Damals, an jenem Freitag
I wanted to let go and give up the fight
Tell my heart it can stop beating
You gave me a reason to believe in myself
Just when I'd given up dreaming
(Ronan Keating - Just when I'd given up dreaming)
Damals.
Unser Dozent teilt uns in Gruppen auf. Gruppenarbeit in der Vorlesung
hatte es bis dahin auch noch nie gegeben. Wir bekommen eine Medikamenten –
Liste vorgelegt und sollen die geriatrisch anpassen. Da stehen natürlich nicht
nur fünf, sondern gleich vierzehn Medikamente drauf.
Ich habe keinen Plan – ich sehe nur noch Buchstaben, aber keine Worte.
Geschweige denn, dass ich irgendein Medikament seinem Wirkprofil zuordnen kann.
Jeder aus der Gruppe soll etwas beitragen
und meine Freundin ist zum Glück so nett mir einen Zettel zu schreiben mit dem,
was ich sagen soll.
Ich sitze ganz am Rand, damit ich unauffällig ein paar Minuten eher
verschwinden kann.
„Oh – der Hörsaal leert sich“, kommentiert der Dozent. Wir sind
ohnehin nur noch knapp zehn Leute, weil die anderen sich die Vorlesung von vorn
herein gespart haben. Ich finde es anmaßend. Wenigstens war ich überhaupt da –
trotz Termin. Er drückt mir noch die PRISCUS – Liste und die AMTS – Karte in
die Hand – beides Orientierungshilfen für die Medikation von älteren Leuten.
„Schauen Sie sich das an“, sagt er dazu.
„Mondkind, Du hast Dein Halstuch vergessen“, ruft mir meine Freundin
hinterher und schmeißt es einmal quer durch den Hörsaal.
So viel zum Thema unauffälliger Abgang…
Und irgendetwas ist anders an diesem Tag. Sympathikus und
Parasympathikus können sich auf dem Weg zur Ambulanz nicht so richtig
entscheiden. Es mag blöd klingen, aber ich fühle, dass da etwas kommt.
Ich erinnere mich, dass ich auch nur ein Mal mit Angst zu meinem
Hausarzt gegangen bin. Damals hat er mich im Anschluss mit Verdacht auf
Blinddarmentzündung ins Krankenhaus eingewiesen. Ich war 11 Jahre alt und
konnte mir das zumindest von der Symptomatik gesehen nicht herleiten. Aber ich
hatte es im Gefühl, dass das kein gewöhnlicher Arztbesuch wird.
Und an diesem Mittag ist es genau dasselbe Gefühl.
„Frau Mondkind, es ist jetzt wirklich eilig. Ich würde vorschlagen,
dass Sie jetzt da hoch fahren“, sagt die Ärztin – die Hand auf dem
Telefonhörer.
„Das Semester läuft seit einer Woche“, sage ich. „Und heute Nachmittag
muss ich noch meinen Vortrag halten.“
„Es ist besser für Sie, glauben Sie es mir. Bis 12 Uhr haben wir das
Bett geblockt".
Mein Blick wandert auf die Uhr. Drei Minuten von 12.
„Ich brauche jetzt eine Entscheidung... Ich rufe da jetzt an, ja?“, fragt sie und während ich geistesabwesend
ein „Ja“ vor mich hin flüstere von dem ich selbst nicht weiß, ob das jetzt eine
Zustimmung oder die Einleitung für einen weiteren Argumentationsversuch ist, wählt
sie die Nummer des Oberarztes. Ich vernehme seine Stimme, aber ich verstehe
nicht, was gesagt wird. Aber in diesem Augenblick wird mir klar, dass da jetzt
gerade eine Maschinerie anläuft, über die ich keine Kontrolle mehr habe und
gegen die ich mich jetzt auch nicht mehr wehren kann.
„Dann fahre ich also nach dem Vortrag nach Hause und packe meine
Sachen?“, frage ich; gefasst darauf, dass ein „Ja“ kommt.
„Nein“, sagt sie. „Das mit dem „Jetzt“ war schon wörtlich gemeint. Wir
setzen Sie jetzt in ein Taxi und dann fahren Sie JETZT da hoch. Der Oberarzt
will Sie so schnell wie möglich sehen.“
„Und wie kommen meine Klamotten dahin?“, frage ich.
„Da findet sich ein Weg“, sagt sie.
Da draußen noch Patienten sitzen, die auch noch zu ihr wollen, schickt Sie mich wieder in den
Wartebereich. „Glauben Sie mir, das ist die richtige Entscheidung“, erklärt Sie
auf dem Weg nochmal.
Es ist ein wenig hektisch in der Anmeldung. Es herrscht noch
Unklarheit darüber, was auf den Taxischein geschrieben werden muss und ich
sitze da wahrscheinlich sichtlich völlig erledigt im Wartebereich.
Vielleicht ist es Einbildung, aber ich habe das Gefühl, dass die
Blicke der anderen Wartenden auf mir haften.
Die komplette Stadt ist zu gestaut. Normalerweise dauert der Weg mit
dem Auto zwanzig Minuten. Heute sind wir über eine Stunde unterwegs.
Verzweifelt versucht die Taxifahrerin irgendein Gespräch aufzubauen. Mir ist
nur leider so gar nicht nach reden. Irgendwann hat sie aus mir heraus bekommen,
dass ich Medizin studiere und in die Neuro will. Und natürlich kramt sie dann
einen Verwandten raus, der einen Schlaganfall hatte. Nicht jetzt bitte, denke
ich mir nur.
Dienstzimmer.
Um mich herum sitzen zwei Schwestern – eigentlich die beiden nettesten
auf der Station, wie sich später zeigen wird. Bei dem ein oder anderen Pfleger…
- keine Ahnung, wie das geendet wäre.
Ich muss gefühlte 20.000 Zettel unterschreiben und weiß im Prinzip gar
nicht, was ich da gerade unterschreibe. Mich überfordert die ganze Situation
völlig.
„Dann erzählen Sie doch mal ein bisschen, warum Sie hier sind“, werde
ich aufgefordert. Ja… - warum eigentlich? Weil ich mein Leben offensichtlich
gerade nicht auf die Kette bekomme. Was soll ich da erzählen? Und weshalb ist
das so? Das weiß ich doch selbst alles nicht.
Eine gefühlte Ewigkeit später.
Der Oberdoc kommt ins Stationszimmer geeilt (Ich glaube, Oberärzte
eilen immer… Der wehende Kittel steht ihm jedenfalls gut). Der erste Mensch,
den ich hier kenne. Es ist ein bisschen beruhigend.
„Frau Mondkind – Sie hatte ich ja schon viel eher hier erwartet. Ich
hatte gehofft, dass wir das noch vor Ostern schaffen…“
Er will wissen, wie und warum das alles plötzlich so akut geworden
ist. Und ich weiß es doch nicht. Ich erzähle, dass die Wohnsituation gerade
wieder schwierig ist, weil ich durch den Bau bei der Bahn wieder in meinem
Elternhaus wohne, damit ich zusammen mit meiner Schwester in ihrem Auto
überhaupt zur Uni komme. Wobei nicht grundsätzlich mein Elternhaus das Problem
ist, sondern mein Pendeln zwischen den Welten. Dass ich nirgendwo hingehöre.
Nicht mehr zu meinen Eltern, aber an meinen Wohnort irgendwie auch nicht. Ob
das allerdings wirklich der Auslöser ist, kann ich nicht sagen.
Ich finde es etwas unangenehm im Beisein von dem Pflegepersonal etwas zu
erzählen, das die ja noch gar nicht wissen können. Der Oberdoc und ich – wir wissen
schon, wovon wir reden, er hat meine Geschichte auf dem Schirm, aber alle
anderen verstehen gerade nichts.
„Sie wissen, was ich von Ihrer Wohnsituation halte“, kommentiert er. „Das
ist eine Katastrophe. Das können wir ja jetzt wo Sie hier sind, mal in Angriff
nehmen.“
„Was stört Sie gerade am meisten?“, fragt er. Ich erkläre, dass das
Semester diese Woche angefangen hat, dass es mein letztes ist und dass ich es
unbedingt schaffen muss, weil ich ja im Sommer das Examen machen will. „Die Uni
darf nicht darunter leiden“, schließe ich. „Ach ja die Leier kenne ich“,
kommentiert er. Und noch bevor ich mich angegriffen fühlen kann, ergänzt er: „Machen
Sie sich keine Sorgen, wir kriegen das hin.“
Ich frage mich, wie er das machen will. Aber wenn er das sagt, dann
wird er einen Plan haben, denke ich mir.
Ich weiß nicht mehr viel von diesem Tag. Nur, dass mir der
Stationsarzt die Aufnahmeuntersuchung an diesem Tag erspart hat, weil ich so
fertig war. Dass der Psychologe mir irgendetwas von Prüfungsangst erzählt hat
in einem Büro das ausschaut, als hätten die Kobolde gewütet und in dem
unverkennbar der Rauch einer Pfeife hängt.
Und ich kann mich erinnern, dass ich abends neben einem Mitpatienten
saß, der sich sehr viel Mühe gegeben hat mich ein bisschen aufzufangen und mich
in die Gruppe zu integrieren. Ich glaube es ist noch in meinem Gedächtnis, weil
ich das so surreal fand. Seit wann bemüht man sich darum, dass ich meinen Platz
in einer Gruppe finde?
Erste Nacht.
Ich habe erstmal ein Einzelzimmer bekommen, wofür ich sehr dankbar
bin. Eine Freundin hatte mir noch ein paar Klamotten vorbei gebracht – nur ein
Schlafanzug ist leider nicht dabei, deshalb gehe ich die erste Nacht in meinem
Leben in Jogginghose und T – shirt ins Bett. Nur schlafen werde ich in dieser
Nacht nicht eine Stunde.
Als ich die Vorhänge spät abends zu ziehe sehe ich, dass Licht im
Stationszimmer brennt und sich dahinter ein Schatten bewegt.
Und obwohl ich mir zu dem Zeitpunkt sicher bin, niemals freiwillig im
Stationszimmer aufzuschlagen, beruhigt es mich.
Begriffen was hier los ist, habe ich allerdings noch nicht.
Ein Semester später.
Ich bin heute nicht in die Geriatrie – Vorlesung gegangen.
Gruppenarbeit in einem emotional so aufgewühlten Zustand ist keine gute Idee.
Stattdessen sitze ich im Labor.
Viertel vor 12: Ich sehe mich auf dem Weg in die Ambulanz
Zehn Minuten vor 12: Ich sehe mich im Wartezimmer.
Und fünf Minuten vor 12 höre ich auf zu arbeiten. Lege meine Arme auf
den Tisch und den Kopf darauf und lasse mich einfach nur treiben von den
Gedanken und Erinnerungen, von diesem Gefühl zwischen Ohnmacht und
Erleichterung.
Alles Liebe
Mondkind
Kommentare
Kommentar veröffentlichen