Egoismus
Mondkind kommt heute sehr
nachdenklich nach Hause.
Den Tag in der Uni hätte sie sich
heute auch schenken können. Hauptsache der Blockkoordinator lässt die Studenten am Brückentag
(mit Anwesenheitspflicht!) antanzen, ist aber selbst nicht da.
Über die Hälfte der
Veranstaltungen sind heute ausgefallen.
Wir beschließen die Mittagspause
zu nutzen, um Essen zu gehen. Das war eigentlich nicht mein Plan; ich mag die
Mensa nicht so sehr, weil es dort immer so laut und so voll ist. Allerdings… -
50 Minuten reichen halt auch nicht aus, um im Labor irgendetwas zu reißen und
für die Bibliothek lohnt sich das auch nicht. „Darf ich mitkommen … - wenn es
Euch nicht stört?“, frage ich. Nicht, dass man normalerweise fragen müsste,
aber ich bin ja noch nicht lange in der Gruppe und vielleicht wollen die lieber
unter sich sein. „Klar doch“, heißt es und wir machen uns auf den Weg in die
Mensa.
Als wir alle schon am Tisch
sitzen, stoßen noch zwei Andere aus der Gruppe, denen die Warterei
zwischendurch zu doof geworden war und die irgendetwas anderes getan hatten, zu
uns.
„Mondkind was machst Du denn
hier?“, fragt mich eine der Beiden. Und als ich sie wahrscheinlich ein wenig
verschreckt ansehe sagt sie: „Ich wundere mich nur gerade, weil Deine Schwester
nie mit Essen war…“ „Na gut, die hat aber auch ein Essproblem“, kommt es aus
einer anderen Ecke.
Ich bin ein bisschen überfordert –
ich weiß nicht, in wie fern das in der Gruppe Thema war und ich möchte meine
Schwester da nicht nachträglich in schlechtem Licht dastehen lassen. „Entschuldigung“,
kommt es direkte aus der Ecke. „Nein, das ist ja nicht schlimm“, sage ich. „Ich
meine… - es ist ja nun mal so…“ „Man sieht es halt auch wirklich“, wirft ein
Kommilitone ein.
Als wir alle am Tisch sitzen,
kommt noch einmal die Frage auf, warum ich jetzt in der Gruppe gelandet bin.
Ich erzähle noch einmal kurz, dass ich krank war, den Block nicht zu Ende
führen konnte und er der Einzige ist, der mir noch fehlt. Trotz vielen
Telefonaten mit dem Studiendekanat bin ich halt im falschen Block gelandet. „Wir
hätten ja nicht tauschen müssen“, schließe ich. „Ich wollte meine Schwester ja
nicht aus der Gruppe vertreiben, aber es geht halt wirklich ums Examen und das
macht man ja nur ein Mal im Leben.“ „Aber ich hätte das auch nicht gemacht“,
merkt eine andere Kommilitonin an. „Da hätte ich auch lieber die Gruppe
gewechselt, als mit meiner Schwester zusammen in einem Semester zu studieren.“ „Naja“,
gebe ich zurück, „wir haben bis nach dem 6. Semester unser ganzes Leben
zusammen verbracht – da finde ich, dass man sich doch acht Wochen mal zusammen
raufen kann. Es heißt ja auch nicht, dass wir aneinander kleben müssen. Wenn
meine Schwester zum Beispiel nicht mit essen kommen will, dann soll sie das
nicht tun. Ich kommentiere das nicht. Mein Traum war das auch nicht – aber ein
gangbarer Weg.“
„Ja, aber irgendwann kommt der
Punkt – da will man seine Schwester einfach nicht mehr um sich herum haben. Ich
verstehe das schon…“, kommt zurück.
Es ist nicht so, dass ich das
gemacht habe, ohne nachzudenken. Und ein bisschen frage ich mich, ob ich nicht
ein bisschen zu viel an mich selbst gedacht habe. Für mich war das immer so,
dass meine Schwester ja eigentlich die Wahl hat. In Bezug auf das Examen ist es
sinniger das so zu machen, wie sie das gerade macht, weil sie so mehr Zeit zum
Lernen hat. Wenn ihr aber der Zusammenhalt mit der Gruppe wichtiger gewesen
wäre, hätte sie auch bleiben können.
Aber vielleicht hatte sie die
Wahl nicht?
Vielleicht habe ich mich da
wirklich in Dinge eingemischt, die ich hätte in Ruhe lassen sollen.
Vorwürfe mache ich mir schon…
Für mich wären die acht Wochen
zusammen studieren halt nicht so sehr ins Gewicht gefallen, aber anscheinend
ist das nicht für alle so.
Und die Nummer mit meinem Auszug
kam auch nochmal auf. „Aber für Deine Schwester ist es doch jetzt total schwer
zu Hause raus zu kommen, seitdem Du weg bist“, gibt jemand zu bedenken. „Ja“,
das ist mir auch klar“, sage ich. Ich verteidige mich immer damit, dass es ja
nicht so ist, dass ich sie unglaublich oft gefragt habe, ob wir zusammen in
unsere Studienstadt ziehen wollen. Und wenn sie ja gesagt hätte, hätte ich mich
daran beteiligt, das unserer Mutter beizubringen.
Klar wäre das eine wirklich
schwierige Zeit geworden, weil sie uns eben nicht loslassen kann und die
Illusion hat, dass wir für immer mit ihr in dem Haus leben und das waren auch
wirklich bittere Mails, als ich zu Hause ausgezogen bin, die da jeden Tag
kamen. Zumal ich in der Zeit ja selbst völlig am Ende war, weil ich von heute
auf morgen kein Dach mehr über dem Kopf hatte.
Ich mache mir oft Vorwürfe
deswegen. Manchmal glaube ich, dass es nur so hätte enden können, dass einer
aus der Familie raus kommt und der andere nicht, weil die Hürde für den Zweiten
nach dem Ersten so hoch wird, dass man die nicht mehr überwinden kann. Und „einfach
mal so“ ausziehen ist eben nicht drin. Ich hatte damals nicht mal die Gewalt
über mein Konto und ich fürchte, meine Schwester hat das immer noch nicht.
Meinerseits war das ein Akt völliger
Verzweiflung. Wenn ich heute darüber nachdenke, dass ich lediglich mit einem
Koffer los gezogen bin und weder wusste, wo ich in den nächsten Monaten leben
werde noch wusste, wie ich überhaupt überleben soll (das ist eben blöd ohne
Geld) und auch nicht wusste, ob ich ein paar Wochen später würde weiter
studieren können… das war keine Kopfentscheidung mehr. Ich habe es so lange
ausgehalten, bis es zu viel war und ich habe in dem Moment wirklich nicht mehr
an meine Schwester gedacht, sondern nur noch gehandelt.
Wobei ihre Toleranzschwelle da
eben offensichtlich höher ist, als meine. Vielleicht hätte ich es eben auch
einfach noch mit aushalten müssen.
Ich hatte auch das Glück die
Ambulanz im Rücken zu haben. Und auch wenn es das Letzte war das ich zu dem
Zeitpunkt wollte, wusste ich immer, dass die mich im Notfall in die Klinik
verfrachten können – in der Zeit haben sie mir das auch immer wieder angeboten
(und rückblickend betrachtet wäre das vielleicht auch sinnvoll gewesen). Ganz
am Ende war da schon ein Sicherheitsnetz und ohne das hätte das auch nicht
funktioniert.
Wobei ich mir auch die Ambulanz
erarbeitet habe und das eine große Überwindung war, weil ich genau wusste, dass
ich damit den Wunsch Pilotin zu werden, aufgeben muss. Abgesehen davon sind
meine Mama und meine Schwester „psychiatriefeindlich“, wie der Oberarzt es mal
formulierte und als das alles anfing, habe ich ja noch dort gewohnt und musste
das irgendwie verstecken. Und ganz zuletzt war es auch nicht so einfach die
Gesichte zum xten Mal einer unbekannten Person zu berichten, die da im weißen
Kittel vor mir saß.
Aber wer weiß wie es gekommen
wäre, wenn sie die Ambulanz im Rücken gehabt hätte und ich diejenige gewesen
wäre, die hätte bleiben müssen, weil sie kein Netz gehabt hätte, das sie im
Notfall auffängt.
„Man muss doch auch an sich denken“,
wirft ein Kommilitone ein. „An ihrer Schwester sieht man doch, dass da
irgendetwas nicht läuft. Da kann man doch nicht aus Solidarität vor die Hunde
gehen. Und helfen kann man anderen doch auch nicht, wenn es einem selbst
schlecht geht…“
„Ich habe meine Schwester ja auch
ganz lieb“, werfe ich ein. „Und es ist eine Situation, die mich belastet und
mich seit Jahren verfolgt, aber was soll ich machen? Und dass sich zum Beispiel
die Essproblematik mal ändert, ist ja bis jetzt nicht abzusehen. Vielleicht
hätte ich es aushalten müssen, aber ich konnte mir das echt nicht mehr mit
ansehen. Das war halt auch mit ein Grund, aber das kam halt alles gar nicht an.
Ich habe gegen Wände geredet.“
Irgendwie wissen sie es auch
nicht. Denn mehr als ihr immer wieder anbieten, dass wir das auch zusammen
machen können, kann ich am Ende nicht.
„Man kann nicht jeden retten“,
wirft ein anderer Kommilitone ein. „Das Gegenüber muss halt auch wollen, sonst
nützt das alles nichts. Sie sind beide erwachsen und eigenverantwortliche
Menschen. Solange wie Mondkind sagt, dass ihre Tür ihrer Schwester jederzeit
offen steht, ist das doch okay. Wenn ich Mondkind und ihre Schwester so
vergleiche, glaube ich, dass es für Mondkind richtig war und ihrer Schwester
würde es eben auch gut tun, da mitzuziehen. Sonst wäre Mondkind jetzt
vielleicht wie sie. Und immerhin hat Mondkind die ganze Situation trotz dem
Versuch da raus zu kommen, am Ende doch krank gemacht.“
Über den letzten Kommentar
wundere ich mich. Ich weiß nicht, ob meine Schwester erzählt hat, wo ich bin –
bei ihr glaube ich das nicht und ich habe es auch nicht getan. Entweder er hat
die Dinge schnell miteinander kombiniert oder meine Schwester hat es doch
erzählt.
Und irgendwie wissen wir dann
alle nicht so richtig weiter. Es ist völlig klar, dass ich nicht immer richtig
gehandelt habe. Ich habe irgendwann angefangen meinen eigenen Weg zu gehen und
auch wenn es viel Kraft und viele Tränen gekostet hat und es auch im Sommer
unfassbar schwer war nochmal alle Bänder durchzuschneiden und völlig von vorne
anzufangen, nachdem ich gerade gehofft habe, dass die Bänder die ich nach
meinem Auszug geknüpft habe vielleicht langsam mal anfangen ein bisschen
Gewicht zu tragen, war es für mich glaube ich die beste Lösung.
Aber es erfordert nun mal auch
ganz viel Mut und man muss halt echt den Groll der Anderen aushalten. Wenn man
anfängt seinen eigenen Weg zu gehen, finden das nie alle gut. Man verliert viel.
Aber man gewinnt auch etwas – das muss man nur erst mal glauben, bevor man es
erlebt. Ich hätte das auch nie für möglich gehalten.
Ich weiß es nicht… ich weiß
nicht, ob es einen Weg gegeben hätte mich selbst aus der Situation, in der ich
nun mal echt gelitten habe, heraus zu holen und gleichzeitig auch einen Weg für
meine Schwester zu finden. Ob das meine Aufgabe gewesen wäre oder nicht… -
darüber gibt es verschiedene Auffassungen. Im Stillen hoffe ich immer, dass mir
die Leute sagen, dass es nicht meine Aufgabe ist. Aber ich weiß auch, dass es
die zumindest in Teilen gewesen wäre.
Es gibt nun mal auch die Ansicht,
dass das alles viel zu egoistisch war und die kann ich nicht ausblenden in der
Hoffnung, dass es meine Taten dadurch besser macht, dass ich nicht darüber
nachdenke.
Ich hoffe immer, dass wir
irgendwann beide unseren Weg finden.
Und beide gesund werden. (Wobei
ich mir die ganze Klinikzeit über auch immer wieder Vorwürfe gemacht habe, dass
diejenige, die es eigentlich schon fast geschafft hatte den Weg in ein eigenes
Leben zu finden, am Ende doch noch in der Klinik gelandet ist. Als im Prinzip
alle glaubten, dass ich über den Berg bin. Ich dachte manchmal, dass ich
denjenigen den Platz weg nehme, die ihn im Prinzip wirklich brauchen, weil sie
noch viel tiefer da drin stecken… )
Liebe Grüße von einer
nachdenklichen Mondkind
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