Überlegungen zum Montagmorgen



Montagnachmittag.
Mondkind sitzt an ihrem Schreibtisch. Mittlerweile hat sie heute schon den dritten großen Kaffee getrunken und immer noch nichts gegessen. Vielleicht sollte sie langsam aufhören sich darüber zu wundern, warum ihr Bauch herum zickt, wenn sie ihn so quält. Aber was will sie machen mit 3- oder 4 – Stunden – Nächten und einem Zustand, in dem jeder Geruch von Essen in der Nase es ihr schon übel werden lässt?

Mondkind hat das Pathologie - Script vor sich aufgeschlagen. Nachdem letzte Woche im Prinzip gar nichts gelaufen ist, muss sie sich ein wenig beeilen. Eigentlich. Denn praktisch ist das unmöglich.

Mondkind war heute Morgen nochmal in der Ambulanz. Heute bei einem regulären Termin. Im Moment ist sie nur wahrscheinlich so gar nicht therapiefähig. Sie waren dabei zu überlegen, was Mondkind sich denn Gutes tun könnte und im Prinzip weiß sie es gar nicht. Für sie ist das ja alles ohnehin ein Einheitsbrei. Ihre Therapeutin beschließt deshalb ihr eine Liste mitzugeben, auf der mögliche Ideen stehen. Und ein Stimmungsprotokoll soll sie führen, wenn es irgendwie möglich ist. Wenn da aber im Moment immer nur negative Smileys drauf sind, soll sie es lassen.

Ihre Therapeutin erklärt ihr heute sehr umständlich, dass es ja auch einfach sein könnte, dass der jetzige Zustand aus dem Absetzen des Quetiapins herrührt – obwohl sie Mondkind damit nicht kritisieren möchte, denn es hatte ja schon seine Gründe, dass Mondkind es nicht mehr genommen hat. „Vielleicht sollten Sie da nochmal mit einem Arzt drüber sprechen“. Im Prinzip keine schlechte Idee, wenn der nächste Termin nicht Mitte November wäre und das wahrscheinlich auch nicht klappt, weil es mit dem Stundenplan kollidiert. Aber bevor Mondkind den Termin wieder umschiebt, wartet sie erstmal auf das okay vom Studienblockkoordinator. Nur liegt der Termin dann wahrscheinlich im Dezember. (Und ihre Ärztin weiß ja auch immer noch nicht, dass sie das Quetiapin ganz abgesetzt hat…)
Jedenfalls – daran hatte Mondkind auch schon gedacht. Sonst hatten es Medikamente immer nicht so sehr gebracht bei ihr und sie kann sich erinnern, dass sie damals ungefähr im gleichen Zustand wie jetzt dem Oberdoc von der Station gegenüber saß und er dann den Vorschlag mit dem Quetiapin machte. Mondkind war überhaupt nicht glücklich damit jetzt noch ein Neuroleptikum zu nehmen, aber was tut man nicht alles, wenn es einem so schlecht geht. Sie hatte keine extreme Verbesserung gemerkt, aber vielleicht merkt man das nicht so stark, wenn man den Alltag dann plötzlich wieder hinbekommt, weil das ja der „Normalzustand“ ist.
Vom Absetzen bis zu den Schlafstörungen, die bei ihr immer so die ersten Anzeichen sind, hatte es ungefähr drei Wochen gedauert. Naja… - dauert schon eine Weile, bis das ganze Zeug aus dem Körper raus ist. Theoretisch kann es also irgendwie hinkommen.

Zum Schluss kommen die beiden nochmal auf die aktuelle Situation zu sprechen.
Mondkind erklärt, dass sie sich am Wochenende viele Gedanken darüber gemacht hat, warum die Situation letzte Woche so eskaliert ist. Im Prinzip ist es so, dass ihr Leben im Moment tatsächlich nur noch an Verantwortlichkeiten hängt. Sie selbst findet es relativ sinnlos und sie hängt auch nicht dran. Aber sie weiß, dass sie eine Verantwortung gegenüber ihrer Familie, gegenüber der Anatomie – die Doktorarbeit ist nämlich ein teures Unterfangen – und vielleicht auch gegenüber der Gesellschaft hat, der sie nach einer teuren Ausbildung etwas zurückgeben sollte.
Und wenn man bedenkt, dass sie also rational gedacht nicht einfach gehen kann, dann muss sie sich eben einrichten in dieser Welt und dazu zählt, dass sie einen Weg wählt, der sie nicht kurz vor dem Examen versumpfen lässt.
Aber wenn ihr dann die Chance gegeben wird, aus diesen Verantwortlichkeiten zu fliehen, die ihre Schwester ihr mit der Aussage „Mit Deinem Abgang in die Klinik hast Du irgendwo mein Leben zerstört“ gegeben hatte, dann hakt es halt schon mal aus. Auch wenn Mondkind weiß, dass die Vorwürfe völlig unqualifiziert waren und vielleicht auch nicht ganz so ernst zu nehmen waren, aber es ist eben furchtbar sich im Prinzip nur für Verantwortlichkeiten zu quälen.

„Sie können jetzt auch sofort hoch in die Klinik fahren“, merkt die Therapeutin an.
„Kann ich nicht“, erwidert Mondkind. „Dann wird das mit dem Examen ja wieder nichts im Frühling und ich fürchte, wenn ich es dann nicht mache, werde ich es nie machen.“
„Was würden Sie machen, wenn es die Uni jetzt nicht gäbe?“, fragt sie.
„Dann wäre es mir relativ egal“, gibt Mondkind zurück. „Ich möchte einfach nur, dass dieser Wahnsinn aufhört. Dann würde ich da jetzt hochfahren.“
(Obwohl Mondkind sich so ein bisschen fragt, was das bringen würde. Es wäre halt immer jemand zum Reden da – das hilft Mondkind schon mal sehr. Sie löst halt sehr viel über ihren Kopf und Reden kann unglaublich viel Druck raus nehmen. Und im realen Leben hat sie halt wenige Leute zum Reden. Sie kann sich allerdings daran erinnern, dass sie hier vor gar nicht so langer Zeit geschrieben hatte, dass ein nochmaliger Klinikaufenthalt es wahrscheinlich nicht so bringt. Als Krisenintervention aber vielleicht doch…)

„Was machen Sie, wenn es nächste Woche nicht geht?“, fragt sie Therapeutin.
„Ja, das weiß ich auch noch nicht“, gibt Mondkind zurück. „Und irgendwie fürchte ich, dass das wirklich ein Problem wird.“
„Dann fahren Sie in die Notaufnahme. Ich bin ja leider nicht hier…“
„Das müsste man sich alleine erst mal trauen…“
„Haben Sie eine Freundin, die Sie anrufen könnten?“ Mondkind überlegt. Wer hätte schon Lust, sich mal eben um eine völlig desolate Mondkind zu kümmern? Wer ist überhaupt noch übrig geblieben? Wer weiß soweit Bescheid, dass er den Ernst der Lage verstehen würde und auch Mondkind ernst nehmen würde… ?
„Kennen Sie noch Leute aus der Klinik?“, fragt ihre Therapeutin.
„Ja“, erwidert Mondkind.
„Dann rufen Sie einen von denen an“.
„Naja, die schreibt gerade viele Klausuren. Ein bisschen Anstand habe ich ja schon.“, sagt Mondkind
„Das ist in dem Fall aber egal“, gibt die Therapeutin zurück.

Es ist eine Freundschaft, die sich gerade erst entwickelt. Die beiden sind irgendwie auf einer Wellenlänge. Sie waren wegen völlig verschiedenen Auslösern in der Klinik, haben aber in Teilen eine recht ähnliche Problematik erlebt. Beide machen sich wegen Schule beziehungsweise Uni ziemlich verrückt und bei beiden hapert es extrem am Freizeitausgleich. Dass jemand die nicht sehr rationale Erklärung von „es geht nicht, weil es unproduktiv ist“ nachvollziehen und nachfühlen kann, ist bisher sehr selten passiert.
Erst gestern war Mondkind nachmittags ein paar Stunden da und sie haben Kuchen gegessen und Tee getrunken. Es war anstrengend, weil Mondkind im Moment eben ziemlich durch ist, aber sie war froh, es gemacht zu haben.
Ihre Freundin wird bald umziehen. Voraussichtlich Mitte Oktober und da sie letztens meinte, dass sie keine Ahnung hat, wie sie das schaffen soll, hat Mondkind ihre Hilfe angeboten – auch wenn sie selbst auch noch keine Ahnung hat, wie sie im Semester mal eben ein Wochenende frei schaufeln soll. Aber Freundschaften soll man pflegen und das gehört dann eben dazu. Mondkind war ja auch sehr dankbar, dass ihr damals so viele Leute aus der Klinik beim Umzug geholfen hatten. Und vielleicht kann so ein Wochenende etwas anderes tun, ja auch ganz schön werden.

Jedenfalls - die könnte Mondkind anrufen. Sie hat leider schon so viele Psychiatrieaufenthalte und Notfälle hinter sich, dass das für sie beinahe Routine ist. Aber sie schreibt im Moment eben unfassbar viele Klausuren.
Und eine Kommilitonin, die Bescheid weiß, schreibt in acht Tagen Examen – das geht erst recht nicht.  

Ihre Therapeutin gibt ihr noch einen Notfallplan mit. Schreibt das gefühlte 2000ste Mal die Nummer der Notaufnahme unten auf den Zettel und bittet Mondkind eindringlich, sich daran zu halten.

In den nächsten fünf Wochen ist sie genau eine Woche da. Und danach ist es mit Sicherheit sehr schwierig, einen Termin zu bekommen, weil dann ja eben alle einen brauchen. Bis das wieder halbwegs regelmäßig läuft, wird Ende November / Anfang Dezember sein.
Darüber darf sie überhaupt nicht nachdenken.

Mondkind ist ein wenig ohnmächtig. Sie hat nicht den Funken einer Ahnung, wie sie das schaffen soll. Aber sie muss. Klinik ist im Prinzip keine Option. Und wenn ihre Therapeutin nicht da ist, die Ambulanz auch nicht – denn wer weiß, bei wem sie dann landet und wie der die Situation einschätzt. Sie muss eben alles verhindern, was das Semester gefährden könnte. Es bleibt also nur eine Lösung übrig. Durchhalten.
Und so schwer kann es doch nicht sein.
Sie muss einfach nur morgens aufstehen, den Tag verleben und abends wieder ins Bett gehen. Und dazwischen ein wenig lernen. Und den Haushalt nicht vergessen. Und ihre Freunde nicht vergessen – sie hat Sorge, dass das jetzt alles unter geht.
Einfach mal acht Wochen leben, wie ein normaler Mensch. Und nach der Prüfung wird Mitte Dezember sein. Kurz vor Weihnachten.
Und dann muss sie sich einen halben Monat lang um die restlichen Zusammenfassungen kümmern und die irgendwo ausdrucken. Nochmal ein wenig Ruhe vor dem Sturm. 

Alles Liebe
Mondkind

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