat gehen lassen.



Und manchmal – so glaubt Mondkind – war er am Ende einer der Menschen, der sie am meisten verstanden hat – einfach, weil er sich Zeit genommen hat. Er wusste, dass Mondkind die zügige Entlassung eigentlich nur wegen der Uni wollte und nicht, weil es ihr so gut ging. Auch zu großen Teilen auf seine Kappe geht wahrscheinlich, dass Mondkind von dort aus zur Uni gehen durfte – wenngleich der Oberarzt das natürlich genehmigen musste.



Mondkind hat den Menschen zu schätzen gelernt, der da ein paar Meter vor ihr die Straße überquert und dann aber eine andere Richtung als Mondkind einschlägt, sodass sie ihr Tempo wieder aufnehmen kann, um schnell einen Punkt nach dem anderen auf ihrer Liste abarbeiten zu können.



Alles Liebe

Mondkind

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