Müde



Mondkind ist unfassbar fertig. Einfach nur müde. Und leer.
Sie hat nicht mal einen Plan fürs Wochenende geschrieben. Wobei das wahrscheinlich der größte Fehler ist, weil das Chaos vorprogrammiert ist.

Die Prüfung und der Vortrag gestern waren chaotisch – was aber eher an sprachlichen Barrieren zwischen dem Arzt und ihr lag und letzten Endes lief das überhaupt nicht wie geplant, aber es ist bestanden. Und danach war Schluss. Schon das Heimradeln hat sie viel mehr angestrengt als sonst.

Sie hat so viel zu tun. Die Klausur muss vorbereitet werden, sie muss sich um die Doktorarbeit kümmern, die Endspurt – Scripte müssen formatiert werden, um die Ersten am Montag drucken zu können, das Bad müsste mal noch geputzt werden, die Wäsche müsste gemacht werden…
Es geht einfach nicht. Ihr Körper macht das nicht mit.
Und eigentlich ist das Wochenende auch immer die Zeit, in der sie ihre Sozialkontakte pflegen sollte. Dass das noch vor der Uni hinten runter fällt ist klar und dennoch hat sie ein schlechtes Gewissen und es macht ihr Angst, dass es wieder zur Gewohnheit werden könnte, wenn sie das einmal einreißen lässt.

Mondkind hat sich heute durch die Klinik – Tagebucheinträge gelesen. Durch ein paar von denen – sie hat so viel geschrieben in der Zeit, dass es ewig dauert das alles zu lesen.
Über einen ist sie gestolpert, der sie sehr bewegt hat. Es war Anfang Juni. Als sie ihren Mietvertrag schon unterschrieben hatte. Kurze Zeit, bevor sie wieder in die Uni gegangen ist.



Es ist Sommer geworden.

Die Wälder sind so grün geworden, dass der Drang nach Platz und Sonnenlicht teilweise die Wege versperrt.

Die Rapsfelder sind schon beinahe verblüht.

Das Korn hat schon eine beachtliche Höhe erreicht, auch, wenn es noch grün aussieht.

Und ich habe Schal, Mütze und Winterjacke mittlerweile bei meinem Papa verstaut und gegen Kleid und kurze Hose ausgetauscht, um in der drückenden Hitze zumindest etwas Leichtes zum Anziehen zu haben.



Während die letzten Wochen für mich so surreal waren, so unwirklich, ist draußen Sommer geworden. Die Welt hat sich weiter gedreht – auch wenn meine Welt in den schützenden Mauern der Psychiatrie einen Augenblick stehen geblieben ist.



Es hätte eigentlich der Sommer werden sollen, den ich über dem Schreibtisch verbringe. Den ich damit verbringe, mich auf das zweite Staatsexamen vorzubereiten, um es im Oktober aus dem Kopf zu haben. Ich bin – auch wenn es mich beunruhigt, weil es eine Abweichung von diesem geraden Weg darstellt, nicht böse darüber. Ich hänge einfach nicht an diesem Studium, sehe es eher als Mittel zum Zweck und als eine Nummer, aus der man nach fast fünf Jahren nicht mehr raus kommt. Ich muss jetzt eben erst mal den Abschluss machen.



„Trag diesen Sommer ewig in Dir“.

Vielleicht werde ich das. Auf jeden Fall ist er wohl einer der Sommer, in denen ich die meisten Freiheiten habe. Ein Sommer, wie es ihn noch nie in meinem Leben gab.

Ein Sommer, in dem ich gelernt habe das Keyboard spielen zu genießen. Weißt Du, was ich gerade für Fortschritte mache? Und ich bin total motiviert, neue Lieder zu lernen. Es ist nicht ganz einfach hier an einen Drucker zu kommen, aber letztens hat Papa mir ein paar Lieder besorgt, nachdem ich ihm den Link geschickt hatte (und schon das war beinahe ein Akt des Unmöglichen).

Ich genieße die abendlichen Spaziergänge. Es tut so gut abends noch mal raus zu kommen, wenn es  schon etwas kühler ist. Mit den anderen zu reden, die Waldluft zu riechen. Ernsthaft – ich weiß nicht, wann ich das das letzte Mal gemacht habe. So völlig banale Dinge, die total verloren gegangen sind. Selbst mit dem Hund habe ich das nie so wahrgenommen, weil ich trotz allem immer in meinem Film war.

Ich bin einfach entspannter geworden. Nicht nur noch auf Zack. Ich kann mir auch ab und an mal die Ruhe antun. Und weißt Du, wie unfassbar das das Leben verändert? Du wirst viel wacher, viel fitter, Du nimmst alles viel bewusster wahr, Du hast viel lieber Menschen um Dich herum.

Überhaupt… - morgens aufzustehen ohne sich zu fragen, wie man den Tag überstehen soll und ohne schon morgens die Gedanken daran zu haben, dass ich das hier einfach nicht mehr machen will, ist wahrscheinlich einer der größten Fortschritte.

Ich hätte es ja nie geglaubt – aber es gibt ein Leben da draußen.

Und vielleicht sollte ich so viel es geht, über diese Tage schreiben. Denn nach wie vor bin ich nicht davon überzeugt, dass es klappen wird, wenn ich wieder an die Uni gehe und die Klinik verlasse.

Und vielleicht kann ich dann von meinem Sommer lesen und vielleicht bringt es mir ein bisschen von dieser Stimmung nahe, wie ich sie jetzt wahrnehme…

Vielleicht.

Alles Liebe
Mondkind


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