Stundenplanlösung und Neuro #1
Heute war mal ein etwas ruhigerer Tag.
Heute Morgen habe ich die Vorlesungen von gestern nachgearbeitet, dann
war ich im Labor und habe nochmal dem Dekanat hinterher telefoniert, sodass ich
jetzt endlich „legal“ auf meiner Schiene auf der ich studiere, unterwegs bin.
Ansonsten hatte ich heute die erste Neuro – Veranstaltung.
Man merkt deutlich, dass hier ein anderer Wind weht. Es muss kein
Lehrplan erfüllt werden, was die Veranstaltungen sehr viel entspannter und
individueller macht.
Unser Dozent hatte heute direkt eine Patientin dabei. Ich bewundere
immer die Menschen, die sich vor einen vollen Hörsaal stellen und über ihre
Krankheit reden in dem Wissen, dass selbst die Studierenden wahrscheinlich mehr
Ahnung von dem haben, was sie selbst so erzählen.
Heute war es eine sportliche aussehende sehr junge Patientin mit einem
geflochtenen Zopf, der unter einer Mütze hervor lugte. Von der Ferne hat man
direkt ein dezent auffälliges Gangbild gesehen und ich dachte mir, dass das vom
Alter her ganz gut in die MS – Schiene passen würde, aber doch eher aussieht
wie Zustand nach Schlaganfall. Aber so jung? Bei einer schlanken, sportlichen
Patientin die – wie sie uns später erzählen wird – weder familiär vorbelastet
ist, noch irgendwelche kardiovaskulären Risikofaktoren erfüllt?
Stockend erzählt sie uns ihre Geschichte. Eine Aphasie hat sie auch.
Sie weiß genau, was sie sagen möchte und versteht auch alles, aber ihr
Sprechapparat macht ab und an nicht mit und deshalb ergänzt der Oberarzt hier
und dort die Geschichte.
Und dann zeigt er uns ihre Bilder vom Kopf. Man erkennt einen
Verschluss einer der wichtigsten Arterien im Gehirn und dadurch einen riesigen
Infarkt, der mehr als ein Viertel des Gehirns betrifft.
In der Folge hat es in den Infarkt auch noch eingeblutet und das Hirn
ist angeschwollen, sodass auch noch eine Kraniektomie nötig war – das erklärt
auch die Mütze.
Es ist eindrucksvoll – und erschreckend.
Wenn man die Bilder mit dem klinischen Outcome vergleicht, würde ich
nie erwarten, dass das zusammen passt. Junge Menschen haben noch eine Menge
Kapazitäten, was neuronale Vernetzungen und deren Umstrukturierungen betrifft.
Die können noch viele neue Verbindungen ausbilden. Ein 80 – jähriger mit so
einem Infarkt würde das Pflegeheim mit Sicherheit nicht mehr verlassen.
Ich frage mich, wie es der Patientin gehen muss. Abgesehen vom
Körperlichen.
Was macht man, wenn man mit einem Mal so aus dem Leben gerissen wird?
Wenn man von so einem Schicksalsschlag getroffen wird? Natürlich weiß ich, dass
es Schlaganfälle auch bei jungen Menschen gibt, aber selten ist es trotzdem.
Wie würde ich mich fühlen, wenn ich wüsste, dass ich vor zwei Monaten
innerhalb von ein paar Stunden mehr als ein Viertel meines Gehirns verloren
hätte?
Und wie würde mein Bild einer Zukunft jetzt aussehen?
So einen Fall hatte ich in meiner Famulatur nicht. Überhaupt hatten
wir relativ selten Menschen mit so ausgedehnten Infarkten. Und ich frage mich,
wie ich damit zurecht gekommen wäre, wenn wir so eine Patientin bekommen
hätten. Wenn man noch viel näher an der Geschichte dran ist, jeden kleinen
Schritt der Heilung miterlebt, die Hoffnung und die Verzweiflung bei
Rückschlägen, Angehörigengespräche führt.
Manchmal frage ich mich, wie lange ich den Job aushalten werde.
Irgendwann hat man wahrscheinlich eine ganze Reihe von Menschen im
Kopf, zu denen das Leben verdammt unfair war.
Alles Liebe
Mondkind
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