Gedanken zum ersten Uni - Tag
8:15 Uhr.
Der Hörsaal füllt sich.
Vorne auf dem Pult liegen in blauen Ordnern alle wichtigen Unterlagen
für das Semester.
Damals waren die auch in blauen Ordnern abgeheftet und lagen auch auf
dem Pult. Und ich saß in einer Reihe mit drei Freunden und wir haben uns die
nicht enden wollende Einführung angehört.
Heute sitze ich alleine, ein wenig am Rand. Jemand kommt zu spät und
setzt sich dann auf den Platz neben mir. Später stellt sich heraus, dass er in
meiner Gruppe ist. Ich hatte es schon geahnt, aber ich wollte ihn nicht
ansprechen, denn es wäre ja peinlich wäre er nicht der Mensch gewesen, für den ich
ihn gehalten habe.
Es zieht sich. Es gibt Formulierungen, die sind vor einem halben Jahr schon
mal genauso gefallen. Immer wieder habe ich mit mir zu kämpfen. Immer mal
wieder steigen mir die Tränen in die Augen.
Normalerweise hätten wir in diesem Block auch noch ein Praktikum in
der Kinder- und Jugendpsychiatrie gehabt, das aber aufgrund von Personalmangel
dort ausfällt.
„Das ist bei den Studenten meist ohnehin nicht so beliebt da hoch zu
fahren. Obwohl es ja jetzt eine Bahnverbindung gibt, die direkt dorthin fährt“,
kommentiert der Blockkoordinator.
Wie oft saß ich da drin? Ich kenne sogar die Fahrzeiten auswendig…
Ein Praktikum dort wäre wirklich sehr, sehr schwierig für mich
geworden. Ich war in der Ecke seit der Entlassung nicht mehr. Das ist einfach
alles zu emotional besetzt.
In der Pause kommt einer angelaufen, der früher mal in unserer
Großgruppe war und den wir auf dem Weg verloren hatten. „Was machst Du denn
hier?“, fragt er mich und ohne meine Antwort abzuwarten: „Warum musst Du denn
das Semester nochmal machen – Du warst doch immer so fleißig. Ich meine, ich… -
ich habe geschwänzt, okay, aber Du…?“
„Ich war krank“, sage ich nur.
„So lange?“, fragt er. „Ja“, gebe ich zurück. „Nach spätestens zwei
Wochen ist das ja gelaufen – da kriegen die das organisatorisch nicht mehr hin.“
Mit einem Blick auf den Stundenplan stelle ich fest, dass es nach
einer kurzen Mittagspause mit zwei Stunden Geriatrie – Vorlesung weiter geht
und dann haben wir auch noch ein Geriatrie – Seminar. Das ist ganz lustig – da sollen
wir Anzüge anziehen, einen Ohrenschutz und eine Brille aufsetzen, die
einen alles nur verschwommen sehen lässt und dann nur durch einen Strohhalm
atmend die Treppen der Klinik auf und ab laufen.
Danach sieht man aber die 80 - jährigen im Supermarkt an der Kasse wirklich mit anderen Augen und wird doch sehr viel nachsichtiger.
Ich habe das Seminar aber schon gemacht und so
langsam wird mir das alles zu viel.
Ich beschließe nicht zu Geriatrie zu gehen – die Vorlesung war damals
nämlich unnütz – und mir stattdessen die Zeit im Labor beim Mikroskopieren zu vertreiben.
Anschließend würde ich schon heute Nachmittag das Gynäkologie – Seminar besuchen.
Das einzige Seminar der Woche, das mir noch fehlt.
Es fühlt sich komisch an den Stundenplan so frei schaffend
umzugestalten. Aber es ist besser so.
Im Lauf des
Tages wird mir klar, dass ich heute noch im gleichen Zwiespalt stecke, wie vor
einem halben Jahr. Jetzt muss ich die Konsequenzen der damaligen Entscheidung
ausbaden. Und doch wusste ich damals, dass ein langer Weg in den nächsten Tagen
ein Ende finden wird, dass es egal ist, ob ich aus den Vorlesungen etwas mitnehme
oder nicht und dass es egal ist, ob ich überhaupt anwesend bin. Und so viel
Angst wie ich auch hatte den Schritt zu gehen und gleichzeitig, ihn im letzten
Moment doch nicht zu gehen, so war es doch auch ein bisschen beruhigend.
Der
wesentliche Unterschied zu heute ist einfach, dass ich damals in der gleichen
Situation wusste, dass es vorbei ist. Jeden Augenblick hätte das Telefon
klingeln können und keiner hatte gedacht, dass es überhaupt so lange dauert.
Montag oder Dienstag würde es wahrscheinlich werden war damals die Ansage
gewesen.
Und auch
wenn sich damals jede Faser meines Verstandes gewehrt hat diesen Weg wirklich
einzuschlagen, war meinem Gefühl eigentlich von Anfang an klar, dass ich das
genauso möchte.
Und… neben
ganz viel Verzweiflung war da auch etwas wie Hoffnung. Denn – so war von Anfang
an mein Plan – wer weiß, wie ich sieben Wochen da später wieder heraus komme
und in die zweite Hälfte des Semesters starte? Irgendetwas wird es ja schon
bringen, ansonsten gäbe es das Konzept Klinik ja nicht.
Und jetzt…
ja…. Ich habe mit meinem Papa erst am Wochenende über die Planung geredet. Und
jeder weitere Klinikaufenthalt würde die wieder über den Haufen schmeißen. „Es
ist doch überschaubar“, hat er immer wieder gesagt.
Ja… es
klingt schon nicht mehr viel. Acht Wochen Studienblock, Hundert – Tage –
Lernplan, Examen und dann ein Jahr PJ und dann bin ich fertig.
Frühling
2019…
Und dann?...
lebe ich 400 Kilometer von hier entfernt und arbeite in dem Krankenhaus, in dem
ich mir das vorgestellt hatte, das eines der einzigen ist, an dem ich mit
meinen empfindlichen Antennen in den vergangenen fünf Jahren überhaupt zurecht
gekommen bin.
Nur, es hört
ja nicht auf. Auch dort hatte ich in der Famulatur schon meine Sorgen, auch
dort gab es eine Woche mittendrin, die überhaupt nicht lief. Das Konzept der
„Selbstheilung“ nach dem Abschluss wird nicht funktionieren.
Mir tut es
im Moment schon einfach gut zu wissen, dass die Ambulanz um die Ecke ist und
die meisten mich zumindest vom Sehen schon irgendwie kennen. Das heißt ja
nicht, dass ich das am Ende wirklich brauche, aber einfach das Wissen darum,
ist manchmal schon genug.
Ich will
nicht wissen, wie die psychiatrische Versorgung mitten auf dem Land ist.
Die haben
ein Austauschprogramm mit einer Psychiatrie, sodass die Neurologen dort ihr
Psychiatrie – Jahr machen können und die Psychiater umgekehrt bei uns ihr Neuro
– Jahr, aber ich glaube, die ist so weit entfernt, dass man da für ein Jahr
umziehen muss.
Die Wege auf
dem Land sind weiter und Krisen kommen ja selten geplant. Das wird alles
anders, alles unsicherer.
Was mir auch
langsam klar wird ist, dass ich keinen Plan von einer gangbaren Zukunft habe.
Das fängt ja schon im PJ an. Da weiß ich immerhin, dass ich nochmal zurück
komme, aber vier Monate und davon auch noch die gesamte Weihnachtszeit irgendwo
alleine? Ist das irgendwo realistisch?
Ich mache
jetzt den Haushalt und lerne dann im Bett noch ein wenig die Vorlesung…
angestrichen und ausgearbeitet vor einem halben Jahr…
Alles Liebe
Mondkind
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